Direkt zum Inhalt

Klimakrise: Wo beginnt das unkartierte Gelände?

Die Menschheit betritt klimatisch unbekanntes Terrain, warnt eine Veröffentlichung von Klimawissenschaftlern. Kollegen kritisieren die Studie.
Sturm über dem Antarktischen Ozean
Schwindendes Meereis, zunehmende Unwetter, höhere globale Temperaturen: Das Jahr 2023 war voller Extreme. Was bedeutet das für die Zukunft?

Bei der 28. Weltklimakonferenz, die vom 30. November bis 12. Dezember in den Vereinigten Arabischen Emiraten stattfinden soll, stehen die versammelten Vertreter von 200. Staaten vor einer gigantischen Aufgabe. Selbst wenn alle bisher beschlossenen Pläne, den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren, verwirklicht werden, droht eine Erderwärmung um bis zu 2,6 Grad gegenüber dem Klima zu Beginn der Industrialisierung. Das ist weit jenseits der Schwellenwerte, unter denen die globale Erwärmung laut Wissenschaftlern noch handhabbar wäre. Zusätzliche Einschnitte beim Ausstoß von Treibhausgasen sind daher nötig.

Doch die Angst geht um, dass die Menschheitsaufgabe Klimaschutz in den entscheidenden Jahren durch die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten an den Rand der politischen Agenda gedrückt wird. Die Staaten könnten sich inmitten großer weltpolitischer Unsicherheit noch stärker darauf konzentrieren, ihre Versorgung mit fossiler Energie abzusichern, statt in CO2-arme erneuerbare Energiequellen zu investieren. Sollte der Konflikt zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas weiter eskalieren, könnte die »COP28« genannte Weltklimakonferenz am allgemeinen Säbelrasseln ganz scheitern.

Warnungen häufen sich

Auch vor diesem Hintergrund häufen sich nun die Warnungen und Appelle aus der Wissenschaft. Vor allem die Wetterextreme in jüngerer Zeit nehmen Klimaforscher zum Anlass, für stärkeren Klimaschutz zu plädieren. Im Journal »BioScience« verbindet ein Team teils prominenter Vertreter der Disziplin die Wetterextreme der vergangenen Monate, Fehlentwicklungen in der Politik und die langfristigen Risiken der Erderwärmung zu einem klimawissenschaftlichen Weckruf. Die Publikation gipfelt in der Warnung, dass gegen Ende des Jahrhunderts die Heimat von drei bis sechs Milliarden Menschen durch Hitzewellen und Nahrungsmangel nahezu unbewohnbar sein könnte.

Die Forscherinnen und Forscher wählen, wohl um von den Spitzen der Politik besser verstanden zu werden, militärische Metaphern: »Das Leben auf der Erde befindet sich im Belagerungszustand«, schreibt das Autorenteam, zu dem der Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) Johan Rockström zählt. Vor aller Augen würden die Vorhersagen der Klimaforschung nun wahr. Die Erderwärmung führe zu »zutiefst verstörenden Szenen von menschlichem Leid«. Die Menschheit sei dabei, »unbekanntes Territorium zu betreten« und ein extremes Klima zu schaffen, »das niemand zuvor in der Geschichte der Menschheit erlebt hat«.

Präsentiert wird die Publikation als aktueller Zustandsbericht des Weltklimas. Zu den Autoren gehört auch Timothy Lenton von der Universität Exeter in Großbritannien, der 2008 als einer der Ersten vor »Kippelementen« im Klimasystem gewarnt hat. Das sind besonders empfindliche Regionen wie die Antarktis oder der Amazonas-Regenwald und wichtige Prozesse wie die Meeresströmungen des Nordatlantiks. Sie könnten schon durch eine relativ geringe Erwärmung so stark gestört werden, dass global eskalierende und nahezu unumkehrbare Klimaveränderungen die Folge sind. Zwei der Autoren haben 2020 einen Appell von Wissenschaftlern dafür initiiert, eine globale Klimakrise mit höchster politischer Priorität auszurufen. Mittlerweile hat er 15 000 Unterzeichner.

Das Jahr 2023 bietet einen Extremwert nach dem anderen

Die Wetterextreme des Jahres 2023 werden in der aktuellen Publikation als konkrete Folgen der Erderwärmung gedeutet. An Beispielen dafür mangelt es nicht: Die globale Temperatur, die bis zum Jahr 2000 noch nie mehr als 1,5 Grad über dem Durchschnitt gelegen hatte und diese Marke seither nur gelegentlich überschritten hat, lag zwischen dem 1. Januar und 12. September 2023 an ganzen 38 Tagen über diesem Wert. Anfang Juli wurde die höchste jemals gemessene globale Durchschnittstemperatur erreicht. Zur gleichen Zeit war das Schelfeis rund um die Antarktis so klein wie noch nie, seit Menschen es vermessen. Und die Oberfläche des Nordatlantiks war wärmer als jemals zuvor seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen.

Auch die Waldfläche, die 2023 in Kanada abgebrannt ist, führen die Fachleute an. Sie ist mit mehr als 16 Millionen Hektar dreimal so groß wie die bisher typischen Werte. Allein dabei seien mehr als eine Milliarde Tonnen Kohlenstoffdioxid in die Atmosphäre entwichen, eineinhalbmal so viel, wie Kanada normalerweise im Jahr ausstößt. Zumindest teilweise sei dieser Rekord auf die Erderwärmung zurückzuführen und es bestehe die große Gefahr, dass die allgemeine Erwärmung die Wälder immer trockener mache und dadurch das Risiko verheerender Brände steigt. Dem Beispiel Kanadas werden positive Entwicklungen im Amazonasgebiet gegenübergestellt, wo die Rate der Entwaldung nach der Amtsübernahme einer progressiven Regierung deutlich zurückgeht. In der Gesamtbilanz sei die Welt aber »nicht auf dem Weg, die Entwaldung zu beenden und rückgängig zu machen, wie das 100 Staaten auf der 26. Weltklimakonferenz in Glasgow beschlossen haben«.

Warnung vor unbekanntem Terrain

»Wir schieben das Erdsystem in Richtung einer gefährlichen Instabilität«, schreiben die Forschenden und präsentieren als Beleg eine ganze Batterie von Graphen, in denen die Linien für das Jahr 2023 rot eingezeichnet sind und von den grauen Durchschnittswerten seit 1991 deutlich abweichen: entweder nach oben, wie bei den Temperaturen, oder nach unten, etwa beim Schelfeis. Auf den Graphen wird jenes »klimatische Neuland«, von dem Rockström und Kollegen schreiben, deutlich sichtbar, weil die rote Linie des Jahres 2023 in den bisher weißen Raum mit Rekordwerten vorstößt.

Die Extremwerte des Jahres 2023 sehen die Verfasser des Warnrufs in einer Reihe mit 35 »Vitalzeichen« der Erde, von denen viele widerspiegeln, dass der Ausstoß von Treibhausgasen weitersteigt, statt wie nötig zu sinken. So habe die weltweite Verbrennung von Kohle 2022 einen neuen Rekordwert erreicht, die Subventionen für fossile Energien seien nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine in die Höhe geschossen und der weltweite Fleischverbrauch sei am Steigen. Die Hoffnungen auf eine »grüne Erneuerung«, die es während der Corona-Pandemie gegeben hat, seien nicht wahr geworden.

Bei den drei wichtigsten Treibhausgasen Kohlenstoffdioxid, Methan und Lachgas steigen die Konzentrationen in der Atmosphäre stark. Der Gehalt an CO2 liegt mit inzwischen 420 ppm deutlich über dem Wert von 350 ppm, der als Ziel für ein stabiles Weltklima gilt. Bei den Risiken heben die Autorinnen und Autoren vor allem drohende Ernteausfälle und fehlende Nahrungsmittel hervor: »Der Klimawandel hemmt bereits die Zunahme landwirtschaftlicher Produktivität, so dass ohne sofortiges Gegensteuern eine Eskalation des Hungers droht«, ausgelöst durch gleichzeitige Ernteausfälle in vielen Weltregionen.

Anlässlich dieser Entwicklung fordern sie weit reichende Veränderungen in Politik und Wirtschaft. Die gehen teils allerdings weit über den wissenschaftlich begründbaren Klimaschutz hinaus: Das Weltwirtschaftssystem, heißt es etwa, müsse die Wachstumslogik in Frage stellen und stärker darauf ausgerichtet werden, »die Grundbedürfnisse aller abzudecken, statt den exzessiven Konsum der Wohlhabenden« zu ermöglichen. Für eine gerechte Entwicklung halten es die Forscher für nötig, dass alle Menschen ungefähr dieselben Ressourcen und denselben Energieverbrauch in Anspruch nehmen können, ohne das Weltklima zu gefährden. Ihre Forderungen unterlegen sie – ungewöhnlich für eine wissenschaftliche Veröffentlichung – in eher journalistischer Manier mit Bildern von Menschen, die von aktuellen Überschwemmungen und Stürmen betroffen waren.

Methodenkritik von Experten

Unsicherheiten dabei, die aktuellen Extremwerte mit langfristigen Trends der Erderwärmung in Verbindung zu bringen, erwähnen sie eher am Rand: So heißt es in einem kurzen Absatz, die Erwärmung des Nordatlantiks könnte auch mit ungewöhnlichen Wettermustern in der Sahelzone zu tun haben, mit zusätzlichem Wasserdampf in der Atmosphäre durch den Ausbruch des unterseeischen Tonga-Vulkans im Januar 2022 oder dem umweltpolitischen Erfolg, giftige Schwefelverbindungen aus Schiffstreibstoffen zu verbannen, die bisher kühlend auf das Weltklima gewirkt hatten. Eine den Nachrichten entnommene lange Liste von Extremwetterereignissen des Jahres 2023 wird mit dem kleingedruckten Zusatz relativiert, dass möglicherweise nur ein Teil von ihnen auf den Klimawandel zurückzuführen ist.

Dass die Autoren in ihrer Zusammenschau eine direkte Linie von den Extremwerten des Jahres 2023 zu Vorhersagen für langfristige Trends ziehen, trifft bei Fachleuten, die nicht an der Publikation beteiligt waren, auf Kritik. »Die Lage ist zweifelsohne sehr ernst und die genannten Risiken sind sehr real, aber vor langfristigen Diagnosen und Folgerungen speziell aus den Extremen der letzten Monate sollte man die volle El-Niño-La-Niña-Schwingung abwarten, die sich gerade erst aufbaut«, sagt der Klimageologe Gerald Haug, Direktor am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz.

Haug bezieht sich damit auf die natürlichen Temperaturschwankungen, die sich durch eine rhythmische Erwärmung und Abkühlung des östlichen Pazifiks ergeben. Derzeit nimmt die Erwärmung als Teil des El-Niño-Phänomens wieder zu. Unklar ist aber, wie genau sich die Erderwärmung auf diese wichtige Komponente des Klimasystems auswirken wird. Frühere Befürchtungen, es könnte zu einer Art dauerhaftem El Niño kommen, gelten inzwischen nicht mehr als begründet. Als möglich gilt aber, dass das Temperaturpendel im Pazifik stärker schwingt. Haug hält es für voreilig, aus den aktuellen Extremwerten sehr weit reichende Schlüsse zu ziehen.

Mehr Manifest als wissenschaftliche Analyse

Sonia Seneviratne ist Klimaforscherin an der ETH Zürich und Vizevorsitzende der Arbeitsgruppe des Weltklimarats, die sich mit den physikalischen Grundlagen des Klimawandels befasst. Sie bescheinigt der Publikation, dass sie »klar die außerordentlichen Bedingungen hervorhebt, die 2023 gemessen worden sind«. Doch für die Klärung der Frage, inwiefern die »klimatischen Ausreißer des Jahres 2023 in die langzeitigen, vom Menschen verursachten Klimatrends passen, würde man noch zusätzliche statistische Analysen benötigen«, betont sie.

Noch weiter in der Kritik geht ein prominenter deutscher Klimaforscher, der namentlich nicht genannt werden will. Fragezeichen bei der Attribution, also der ursächlichen Verbindung aktueller Ereignisse mit der globalen Erwärmung, würden in der Publikation in Tabellen versteckt, aber nicht wirklich ausgeführt. »Es ist keine fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema, sondern ein Appell beziehungsweise ein Manifest« mit politischem Charakter, sagt er.

Im Vorfeld der 28. Weltklimakonferenz in Dubai ist die Publikation nicht der einzige Versuch aus der Wissenschaft, inmitten von Kriegs- und Krisennachrichten die Öffentlichkeit zu alarmieren. So fordern in einem ungewöhnlichen gemeinsamen Aufruf 200 wissenschaftliche Fachjournale aus der Medizin die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf, den Klimawandel formal als Weltgesundheitskrise anzuerkennen. Fachleute wollen bis zum Start der COP28 am 30. November in engem Takt weitere Zustandsberichte veröffentlichen. Dazu zählt eine Analyse, wie nahe die Menschheit schon daran ist, Kippelemente des Klimasystems zu aktivieren und etwa das Abschmelzen der Antarktis und die Austrocknung des Amazonas unumkehrbar in Gang zu setzen.

Nur ein kleiner Korridor bleibt

Zudem rechnen nun Forscher in einer neuen Publikation vor, wie wenige zusätzliche CO2-Emissionen ausreichen, um den Schwellenwert von 1,5 Grad Erwärmung zu durchbrechen. Der im Fachjournal »Nature Climate Change« veröffentlichten Studie zufolge besteht bereits bei zusätzlichen 250 Milliarden Tonnen CO2-Ausstoß nur noch eine 50-prozentige Chance, die Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Unter zwei Grad bleibt die globale Erwärmung mit größerer Wahrscheinlichkeit nur dann, wenn insgesamt weniger als weitere 940 Milliarden Tonnen in die Atmosphäre gelangen. Hinter diesen Schwellenwerten orten Forscher Klimaveränderungen, die Zivilisation und Natur tief greifend und dauerhaft negativ verändern.

Die zusätzlichen CO2-Emissionen, die laut der neuen Studie noch maximal verträglich sind, liegen unter den Zahlen, die der Weltklimarat IPCC zuletzt veröffentlicht hat. Allerdings weisen Experten darauf hin, dass die IPCC-Zahlen schon einige Jahre alt sind und das verbleibende CO2-Budget daher automatisch gesunken sein muss. In jedem Fall sprechen die neuen Zahlen eine eindeutige Sprache: Blieben die Emissionen auf dem Niveau von heute, wäre das 1,5-Grad-Ziel bereits in sechs Jahren und das 2-Grad-Ziel in 23 Jahren verfehlt.

Immerhin enthält der Warnruf von Rockström, Lenton und anderen am Rand auch positive Nachrichten: Große Kapitalgeber ziehen immer höhere Geldbeträge bewusst aus der Fossilindustrie ab, gleichzeitig steigen sowohl die Investitionen in erneuerbare Energien als auch der Preis pro Tonne CO2, der in den diversen Emissionshandelssystemen weltweit verlangt wird.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.