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Metrologie: Maßeinheiten sind bald in Natur gemeißelt

Die Neudefinition des internationalen Systems der Einheiten, des SI, ist beschlossen. Die Zahlenwerte aller sieben Basiseinheiten werden über Naturkonstanten festgelegt.
Neues Kilogramm aus Silizium

Aktualisierung: 50 Staaten der Meterkonvention haben die Reform der SI-Einheiten verabschiedet. Das Kilogramm, Ampere (Stromstärke), Mol (chemische Stoffmenge) und Kelvin (Temperatur) werden nun neu über Naturkonstanten definiert. Das alte Urkilogramm darf damit ins Museum.

Ende des 18. Jahrhunderts erhielt die französische Akademie der Wissenschaften von der damaligen Nationalversammlung Frankreichs den Auftrag, ein einheitliches System von Maßen und Gewichten zu entwerfen. Die Intention der Politiker war, das Chaos aus etlichen Hundert unterschiedlicher Maßeinheiten zu beenden. Die Gelehrten machten sich also an die Arbeit. Sie folgten dabei den Prinzipien, die Basiseinheiten aus naturgegebenen Größen abzuleiten und alle anderen Einheiten darauf zurückzuführen. Als grundlegende Einheiten wählten sie das Meter für die Länge, das Gramm für das Masse und die Sekunde für die Zeit. Der Meter sollte dem zehnmillionsten Teil der damals gemessenen Entfernung vom Nordpol zum Äquator entsprechen. Eine Sekunde definierte man als 86 400sten Bruchteil des mittleren Sonnentages. Ein Gramm als Masse eines Kubikzentimeters Wasser bei vier Grad Celsius und einem bestimmten Druck. Diese Überlegungen, die während der französischen Revolution stattfanden, ebneten den Weg zu einem internationalen Einheitensystem.

Im Jahr 1875 wurde die erste Version davon durch die Internationale Meterkonvention offiziell festgeschrieben und von 17 Staaten unterzeichnet. Fortan waren das so genannte Urmeter und das so genannte Urkilogramm allgemein gültige Maßeinheiten. Verantwortlich für die Einhaltung war das in diesem Zuge neu gegründete Bureau International des Poids et Mesures, kurz BIPM, zu Deutsch: Internationales Büro für Maß und Gewicht. Auch heute noch kümmert sich diese internationale Organisation darum, ein weltweit einheitliches und eindeutiges System von Maßen auf Basis des Internationalen Einheitensystems zur Verfügung zu stellen.

Das Urmeter | Das Urmeter ist heute ein Museumsstück. Es ruht sicher verwahrt in einem Safe im Internationalen Büro für Maße und Gewichte (BIPM) in Sèvres bei Paris. Von 1889 bis 1960 war es die offizielle Verkörperung der SI-Basiseinheit Meter. Etwas formaler beschrieben war der Internationale Meter-Prototyp, ein Strichmaßstab mit X-förmigem Querschnittsprofil aus Platin-Iridium.

Über die Jahrzehnte hat das BIPM das System der Maßeinheiten weiterentwickelt und ausgebaut. Im Jahr 1960 benannte die Organisation das erweiterte Einheitensystem als so genanntes Système international d’unités, kurz SI, das aus sieben Basiseinheiten besteht und auch als metrisches System bezeichnet wird. Knapp 100 Nationen, die für insgesamt 98 Prozent der Weltwirtschaft verantwortlich sind, haben den Vertrag zur Einhaltung dieser Maßeinheiten unterzeichnet.

Aber mit einigen der bestehenden Definitionen sind das BIPM und auch nationale Metrologiebehörden nicht mehr zufrieden. Knapp 150 Jahre nach der Gründung des BIPM planen die Verantwortlichen daher eine Generalüberholung des SI. Wenn es so kommt wie erwartet, werden sie vier der sieben Basiseinheiten neu definieren – und zwar das Kilogramm, das Mol, das Ampere und das Kelvin. (Diese Einheiten beschreiben Masse, Stoffmenge, Stromstärke beziehungsweise Temperatur.) Die jeweilige Definition soll fortan über Naturkonstanten erfolgen, was bei den restlichen drei Einheiten Sekunde, Meter und Candela für die Lichtstärke bereits der Fall ist: Eine Sekunde ist über die Schwingungsperiode der Energiezustände von Zäsiumatomen am Temperaturnullpunkt definiert; ein Meter über die Strecke, die Licht im Vakuum in einer gewissen Zeit zurücklegt; ein Candela über die Stärke der Strahlung einer Lichtquelle einer bestimmten Frequenz in einen bestimmten Raumwinkel. An den Definitionen dieser drei Einheiten wird sich übrigens nichts Grundlegendes ändern.

Indem die Wächter über die Maßeinheiten die verbleibenden vier Basiseinheiten ebenfalls an Naturkonstanten koppeln, möchten sie jedwede potenzielle Ungenauigkeit für immer beseitigen. Denn auf Grund der inhärenten Stabilität natürlicher Konstanten wird die jeweilige Einheit vollkommen präzise festgelegt. Zudem ist ein solches System gänzlich unabhängig von irdischen Konventionen. Im Prinzip könnten es also auch potenzielle extraterrestrische Intelligenzen nachvollziehen.

Das Rätsel um das Urkilogramm

Der Vorteil und die Notwendigkeit einer neuen Definition wurde vor allem bei einer Einheit deutlich – dem Kilogramm. Bislang ist es definiert über das Urkilogramm, einen Zylinder aus Iridium-Platinum angefertigt im Jahr 1889. Über Umwege sind alle Waagen auf dieser Welt auf dieses eine Unikat kalibriert. Daher hütet man das Stück wie einen extrem wertvollen Schatz. Es ruht in einem Tresor des BIPM im Pariser Vorort Sèvres unter drei Glasglocken, die es vor Staub und anderen Widrigkeiten schützen.

Das Urkilogramm | Der internationale Kilogramm-Prototyp (das Urkilogramm), aufbewahrt unter drei Glasglocken im Internationalen Büro für Maß und Gewicht (BIPM) in Sèvres bei Paris.

Nur drei Personen auf der Welt besitzen einen Tresorschlüssel, und es werden alle drei benötigt, um an das gut behütete Urkilogramm zu gelangen. Nur ganz selten – ungefähr alle 30 Jahre – holt man den Metallzylinder heraus, um seine Masse zu überprüfen. Allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz stellte man jedoch bei diesen raren Kontrollen fest, dass das Urkilogramm auf mysteriöse Art und Weise an Masse verliert. Alle sechs existierenden Duplikate wiegen weiterhin relativ exakt ein Kilogramm, nur das Original wird leichter – mittlerweile um rund 50 Mikrogramm. Es könnte natürlich theoretisch auch sein, dass alle Kopien gleichzeitig schwerer werden. Dieses Szenario stufen Experten aber als sehr unwahrscheinlich ein. Den Grund für den Masseverlust kennt niemand – das sensible Unikat darf eben nicht genauer inspiziert werden.

Das neue Kilogramm

Wie dem auch sei, eins machte das Mysterium offensichtlich: Ein menschengemachter Metallklotz eignet sich offenbar nicht als eindeutige Referenz für die Masseeinheit. Vor allem nicht in Zeiten der Nanotechnik, in denen Forscher mit einzelnen Molekülen und Atomen hantieren. Schon ein Mikrogramm bedeutet in diesem Zusammenhang riesige Abweichungen. Zudem hängen vom Kilogramm weitere Einheiten ab, etwa das Newton, die Einheit für die Kraft und davon wiederum das Joule, die Einheit für die Energie. Dementsprechend könnten Wissenschaftler den Ergebnissen ihrer Experimente nicht mehr trauen, würden sie sich auf die Masse des Urkilogramms beziehen – verständlicherweise ist das ein Zustand, der nicht akzeptabel ist. Im Jahr 2011 beschloss deshalb die Generalkonferenz für Maß und Gewicht ein neues und beständiges Massennormal einzuführen.

Gesucht wurde eine universelle und für alle Ewigkeit unveränderliche Definition eines Kilogramms. Fündig wurden die Metrologen bei der so genannten Planck-Konstanten – einer Größe aus der Quantenphysik. Der Physiker Max Planck hatte sie um das Jahr 1900 eingeführt, um das stets gleich bleibende Verhältnis von Energie und Frequenz eines Lichtteilchens zu beschreiben. Da die Einheit dieser universellen Konstanten mit der Masseeinheit verknüpft ist, lässt sich über sie das Kilogramm definieren.

Das reine Wissen über diesen bestehenden Zusammenhang war aber längst nicht ausreichend für eine Neudefinition. Stattdessen mussten Experimente den genauen Faktor zwischen einem Kilogramm – dessen absolute Größe ja bereits definiert war – und der Konstanten bestimmen. Oder anders ausgedrückt: Ausgehend von der Masse – der Einfachheit halber stelle man sich genau ein Kilogramm vor – mussten die Experten den Wert der Planck-Konstanten bestimmen und diesen damit für alle Zeit festsetzen. Erst wenn drei auf Basis eines Urkilogramms unabhängig ermittelte Werte der Planck-Konstanten innerhalb eines engen Toleranzbereichs übereinstimmen, so die Forderungen der Verantwortlichen, wolle man eine Neudefinition in Betracht ziehen.

Wattwaage und Siliziumkugel

Eine Forschergruppe aus den USA und eine aus Kanada haben in jahrelangen Experimenten mit einer so genannten Wattwaage gewissermaßen ein Kilogramm gegen elektrische Leistung aufgewogen: Auf der einen Seite wirkt die Gewichtskraft, auf der anderen übte eine stromdurchflossene Spule mittels eines Magnetfelds eine Gegenkraft aus. Da die Einheit der elektrischen Leistung, Watt, wiederum über Umwege an das plancksche Wirkungsquantum gekoppelt ist, konnten die Forscher einen Bezug zwischen einem Kilogramm und der Konstanten herstellen. Den ersten sehr präzisen Wert lieferten die Kanadier, und im Sommer 2018 konnten die Amerikaner diesen bestätigen.

Neues Kilogramm aus Silizium | Ab Herbst 2018 wird aller Wahrscheinlichkeit nach die Einheit Kilogramm nicht mehr auf Basis des Urkilogramms in einem Pariser Safe, sondern auf Basis einer Naturkonstante definiert sein. Solche Kugeln aus Silizium-Einkristall dienen dann dazu, die Einheit »weiterzugeben«, beispielsweise bei der Überprüfung von Waagen.

Den dritten Wert hatte bereits einige Monate zuvor eine deutsche Forschergruppe von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) mit einem ganz anderen Experiment beigesteuert. Sie stellten eine hochreine Siliziumkugel her, in der sie die Atomanzahl genau feststellen und so schließlich die Masse eines einzelnen Siliziumatoms errechnen konnten. Zusammen mit der Masse der Kugel konnten sie die so genannte Avogadro-Konstante bestimmen und schlussendlich mit der molaren Planck-Konstante einen Wert für die Planck-Konstante ermitteln. Da dieser innerhalb einer engen Fehlertoleranz mit den beiden anderen bestimmten Werten übereinstimmte, war der Weg frei für die Neudefinition des Kilogramms und damit auch für die gesamte Generalüberholung des SI, die auch Änderungen der drei Einheiten Kelvin, Mol und Ampere beinhaltet.

Ampere, Kelvin, Mol

Diese drei Einheiten sind zwar nicht an materielle Objekte gekoppelt wie das Kilogramm, gleichwohl sind auch sie bislang nicht in Abhängigkeit von physikalischen Naturkonstanten definiert. Das Ampere etwa ist gekoppelt an eine abstrakte Vorstellung, die sich unmöglich im Labor realisieren lässt: Sie basiert auf zwei unendlich langen, parallelen Drähten, die sich in einem Abstand von einem Meter im Vakuum befinden und eine bestimmte Lorentzkraft aufeinander ausüben. Künftig soll die Einheit über die Elementarladung eines Elektrons festgelegt sein. Die so genannte Boltzmann-Konstante soll dazu dienen, die Einheit Kelvin für die Temperatur an eine Naturkonstante zu koppeln. Die Einheit der Stoffmenge wiederum, das Mol, soll sich gemäß den Plänen des BIPMs über die Avogadro-Konstante definieren, deren absoluter Zahlenwert dazu fixiert werden würde. Diese Konstante gibt die Anzahl der Atome oder Moleküle pro Mol an.

Entscheidung am 16. November

Im neuen SI werden die sieben Einheiten dann fortan auf sieben physikalischen Konstanten basieren und damit inhärent stabil sein. Zudem wird sich das letzte verbliebene physische Artefakt aus dem SI-System verabschieden. Die endgültige Entscheidung zur Annahme der Resolution wird – wie sollte es anders sein – in Frankreich fallen, im Congrès de Versailles auf der 26. Generalkonferenz für Maße und Gewichte (CGPM). Am letzten Tag der Konferenz, dem 16. November 2018, werden die Mitgliedsstaaten über die Annahme der Resolution zur Überarbeitung der Definitionen des SI abstimmen. Dass das Vorhaben noch scheitern könnte, daran glaubt niemand mehr.

Für die Verabschiedung der Resolution hätte man sich indes keine bessere Umgebung aussuchen können: In unmittelbarer Nähe des Konferenzgebäudes steht das Schloss Versailles, der Höhepunkt der europäischen Palastarchitektur. Möglich wurde dieses eindrucksvolle Bauwerk nur durch präzise Messtechniken, ausgeklügelte Messinstrumente und natürlich die dazu nötigen, einheitlichen Maßeinheiten. Die Wichtigkeit von sinnvollen und einheitlichen Maßeinheiten gilt auch heutzutage unverändert oder sogar noch in größerem Ausmaß als früher. Insbesondere in den Naturwissenschaften und Technik sind verlässliche Maßeinheiten unabdingbar und folglich ist es vollkommen richtig, was der Direktor des BIPM, Martin Milton in einem offiziellen Statement zur geplanten Neudefinition schrieb.: »And, since science and engineering play an important role in our lives, measurement matters for everyone.« Kurz gesagt: Messungen gehen uns alle etwas an – und damit auch die Maßeinheiten, die wohl bald universell und eindeutig sein werden.

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