Elektrotherapie: Stromimpulse für den Vagusnerv
Als ihm sein Arzt 2001 von der neu zugelassenen Behandlung erzählte, musste Herr Rolbietzki nicht lange überlegen. »Ich war sofort überzeugt«, erzählt er. Bereits seit vielen Jahren litt er an einer schweren Depression. Schleichend sei die Erkrankung gekommen, über viele Jahre hinweg. Schlafstörungen, Antriebslosigkeit, Angst, andere Menschen zu treffen, irgendwann war er arbeitsunfähig. Insgesamt siebenmal hatte er sich schon in stationäre Behandlung begeben. Gebracht hat es kaum etwas.
Claus Wolff-Menzler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum in Göttingen, erinnert sich noch an das erste Gespräch mit Herrn Rolbietzki: »Er hatte einen beachtlichen Leidensweg und alle möglichen Therapien hinter sich.« Die Vagusnervstimulation (VNS) war in Europa in jenem Jahr zur Behandlung von therapieresistenten Depressionen zugelassen worden – und für Rolbietzki war sie so etwas wie der letzte Strohhalm.
Nur wenige Wochen später implantierte ihm ein Neurochirurg in einem rund einstündigen Eingriff oberhalb seines Brustmuskels einen batteriebetriebenen Stromimpulsgenerator, ähnlich einem Herzschrittmacher. Zusätzlich wurde unter der Haut am Hals eine Platinelektrode platziert, die sich spiralförmig um den linken Vagusnerv windet und über ein Kabel mit dem Generator verbunden ist. Dieser Apparat sendet seither in regelmäßigen Abständen elektrische Pulse an Rolbietzkis Vagusnerv, den längsten der zwölf Hirnnerven.
Schon in den 1930er und 1940er Jahren führten Wissenschaftler erste Experimente mit der Vagusnervstimulation an Katzen und Affen durch, bei denen das Verfahren die Hirnaktivität beeinflusste. In den 1980er Jahren entdeckte man dann, dass es bei Hunden einen krampflösenden Effekt hatte, wenn man bei den Tieren Anfälle experimentell auslöste.
Erste klinische Studien am Menschen offenbarten Anfang der 1990er Jahre schließlich, dass die Vagusnervstimulation bei rund der Hälfte der untersuchten Epilepsiepatienten die Zahl der Anfälle reduzierte. Seit 1994 ist das Verfahren in Europa für die Therapie von medikamentenresistenten Epilepsien zugelassen. Von diesen spricht man gemäß den Behandlungsleitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), wenn mindestens zwei unterschiedliche Epilepsiemedikamente in ausreichender Dosierung nicht angeschlagen haben.
Dennoch werde die Vagusnervstimulation bei Epilepsiepatienten üblicherweise erst am Ende der therapeutischen Kette eingesetzt, berichtet Wolfgang Graf vom Schwerpunktzentrum für Epilepsie am Universitätsklinikum Erlangen. Seit ungefähr zwölf Jahren wendet der Facharzt für Neurologie das Verfahren an. In der Regel teste man erst viele unterschiedliche pharmakologische Präparate, sagt er. Rund zwei Drittel der Patienten bekomme man mit Medikamenten anfallsfrei. Bei den restlichen suchen Ärzte nach einem örtlich begrenzten Anfallsursprung im Gehirn (etwa einem Tumor oder einer Narbe nach einer Hirnverletzung) und erwägen die operative Entfernung. Denn so ein Eingriff hat Erfolgsquoten von bis zu 70 Prozent. Doch nicht immer ist er eine Option – beispielsweise, weil der Anfallsherd in einer funktionell wichtigen Region wie dem Sprachzentrum liegt oder weil er nicht identifiziert werden kann. Dann blieben noch neurostimulatorische Verfahren, darunter die VNS, als Therapiemöglichkeit, sagt Graf.
Ein Hirnnerv der Superlative
Der Vagusnerv ist der längste der zwölf Hirnnerven und reicht vom Gehirn bis in den Brust- und Bauchraum (siehe Grafik). Er ist der einzige Hirnnerv, dessen Verlauf und Versorgungsgebiet sich nicht auf den Kopf-Hals-Bereich beschränkt. Wie alle Hirnnerven ist er paarig angelegt, es gibt also ein Exemplar pro Körperseite. Er tritt an der Unterseite des Schädels aus und verläuft dann zwischen der Halsschlagader und einer großen Vene im oberen Brust- und Halsbereich auf beiden Seiten der Luftröhre. Schließlich verzweigt er sich zu verschiedensten Organen, darunter Lunge, Darm und Herz, was ihm seinen Namen verliehen hat (lateinisch: vagus = umherschweifend). Er ist ein wesentlicher Bestandteil des vegetativen Nervensystems und reguliert unbewusst ablaufende Vorgänge im Körper. Wird er aktiviert, kann das beispielsweise die Atmung verlangsamen und die Arterien weiten. Das wiederum führt dazu, dass Puls und Blutdruck sinken und die Verdauung angeregt wird. Daneben ist er etwa an der motorischen Steuerung des Kehlkopfs, des Rachens und der oberen Speiseröhre beteiligt und übermittelt sowohl Geschmacksempfindungen von der Zunge als auch Berührungsreize vom Rachen, Kehlkopf und einem Teil des äußeren Gehörgangs.
Anfälle reduzieren, Stimmung heben
Etwa fünf Prozent der mit der Vagusnervstimulation behandelten Epilepsiepatienten leben anschließend dauerhaft ohne Anfälle. »Das klingt wenig«, so Graf, »aber es geht in erster Linie darum, die Anfallshäufigkeit und -intensität zu reduzieren.« Im Epilepsiezentrum in Erlangen wurden seit der Zulassung der Methode schon mehr als 200 Patienten damit behandelt. »Schätzungsweise 10 bis 20 Patienten sind anfallsfrei«, sagt Graf. »Bei ungefähr 50 Prozent hat sich die Anzahl der Anfälle mindestens halbiert.« Die Quote deckt sich mit der in Fachpublikationen berichteten. Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2011 untersuchte insgesamt 74 klinische Studien mit 3321 Patienten, die an einer schwer behandelbaren Epilepsie litten. Das Verfahren reduzierte die Anfälle um durchschnittlich 45 Prozent, wobei sie in den ersten drei bis zwölf Monaten nach der Operation um 36 Prozent und nach über einem Jahr sogar um rund die Hälfte abgenommen hatten.
Da etliche Epileptiker zusätzlich an einer Depression leiden, fiel Ärzten rasch auf, dass die Stimulation bei vielen Betroffenen auch die Stimmung hob – und zwar unabhängig davon, ob die Anfälle weniger wurden. Klinische Studien um die Jahrtausendwende bestätigten dann, dass die VNS tatsächlich in mindestens 30 Prozent der Fälle die Symptome einer Depression lindert. Zum Vergleich: Die Wirksamkeit einer Psychotherapie oder von Psychopharmaka liegt ebenfalls in diesem Bereich und teilweise sogar darunter. 2001 wurde die Vagusnervstimulation daher in Europa zur Behandlung von therapieresistenten Depressionen zugelassen. Möglich ist sie damit für Patienten, bei denen mindestens zwei unterschiedliche Antidepressiva keine Wirkung gezeigt haben. In der Praxis ist der Einsatz aber deutlich selektiver: »Bei denjenigen, die eine VNS-Therapie bekommen, wurden in der Regel alle traditionellen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft«, erklärt der Psychiater Wolff-Menzler.
Trotz solcher positiven Studienergebnisse äußert sich die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in den Behandlungsleitlinien für unipolare Depressionen zurückhaltend. Dort heißt es: »Für die Vagusnervstimulation gibt es noch zu wenig Evidenz, um Empfehlungen für ihre allgemeine klinische Nützlichkeit und Anwendbarkeit aussprechen zu können.« Eine Schwierigkeit bei der Untersuchung des Verfahrens ist, dass man Patienten aus ethischen Gründen kein Placebogerät einsetzen darf.
Deshalb behilft man sich mit Studien von vergleichsweise kurzer Dauer, bei denen ein Teil der Patienten zunächst nur eine sehr geringe oder keine Stimulation erhält. So beruht die Einschätzung der DGPPN beispielsweise auf einer Untersuchung von Forschern um John Rush aus dem Jahr 2005, bei der eine achtwöchige Vagusnervstimulation die Symptome einer Depression lediglich minimal stärker verbesserte als eine Scheinstimulation. In einer Übersichtsarbeit von 2020 entdeckten Wolff-Menzler und seine Kollegen jedoch, dass rund ein Drittel der Patienten, die zwei Jahre lang eine Vagusnervstimulation erhielten, davon profitierten. »Auch meine Erfahrung zeigt, dass sich erst nach etwa sechs Monaten antidepressive Effekte und erst nach zwölf Monaten Remissionen beobachten lassen«, sagt Wolff-Menzler, der seit mehr als zehn Jahren schon nahezu 30 Patienten bei dieser Behandlung begleitet hat. So bezeichnet man eine Phase mit wenigen oder keinen Symptomen. Ähnliches gilt für die Therapie bei Epilepsien: »VNS ist keine Methode, die nur angeschaltet werden muss und dann sofort einen Effekt zeigt«, sagt Graf. Messbare Verbesserungen stellen sich üblicherweise erst nach mehreren Monaten oder gar ein bis zwei Jahren ein.
Nachdem Herr Rolbietzki das Gerät implantiert bekommen hatte, begann Psychiater Wolff-Menzler damit, die Stromstärke der Stimulierung über die nächsten Monate alle paar Tage schrittweise mit einer Art Fernsteuerung zu erhöhen. Das soll eine Überreizung des Nervs und Schmerzen verhindern und wird in der Regel so lange fortgeführt, bis alle Fasern des Nervs stimuliert werden. Bei welcher Stromstärke dieser Punkt ungefähr erreicht ist, wurde mit Hilfe von Computersimulationen bestimmt. Das Vorgehen sowie die Parameter (etwa die Stimulationsdauer und -häufigkeit) unterscheiden sich zunächst nicht zwischen Patienten mit Epilepsie oder Depression. Typisch ist eine Stimulation alle fünf Minuten für 30 Sekunden. In der Anfangszeit passt der behandelnde Mediziner die Werte individuell an. Je nach Klinik und Arzt unterscheidet sich das Tempo: »Wir erhöhen die Stromstärke in der Regel alle zwei bis drei Monate«, sagt Graf vom Universitätsklinikum Erlangen. Mitunter bräuchte es daher bis zu zwei Jahre, bis die optimalen Einstellungen erreicht sind.
Bei Herrn Rolbietzki dauerte es nur ein paar Monate. An die während der Stimulation auftretende Heiserkeit habe er sich rasch gewöhnt, berichtet er. Diese Nebenwirkung tritt bei mindestens 20 Prozent der Patienten auf. Manchmal kommt es auch zu Schluckbeschwerden, Husten oder Atemnot, da Äste des Vagusnervs zum Kehlkopf und den Stimmlippen führen. Üblicherweise treten die Symptome wie bei Herrn Rolbietzki nur während der Stimulation auf und lassen im Lauf der Behandlung nach. Um zu vermeiden, dass die Stimulation in einem unpassenden Moment einsetzt, können die Patienten das Gerät vorübergehend ausschalten, etwa vor einem Vortrag oder einem wichtigen Gespräch. »Man ›klebt‹ dazu einen speziellen Magneten auf die Brust, dort, wo der Stimulator sitzt«, erklärt Wolff-Menzler.
Wie genau die Stimulation wirkt, ist nicht abschließend geklärt. Sicher spielen hier aber unterschiedliche Mechanismen zusammen. Die Reizung des Nervs verändert unter anderem die Aktivität bestimmter Hirnareale, wodurch sich eine krampflösende Wirkung ergibt. Neurologe Graf formuliert es so: »Die VNS desynchronisiert die Hirnaktivität, was epileptischen Anfällen entgegenwirkt.« Denn bei einem Anfall feuern plötzlich sehr viele Nervenzellen des Gehirns gleichzeitig.
Außerdem beeinflusst die Stimulation die Konzentration von Botenstoffen im Gehirn. So scheinen die Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin krampflösend zu wirken, und im Tiermodell regt die VNS die »Hauptproduktionsstätten« der beiden Botenstoffe im Hirnstamm an. Dazu passt die Erkenntnis, dass Patienten mit einem implantierten Generator eine höhere Konzentration dieser Neurotransmitter aufweisen. Das könnte auch für die antidepressive Wirkung verantwortlich sein. Daneben offenbarten bildgebende Verfahren Stoffwechsel- und Durchblutungsveränderungen in etlichen Hirnstrukturen, etwa eine verstärkte Hirnaktivität im linken präfrontalen Kortex. Das Areal ist wichtig dafür, dass wir unsere Handlungen der Situation angemessen steuern und unsere Emotionen regulieren können.
Hilft das Verfahren auch bei Autoimmunerkrankungen?
Andere Forscher entdeckten einen Zusammenhang zwischen dem Immunsystem und dem Vagusnerv. Bei vielen Autoimmunerkrankungen ist das sympathische Nervensystem überaktiv und fördert Entzündungsreaktionen, wohingegen der Vagusnerv, der zum parasympathischen Nervensystem gehört, eine verringerte Aktivität aufweist. Eine Stimulation des zehnten Hirnnervs könnte also das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Komponenten des vegetativen Nervensystems verbessern, so die These. In Experimenten an Ratten ließen sich Entzündungsreaktionen durch die VNS abschwächen. Und erste Befunde deuten darauf hin, dass das Verfahren tatsächlich als ergänzende Therapie bei Autoimmunerkrankungen wie etwa rheumatoider Arthritis oder Morbus Crohn sinnvoll sein kann. Manche Fachleute sind sogar der Ansicht, es könne auch bei Diabetes oder Bluthochdruck helfen. Die Datenlage für eine Zulassung der Behandlung bei diesen Erkrankungen ist jedoch noch zu gering.
Bislang haben sich seit 2001 erst rund 5000 Menschen mit therapieresistenter Depression in Deutschland einen Vagusnervstimulator einsetzen lassen. Bei Epilepsie sind es weniger als 1000. Während die Zahl bei Epilepsie nicht überrascht, da deutlich weniger Menschen von der Erkrankung betroffen sind und es wirksame Behandlungsalternativen gibt, sieht die Situation bei Depressionen anders aus: Jährlich erkranken hier zu Lande rund 5,3 Millionen Menschen an einer solchen. Etablierte Therapieformen sind dabei nicht grundsätzlich wirksamer als die VNS.
Wolff-Menzler glaubt, dass die Operation viele Patienten abschreckt. Oft würden sich Psychiater scheuen, das Verfahren zu empfehlen. Zudem nehmen in Deutschland nur wenige Zentren den Eingriff überhaupt vor. »Elektrostimulationstherapien im Allgemeinen haben in Deutschland ein Akzeptanzproblem«, sagt er. Das liege zum Beispiel daran, dass die so genannte Elektrokrampftherapie (EKT) im »Dritten Reich« zu Versuchszwecken missbraucht worden ist. Bei dem Verfahren wird ein Krampfanfall im Gehirn des Patienten ausgelöst. Auch die Darstellung der EKT in Filmen wie »Einer flog über das Kuckucksnest« wirke abschreckend, meint Wolff-Menzler. Dies führe zu Skepsis gegenüber der VNS.
»Elektrostimulationstherapien haben in Deutschland ein Akzeptanzproblem«Claus Wolff-Menzler, Psychiater
Die Elektrokrampftherapie weist bei therapieresistenten Depressionen die höchste Wirksamkeit auf: Sie hilft 50 bis 70 Prozent der Patienten. Allerdings erfolgt sie immer unter Vollnarkose und muss in regelmäßigen Abständen wiederholt werden. Das kann für die Betroffenen belastend sein, da bei ihnen oftmals Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen und Gedächtnisprobleme auftreten.
Wolff-Menzler plädiert dafür, Betroffenen bereits nach zwei vergeblichen Therapieversuchen mit Antidepressiva die EKT zu empfehlen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sollte auch die VNS als künftige Option ins Spiel gebracht werden. Allgemein legt er Wert darauf, Patienten ausreichend zu informieren und mit ihnen gemeinsam eine Entscheidung zu treffen.
An der Universitätsmedizin Göttingen wird die Elektrokrampftherapie vergleichsweise früh im Krankheitsverlauf einer Depression angewandt und bei Erfolg durch die VNS abgelöst. Denn Letztere hat weniger Nebenwirkungen, und es sind keine wiederholten Krankenhausaufenthalte mit Vollnarkose nötig. »Erfahrungsgemäß haben Patienten, die auf die EKT ansprechen, eine gute Chance, dass die VNS ebenfalls wirkt«, berichtet Wolff-Menzler. Auch Rolbietzki erhielt zunächst eine Elektrokrampftherapie. Er berichtet, diese habe zwar Wirkung gezeigt, sei aber auf Grund der Vollnarkose ziemlich belastend gewesen.
Stimulation von außen
Um die VNS einfacher und flexibler anwenden zu können, haben Mediziningenieure vor einigen Jahren eine Methode entwickelt, mit der sich der Vagusnerv ohne vorherige Operation durch Stromimpulse auf der Haut stimulieren lässt: die so genannte transkutane Vagusnervstimulation, kurz tVNS. Es sind verschiedene Geräte erhältlich. Eines erinnert an ein Smartphone mit Kopfhörer; hier stimuliert eine Elektrode in der Ohrmuschel einen dort verlaufenden Ast des Vagusnervs. Eine andere Variante wird an den seitlichen Hals gehalten (siehe »Wie die Stimulierung funktioniert«). Verschiedene Studien haben gezeigt, dass die Technik ähnliche neuronale Prozesse anstößt wie die operative Variante. Sie beeinflusst etwa die Aktivität in verschiedenen Hirnregionen, die mit Angst und Emotionsregulation assoziiert sind.
In einer 2020 erschienenen Übersichtsarbeit analysierte ein Team um Jonathan Yap den aktuellen Stand der Forschung zur transkutanen Vagusnervstimulation. Die Technik sei sicher und bequem und habe nur wenige und milde Nebenwirkungen, erklären die Forscher. Allerdings sei noch ziemlich unklar, unter welchen Bedingungen, bei welchen Erkrankungen und durch welche Mechanismen die Methode wirkt und wie dauerhaft die Effekte sind. Es sei schwierig, aus den bislang uneinheitlichen Ergebnissen Schlussfolgerungen zu ziehen. In Zukunft müsse man systematisch erforschen, wo Elektroden am besten platziert werden sollten und welche Intensität und Dauer der Stimulation den größten Nutzen bringt.
Ist die tragbare Variante weniger effektiv?
Wissenschaftler aus zwölf Epilepsiezentren haben die Methode 2016 in einer Doppelblindstudie an Patienten mit einer medikamentenresistenten Epilepsie getestet. Weder der Patient noch der Arzt wusste also, wer tatsächlich eine Stimulation erhielt und wer lediglich eine Scheinstimulation. Nach 20 Wochen war die Zahl der Anfälle in der Experimentalgruppe um rund ein Drittel gesunken. Dennoch war das Ergebnis statistisch nicht signifikant, da die Häufigkeit der Anfälle in beiden Gruppen stark variierte. Immerhin vertrugen die meisten die Therapie sehr gut und konnten sie problemlos in den Alltag integrieren.
In einem 2019 veröffentlichten Pilotprojekt an der Universität Heidelberg untersuchten Wissenschaftler um Michael Kaess die Wirkung der transkutanen Vagusnervstimulation an Jugendlichen mit therapieresistenten Depressionen im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe. »Menschen mit einer Depression springen viel besser auf negative als auf positive Emotionen an«, erklärt Kaess, inzwischen Professor und Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Bern. Er spricht von einem »negativity bias« – also gewissermaßen einer Verschiebung der Wahrnehmung hin zum Schlechten. Antidepressiva können diesen Effekt abmildern. Dadurch gehen nach einer gewissen Zeit auch die Symptome der Depression zurück, so die Vermutung. Tatsächlich reagierten die Versuchsteilnehmer nach einer einmaligen transkutanen Stimulation im Schnitt weniger stark auf traurige Gesichter. Das deute auf einen möglichen therapeutischen Nutzen des Verfahrens bei Jugendlichen mit therapieresistenten Depressionen hin, so die Forscher. Ob die Methode tatsächlich bei der Behandlung von Depressionen helfe, muss laut Kaess aber noch weiter untersucht werden. Entsprechende klinische Studien dazu seien in Planung.
Eine Reihe von Studien hat sich mit der transkutanen Stimulation des Vagusnervs zur Behandlung von Migräne befasst. Stromimpulse am Hals reduzierten sowohl die Häufigkeit als auch die Schwere der Attacken. Mediziner des Oberbayerischen Kopfschmerzzentrums am Klinikum Großhadern untersuchten 2015, ob die Variante an der Ohrmuschel den Betroffenen ebenfalls hilft. Eine elektrische Stimulation von vier Stunden täglich über drei Monate hinweg reduzierte die Zahl der monatlichen Kopfschmerztage um drei beziehungsweise sieben Tage, je nach Stimulationsfrequenz. Die sieben Tage entsprachen bei fast einem Drittel der Probanden einer Reduktion der Migränetage um mindestens die Hälfte. Laut den Autoren ist die Wirksamkeit der Methode daher vergleichbar mit Migränemedikamenten wie Topiramat und Onabotulinumtoxin A. Überraschenderweise half die Stimulation mit einer niedrigen Frequenz von nur einem Hertz, die eigentlich als Kontrolle gedacht war, den Patienten deutlich besser als eine Stimulation mit 25 Hertz. Solche Befunde machen deutlich, dass noch viel besser untersucht werden muss, welche Parameter den Erfolg der Methode beeinflussen.
Mit Potenzial und vielen Fragezeichen
Gleichwohl kann jeder, der möchte, ein tVNS-Gerät im Internet bestellen. Es ist als CE-zertifiziertes Medizingerät zugelassen, und die Hersteller empfehlen es als Zusatzbehandlung für schwer behandelbare Epilepsien oder Kopfschmerzerkrankungen wie Migräne. Trotz tendenziell positiver Ergebnisse glaubt ein Kenner der Branche, der namentlich nicht genannt werden möchte, dass die Methode die Erwartungen bislang nicht erfüllen konnte. Wahrscheinlich weil die Stimulierung viel weniger zielgerichtet und präzise sei als bei der operativen Variante.
»VNS ist keine Methode, die nur angeschaltet werden muss und dann sofort einen Effekt zeigt«Wolfgang Graf, Neurologe
Auch in Erlangen habe man die transkutane Vagusnervstimulation bei Epilepsiepatienten im Rahmen einer Pilotstudie getestet, erzählt Wolfgang Graf. Die Befunde waren jedoch weniger vielversprechend. Die Therapie wurde zwar gut vertragen, habe allerdings nur bei ein paar Patienten die Zahl der Anfälle reduziert.
Kinder- und Jugendpsychiater Kaess gibt sich dagegen »vorsichtig optimistisch«, was die Behandlung von therapieresistenten Depressionen anbelangt: »Vom derzeitigen wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet könnte die tVNS Potenzial haben.« Da die invasive Variante auf Grund der Schwere des Eingriffs bei Jugendlichen in der Regel nicht angewendet wird, sieht Kaess in der tVNS einen Ansatz, der künftig weiterverfolgt werden sollte. Allerdings sei die Wirkweise noch nicht geklärt. Aber »die gleiche Situation haben wir bei Antidepressiva«, gibt er zu bedenken. Man müsse dringend nach Alternativen zu Medikamenten und Psychotherapie suchen, findet er. Denn rund 30 bis 50 Prozent der depressiven Jugendlichen helfen diese Verfahren nicht.
Unterdessen lebt Herr Rolbietzki nun bereits seit mehr als zehn Jahren mit dem Stimulator in der Brust. Fast so lange hat er auch keine depressiven Symptome mehr. Die VNS-Therapie in Kombination mit einem Antidepressivum ermöglicht ihm wieder ein »völlig normales Leben«. Der heute 64-Jährige reitet fast täglich und engagiert sich ehrenamtlich als Entwicklungshelfer in Afrika. Kein Wunder, dass er anderen mit einem ähnlichen Leidensweg rät, die Vagusnervstimulation auszuprobieren.
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