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Tai-Chi: Hirntraining aus dem Fernen Osten

Tai-Chi hat seine Wurzeln in einer fernöstlichen Selbstverteidigungskunst. Die Kombination aus sanften Bewegungen und Atemübungen stärkt nicht nur Muskulatur und Gleichgewicht, sondern auch die geistigen Kräfte.
Frau macht Tai Chi auf einem Steg am Meer
Wer das körperliche Gleichgewicht zu halten lernt, trainiert damit ebenso den Geist (Symbolbild).

China, Ende des 13. Jahrhunderts: Der Legende nach lebte zu dieser Zeit der Mönch Zhang Sanfeng. Er soll über außergewöhnliche Kräfte verfügt haben, konnte wochenlang fasten und schien nicht zu altern. Sein Ruf drang bis zum Kaiser vor. Es hieß, er habe eine neue Kampfkunst erfunden, das »Tai-Chi-Chuan«, kurz Tai-Chi, auch bekannt als »Schattenboxen«. Das Prinzip dieser Disziplin: die aus der Erde kommende Energie im Körper zu kanalisieren. Der Übende solle seine Kraft aus den Füßen schöpfen, aus der Verwurzelung des Körpers im Boden. Von dort steige die Energie auf, laufe in spiralförmigen Bewegungen durch das Becken, bevor die Hände sie wieder frei gäben.

Diese Fertigkeiten wurden immer wieder von Lehrer zu Schüler weitergetragen, bis sie 1930 in einem Buch verschriftlicht und formalisiert wurden. Heute besteht die einstige Kampfkunst nur noch aus einer Kombination von Atemübungen und überwiegend langsamen, ineinander übergehenden Bewegungen, die den Fluss der Energie durch den Körper fördern sollen.

Tai-Chi wird heute von etwa 300 Millionen Anhängern weltweit praktiziert. Woher kommt der Erfolg? Die Praktizierenden berichten über ein Gefühl von Wohlbefinden und Energie. Seit rund 30 Jahren beschäftigt sich damit auch die Forschung. Während 1990 erst eine einzige Studie existierte, waren es 2015 schon fast 200. Im Jahr 2016 veröffentlichte die University of Ottawa in Kanada eine Übersicht über die Wirkung von Tai-Chi auf verschiedene Organe. Herz, Lunge, Gelenke, Gehirn: Fast alles scheint von Tai-Chi zu profitieren.

Tai-Chi für die Gesundheit

Seit Anfang der 2000er Jahre haben mehrere Metaanalysen die blutdrucksenkende Wirkung bestätigt. Bei Bluthochdruck wurde Tai-Chi sogar als Ergänzung zu Medikamenten empfohlen, weil es den Spiegel des Stresshormons Kortisol senkt. Dafür gibt es mehrere Erklärungen: Zum einen stimuliert Tai-Chi die Muskelspannung – die Übungen mit langsamen Bewegungen sind insbesondere für die Beinmuskulatur sehr anspruchsvoll. Zum anderen scheint es die Durchblutung zu fördern. Und schließlich reduziert es auch die Aktivität des sympathischen Nervensystems. Letzteres setzt in Stresssituationen das Hormon Kortisol frei, was auf Dauer das Herz-Kreislauf-System schwächen kann.

Der Gegenspieler ist der Parasympathikus. Dieses Nervensystem wird großteils aktiviert über eine tiefe und kontrollierte Atmung. Dutzende von Studien haben untersucht, ob Tai-Chi Lungenerkrankungen mildert, wie die Ateminsuffizienz oder die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD), eine fortschreitende Entzündung und Verengung der Atemwege und der Lunge. Es stellte sich heraus, dass regelmäßiges Training die Atembeschwerden mindert, das Lungenvolumen erhöht und das Zwerchfell stärkt. Mit der besseren Sauerstoffversorgung steigt auch die Belastbarkeit.

Ein weiterer wichtiger Effekt betrifft die Gelenke. Metaanalysen haben eine positive Wirkung auf Krankheiten wie Arthrose belegt. Tai-Chi trainiert das Gleichgewicht, das Beugen der Gelenke und die Rotation des Beckens. Die langsamen und kräftigen Beuge- und Rotationsübungen stabilisieren die Gelenke, vor allem in den Knien, was den Schmerz lindert und das Fortschreiten der Krankheit verlangsamt.

In den Gelenken, Sehnen und Muskeln von Armen und Beinen liegen Nervenfasern, die als interne Sensoren dienen. Diese Propriozeptoren melden die Stellung und die Bewegungen des Körpers an das Gehirn, insbesondere an die motorische Hirnrinde. Diese verarbeitet die Informationen über die Lage des Körpers und kann so Bewegungen synchronisieren und optimal dosieren. Dabei gibt es eine wichtige Schaltstelle: die Basalganglien, Gruppen von Zellkernen im Inneren des Gehirns. Sie werden teils von Neuronen gesteuert, die aus der Substantia nigra stammen, einer Hirnregion nicht weit vom Hirnstamm entfernt. Die Parkinsonkrankheit zerstört diese Neurone nach und nach, weshalb die Betroffenen ihre Bewegungen nicht mehr so fein steuern können und leichter das Gleichgewicht verlieren. Kann das regelmäßige Praktizieren von Tai-Chi diese Symptome mildern?

2014 ergab eine Metaanalyse aus der neurologischen Abteilung der Jining-Universität in China, dass Tai-Chi das »posturale Gleichgewicht« – die Haltungsstabilität – von Parkinsonpatienten eindeutig förderte. Sie konnten außerdem besser und länger stehen, und der Bewegungsabbau verlangsamte sich. Studien der University of Oregon zeigten nach einem sechsmonatigen Training positive Effekte auf die Körperhaltung, die Sturzprophylaxe und die Feinsteuerung von Bewegungen.

Nach einem Jahr Training hatte sich das Risiko für einen Sturz mit Verletzung sogar halbiert, verglichen mit einer Kontrollgruppe, die andere Gymnastik praktizierte. Die teilnehmenden Versuchspersonen waren mindestens 70 Jahre alt und entweder im Vorjahr bereits gestürzt oder aus anderen Gründen nicht gut zu Fuß.

Tai-Chi für die grauen Zellen

Wenn Tai-Chi Parkinson mildern kann: Kann es auch den kognitiven Verfall und die Alzheimerdemenz aufhalten? Oder sogar die kognitiven Fähigkeiten von gesunden Menschen verbessern? Forschende haben das in den vergangenen 20 Jahren mit Hilfe der bildgebenden Verfahren recht umfassend beantwortet.

An der Universität Peking beobachtete 2019 ein Forschungsteam unter der Leitung von Heng-Chan Yin, wie sich acht Wochen Tai-Chi-Training auf das Gehirn auswirkten. Die Versuchspersonen trainierten dazu dreimal pro Woche 50 Minuten. Ergebnis: Die Menge an grauer Substanz nahm zu – also die Anzahl der Neurone und die Dichte der Verbindungen zwischen benachbarten Neuronen, und zwar in mehreren Hirnregionen, weit verteilt über alle vier Hirnlappen (siehe »Das Hirnvolumen wächst«).

Das Hirnvolumen wächst | Der Fachbegriff »Gyrus« bezeichnet die Wölbungen in der Großhirnrinde, die von Furchen begrenzt werden, ähnlich wie Bergrücken von umliegenden Tälern. Die Namen der Gyri stehen für die Hirnlappen und ihre Unterregionen. Bei regelmäßigem Tai-Chi-Training wächst die graue Substanz in mehreren dieser Regionen, darunter im Schläfen-, Scheitel- und Hinterhauptslappen, und die Verbindungen zwischen Stirn- und Scheitellappen werden enger.

Die Zunahme der grauen Substanz in diesen Arealen ist aufschlussreich, weil sie alle bestimmte Funktionen erfüllen. So sind zwei Hirnwindungen daran beteiligt, Erinnerungen wie den Namen eines alten Klassenkameraden abzurufen, und eine weitere am episodischen Gedächtnis, das Ereignisse wie einen Urlaub speichert. In der vierten Windung regt sich vor allem dann Aktivität, wenn wir uns in andere Menschen hineinversetzen: ihre Gefühle, Absichten und Standpunkte. Und die fünfte Region, der Praecuneus im oberen Scheitellappen, ist Teil des Ruhezustandsnetzwerks (Default Mode Network), das zum Beispiel dann aktiv ist, wenn wir gedanklich abschweifen, kreativ sind oder uns die Zukunft vorstellen.

Die Studie aus Peking ergab außerdem, dass sich die Verbindung zwischen Teilen des Stirn- und des Scheitellappens (Gyrus frontalis medius und Lobulus parietalis superior) verstärkte. Das ist gut für die kognitive Kontrolle: die Fähigkeit, Handlungen zu planen, Impulse zu kontrollieren und Strategien anzupassen. Die Verbindungen zwischen den Hirnarealen sind entscheidend für deren koordinierte Zusammenarbeit; sie bilden die weiße Substanz. Dass deren Dichte dank Tai-Chi-Training steigt, bestätigte 2020 auch ein Team von der Universität Suzhou in China, das Frauen Anfang 60 untersucht hatte.

Ein Jahr regelmäßiges Tai-Chi-Training erhöht das Hirnvolumen um ein Prozent

Schon 2012 zeigte eine gemeinsame Forschungsgruppe aus China und den USA: Nach einem knappen Jahr regelmäßigen Tai-Chi-Trainings – dreimal 50 Minuten pro Woche – war das Hirnvolumen insgesamt um ein Prozent gewachsen. Die Zunahme an grauer Substanz passt auch zu weiteren Beobachtungen. Bei Personen, die drei Monate täglich eine Stunde Tai-Chi praktizierten, besserte sich das Gedächtnis, wie 2017 eine Studie der chinesischen Fujian-Universität in Fuzhou feststellte. Und an der Universität Taipeh in Taiwan beobachtete man 2016, dass die geistige Flexibilität stieg. Gemessen wurde das mit einem Test, in dessen Verlauf sich die Vorgaben für eine einfache Aufgabe am Computer änderten.

Nachgewiesen ist auch, dass Tai-Chi das Konzentrationsvermögen und die kognitive Kontrolle fördert, also die Unterdrückung einer automatischen Reaktion. Erfasst wird das mit dem so genannten Stroop-Test: Auf einem Bildschirm erscheinen Wörter für Farben wie »Blau« oder »Rot«, wobei das Wort selbst in blauer oder roter Farbe geschrieben sein kann, aber ebenso in Grün oder Gelb. Die Versuchsperson soll nun nicht das Wort vorlesen, sondern die Farbe nennen, in der das Wort abgebildet ist. Wer lesen kann, neigt allerdings dazu, das Wort vorzulesen, und muss diese automatische Reaktion unterdrücken. Das führt zu einer längeren Reaktionszeit. Nach mehreren Monaten Tai-Chi gelingt die richtige Antwort schneller – ein Hinweis auf eine gestärkte kognitive Kontrolle.

Wie dieser Effekt zu Stande kommt, ist noch nicht klar. Dazu beitragen könnte die geistige Anstrengung, die es erfordert, sich sehr langsam und kontrolliert zu bewegen, teils erst in die eine Richtung und dann in die Gegenrichtung, wie es beim Tai-Chi üblich ist.

Die Bandbreite der kognitiven Effekte ist groß. 2010 fasste die Boston Medical School Ergebnisse von 40 Studien mit insgesamt knapp 4000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zusammen. Demnach mindert Tai-Chi auch die Symptome von Angstzuständen, Depressionen und Stimmungsschwankungen und steigert zugleich das Selbstwertgefühl.

Für ein regelmäßiges Training fehlen allerdings vielen Menschen die Zeit und die Bereitschaft. Die Motivation steigt, wenn Bekannte, Kollegen oder Freunde mitmachen. Es lohnt sich für alle. Und es ist nie zu früh – und auch nicht zu spät –, mit dem Training anzufangen.

Qigong, Säule der chinesischen Medizin

Qigong ist eine Form von Meditation und Bewegungskunst, die mit dem Tai-Chi eng verwandt ist, aber noch mehr Wert auf Atmung und Konzentration legt. Qigong wirkt ähnlich wie Tai-Chi: Die graue Substanz im Gehirn nimmt zu. Beim Qigong betrifft das zum einen den Hippocampus, entsprechende Tests zeigen ein verbessertes Kurzzeitgedächtnis. Zum anderen wächst der mittlere Schläfenlappen, verbunden mit einem verbesserten Langzeitgedächtnis und dem Erhalt von autobiografischen Erinnerungen, wie auch beim Tai-Chi. Das kann dem Gedächtnisverlust vorbeugen, der bei einem kognitiven Verfall mit der fortschreitenden Degeneration des mittleren Schläfenlappens einhergeht. Ein gemeinsamer Effekt von Tai-Chi und Qigong ist auch die Stärkung der mentalen Kontrolle. Dazu zählt die Fähigkeit, automatische Reaktionen zu unterdrücken sowie konzentriert Regeln zu befolgen, zum Beispiel schnell von 100 rückwärts zu zählen.

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