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Historische Physik: "Ma non me n'accorgo"

Bedeutende Erkenntnisse finden sich manchmal in den kuriosesten Ecken. So zeigt sich: Der berühmteste Dichter Italiens, Dante Alighieri, hat mit der "Göttlichen Komödie" nicht nur ein Meisterwerk zu Papier gebracht, sondern darin auch noch einen Grundstein der klassischen Mechanik gelegt. Den Ruhm dafür erntete allerdings Galilei dreihundert Jahre später, als er es für die Wissenschaft in Worte fasste.
Auf halbem Weg des Menschenlebens fand / ich mich in einen finstern Wald verschlagen, / Weil ich vom rechten Weg mich abgewandt. / Wie schwer ist’s doch, von diesem Wald zu sagen, / Wie wild, rauh, dicht er war, voll Angst und Not; / Schon der Gedank’ erneuert noch mein Zagen. / Nur wenig bitterer ist selbst der Tod; / Doch um vom Heil, das ich drin fand, zu künden, / Sag’ ich, was sonst sich dort den Blicken bot.

So klingt der Auftakt eines Höllentrips – im wahrsten Sinne des Wortes, geschildert von Dante Alighieri (1265-1321). Seine "Göttliche Komödie" beschreibt, wie ein harmloser Spaziergang im Wald in der Osterwoche des Jahres 1300 zur Schreckensvision wird: Geführt vom längst verstorbenen römischen Kollegen und in mittelalterlichen Zeiten als Magier verehrten Vergil, steigt Dante immer tiefer in die neun Kreise der Hölle hinab, die sich trichtergleich ins Erdinnere zieht. Im Fegefeuer geläutert, darf er Stufe um Stufe wieder in angenehmere Gefilde emporsteigen. Am Ende gibt es gar ein paradiesisches Happyend mit seiner ewig angebeteten, aber für ein gemeinsames Lebensglück zu früh verstorbenen großen Liebe Beatrice. Wer hört schon gerne düster auf.

Eine wahrlich lohnende Lektüre für jedermann. Und für Physiker ganz besonders – das wusste schon Galileo Galilei. Der Wissenschaftler nutzte die detaillierten höllischen Ortsbeschreibungen seines Landsmannes, um exakt den Durchmesser des achten Höllenkreises zu berechnen: 35 Italienische Meilen oder umgerechnet etwa sechzig Kilometer, so ermittelte Galilei, maß der Trichter quer in dieser Tiefe. Es ist doch immer gut zu wissen, was einen womöglich erwartet.

Kein Hinweis aber findet sich bei ihm, dass er sich dem vorangegangenen Abstieg des Dichters von der siebten in die achte Ebene genauer gewidmet hätte. Und dabei offenbart sich gerade dort eine ausgeprägte physikalische Ader Dantes, die dem Dichter selbst vielleicht unbewusst blieb. Wie das? Nun: Während Dante und Virgil ihre bisherige Reise zu Fuß oder mit dem Boot absolvieren konnten, sind sie nun angesichts der steilen Kante auf Geryon angewiesen – einen fliegenden Drachen. Ein einmaliges Erlebnis, das Dante gewohnt treffend in Worte fasst:

Wie ich, nichts sehend, als das Tier allein, / Und rings umher von öder Luft umfangen, / Wo nie entglomm des Lichtes heitrer Schein. /  Daß wir uns langsam, langsam niederschwangen, / Im Bogenflug, bemerkt’ ich nur beim Weh’n /  Der Luft von unten her an Stirn und Wangen.

Haben Sie es erkannt? Vielleicht nicht sofort – vielleicht macht es das Original deutlicher: "Ma non me n'accorgo", schreibt Dante – er merkt nicht, dass er sich bewegt, nur der Wind von unten verrät ihm das langsame Sinken seines Flugsauriers. Für Leonardo Ricci von der Universität Trient war damit sofort klar: Dies ist das erste Zeugnis des Relativitätsprinzips beziehungsweise der Galilei'schen Invarianz, mit deren wissenschaftlicher Beschreibung der Physiker dreihundert Jahre später einen Eckpfeiler der klassischen Mechanik zementierte. Oder in anderen Worten: Fehlt der Bezug und ist die Bewegung sehr, sehr langsam, kann es sein, dass wir uns in Ruhe wähnen.

Hatte Galilei das wirklich nicht bemerkt? Oder wollte er nicht? Wie auch immer, Dante taucht nicht auf, als er 1632 sein Konzept beschreibt und sich auf Erfahrungen während einer Schiffsreise beruht. Durchaus nachvollziehbar, schließlich fragt sich auch hier mancher Passagier mangels Anhaltspunkten: "Bewege ich mich überhaupt?" – ein Effekt, den jeder kennt.

Ricci jedenfalls ist überzeugt, dass Dante diesen Satz nicht zufällig eingefügt hat. Überhaupt sei die ganze Szene allein darauf ausgerichtet, diesen Flug zu beschreiben, und die magere Verwendung bildlicher Ausdrücke solle womöglich die faktenorientierte, physikalische Interpretation des Textes erleichtern. Dante allerdings verfolgt die Idee nicht weiter, dass ein fehlendes Referenzsystem verhindert, langsame Bewegungen von einem Ruhezustand zu unterscheiden. Seine Zeitgenossen hätten ihn damals wahrscheinlich auch nicht verstanden, war ihre Wahrnehmung der Natur und ihrer Kräfte doch noch von antiken Vorstellungen geprägt.

Erst mit Galilei war die Zeit reif für ein grundlegendes Umkrempeln der Wahrnehmung von Raum und Zeit und damit auch für seine grundlegenden Bewegungsgesetze, die sich über Newtons Werke bis in Einsteins Relativitätstheorien wiederfinden. Das grundsätzlich andere und heute bestimmende Weltbild musste allerdings noch ein wenig warten – ganz abgesehen von der Rehabilitation des genialen Physikers seitens der römisch-katholischen Kirche.

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