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Sprachentwicklung: Die Macht der Gutenachtgeschichte

Kindern in Deutschland wird zu wenig vorgelesen. Das ist nicht nur schade, weil damit Familienrituale fehlen. Denn das gemeinsame Schmökern in Büchern bildet und verbindet.
Frau liest Kind auf dem Sofa vor.
Beim Vorlesen in fremde Welten abtauchen: Kinder, die das oft tun, kennen deutlich mehr Wörter als Jungen und Mädchen, die nie in den Genuss kommen.

Abends ist bei uns Vorlesezeit. Wir haben schon Dinosaurier besucht und sind mit Grimms Märchen in die Welt der Feen, Froschkönige und Prinzessinnen abgetaucht. Wir haben über die Scherze des Raben Socke gelacht und konnten beruhigt das Licht ausmachen, als auch der kleine Siebenschläfer endlich eingeschlafen war. Aktuell sind wir täglich zu Gast auf einer Schmuddelfinger Müllkippe, denn unser Sohn bekommt nicht genug von den Abenteuern der »Olchis«. Vorlesen ist unser Ritual, unser Betthupferl und unsere Zeit, in der wir den Tag hinter uns lassen.

Ein Blick auf die Zahlen zeigt jedoch: Längst nicht jedem Kind wird vorgelesen. 36,5 Prozent der Ein- bis Achtjährigen kommen laut der Bildungsstudie »Vorlesemonitor 2023« der Stiftung Lesen selten bis nie in den Genuss. Zudem gibt es in jeder zweiten Familie höchstens zehn Kinderbücher. Fehlt damit nur ein Abendritual, das Eltern und Kinder zusammenbringt? Oder kann die Gutenachtgeschichte mehr?

»Vorlesen fördert die frühe Sprachentwicklung, etwa mit Blick auf das Vokabular«, sagt Ralph Radach, Professor für allgemeine und biologische Psychologie an der Bergischen Universität Wuppertal. »Durch das Vorlesen bekommen Kinder ein Gefühl dafür, was ein Wort in unterschiedlichen Kontexten bedeutet« – ein wichtiger Aspekt, wenn es um das Erlernen von Sprache geht.

Die Wirkung auf den Wortschatz untersuchte eine Forschungsgruppe um Jessica Logan von der Ohio State University. Aus einer Sammlung der 200 beliebtesten Bilderbücher wählten die Forschenden 60 zufällig aus. Dann zählten sie, wie viele Begriffe in jedem Buch enthalten waren. Basierend darauf berechneten sie die Anzahl der Wörter, die ein Kind von der Geburt bis zu seinem fünften Geburtstag auf diese Weise hört. Das 2019 veröffentlichte Ergebnis lässt aufhorchen: Demnach sind es bei Kindern, denen höchstens alle zehn Wochen etwas vorgelesen wird, 4662 Wörter. Kinder, denen täglich vorgelesen wird, lernen 296 660 Wörter kennen, und jene, denen fünf Bücher pro Tag vorgelesen werden, sogar 1 483 300 – also weit über eine Million mehr als Kinder, die ohne Vorlesen aufwachsen. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass in dieser »Million-Wörter-Lücke« eine Ursache für die großen Unterschiede im kindlichen Vokabular zu finden ist, die weit reichende Folgen haben kann: So seien Mädchen und Jungen, denen vorgelesen wird, beim Schuleintritt besser darauf vorbereitet, die Wörter auch in gedruckter Form zu sehen, und lernten aus diesem Grund schneller und einfacher lesen.

Der internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung 2021 »IGLU« zufolge kann ein Viertel aller Viertklässler in Deutschland nicht richtig lesen. Experten vermuten auch hier als eine der Ursachen, dass Eltern zu wenig vorlesen. Laut Simone C. Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen, betrifft das vor allem Eltern mit einem niedrigeren Bildungsgrad. »Aber auch Mütter und Väter, die als formal gering gebildet gelten, lesen vor, wenn ihnen in der Kindheit selbst vorgelesen wurde«, sagt sie. Bei manchen Familien sei etwa mangelnde Zeit der Grund, warum zu wenig vorgelesen würde. Teils fehle allerdings schlicht das Können: »15 Prozent der Eltern sagen, dass sie selbst nicht gut lesen können und sich das Vorlesen nicht zutrauen« – eine Zahl, die zu Befunden der LEO-Studie 2018 der Universität Hamburg passt, die die Lese- und Schreibkompetenzen der Deutschen an mehr 7000 Personen testete. Zwölf Prozent der Erwachsenen, die Deutsch sprechen, konnten maximal einzelne Sätze lesen und schreiben, scheiterten aber an zusammenhängenden Texten.

Vorlesen scheint sich also in vielerlei Hinsicht zu lohnen. Doch wie genau fördert es die sprachliche und soziale Entwicklung? »Die Decodierung der Zeichen ist anfangs extrem aufwändig. Für das Textverständnis bleiben daher oft zu wenige mentale Ressourcen«, erklärt Ralph Radach. »Kinder, die durch das Vorlesen schon mit Semantik, Vokabular und Syntax vertraut sind, fällt das Lesenlernen leichter.« Auch die gemeinsame Zeit, der Austausch mit den Eltern und das Lernen von einem Vorbild spielen eine wichtige Rolle. »Wenn Kinder erleben, dass ihnen vorgelesen wird, weckt dies die intrinsische Motivation, selbst zu lesen.«

Klüger, sprachgewandter, engagierter

Ist wirklich das Vorlesen der Grund für den intellektuellen Vorsprung von Kindern, bei denen die Gutenachtgeschichte dazugehört? Oder wird schlicht in gut situierten Familien, die auch sonst bessere Möglichkeiten haben, den Nachwuchs zu fördern, mehr gelesen? Der sozioökonomische Status ist demnach eine potenzielle »Störvariable« – ein Faktor, der Ergebnisse zur Wirkung des Vorlesens verfälschen könnte. Doch Untersuchungen wie die »Vorlesestudie« aus dem Jahr 2011, wie der »Vorlesemonitor« vor 2022 hieß, sprechen für einen Effekt, auch ungeachtet des Milieus, in dem Mädchen und Jungen groß werden. So waren die Noten von Kindern, deren Mütter nur eine einfache Bildung genossen hatten, ihren Töchtern und Söhnen aber trotzdem vorlasen, signifikant besser als die der Kinder aus vergleichbaren Milieus, die nicht in den Genuss gekommen waren. Besonders galt das für das Fach Deutsch, aber auch für Mathematik.

Experimentelle Studien, bei denen Forschende die Vorlesedosis bei einem Teil der untersuchten Kinder gezielt steigern, sprechen ebenfalls für eine echte Wirkung der Gutenachtgeschichte. 2013 veröffentlichte ein Team um den Psychologen John Protzko, damals an der New York University, eine übergeordnete Analyse des Forschungsstands. Es hatte dafür acht Experimente statistisch ausgewertet und zusammengefasst. Darin erhielten Eltern neben geeigneten Büchern Tipps, wie sie das Kind beim Vorlesen miteinbeziehen können, etwa durch offene Fragen zur Story. Das Ergebnis: Eine derart gestaltete Lesestunde, regelmäßig abgehalten, ließ den IQ der Kinder um rund sechs Punkte steigen. Allerdings profitierten nur Kinder, die höchstens vier Jahre alt waren. Womöglich beschleunigt das interaktive Vorlesen die Sprachentwicklung bis zu einem gewissen Level, was sich zeitweise auf den IQ auswirken kann.

Echt oder nicht – wie Vorlesen das Buchstabenverständnis fördert

Forscherinnen und Forscher der Technischen Universität Kaiserslautern fanden Belege dafür, dass gemeinsames Bücherlesen die Vertrautheit mit Buchstaben fördert. Für ihre 2017 publizierte Untersuchung richteten sie in einer Kitagruppe eine Leihbücherei ein. Die Kinder durften jede Woche ein neues Buch mit nach Hause nehmen und die Eltern sollten daraus vorlesen. In einer weiteren Gruppe wurden stattdessen die Erzieherinnen im interaktiven Vorlesen geschult, das Kinder ermuntert, nicht nur zuzuhören, sondern mitzumachen. In einer dritten Gruppe wurde beides kombiniert, eine Kontrollgruppe bekam nicht mehr oder anders vorgelesen als sonst. Insgesamt nahmen 69 Kinder zwischen drei und vier Jahren teil. Vor den Maßnahmen sowie im Anschluss bestimmten die Forschenden deren Wortschatz. Zusätzlich gab es einen Test, in dem die Kinder echte Buchstaben von Pseudobuchstaben unterscheiden sollten. Der Wortschatz der Kinder hatte sich in allen Vorlesegruppen nach sechs Monaten signifikant verbessert. Auch in der Erkennung richtiger Buchstaben waren die Kinder fitter als die Mitglieder der Kontrollgruppe. Wegen der kleinen Stichprobe ist die Aussagekraft allerdings begrenzt. Das Autorenteam spricht selbst nur von einer ersten Pilotstudie.

Ähnliches förderte jedoch die »Vorlesestudie 2015« an 524 Kindern und ihren Müttern zu Tage: 70 Prozent der Acht- bis Zwölfjährigen hatten im Fach Deutsch eine sehr gute oder gute Note, wenn ihnen in früherer Kindheit täglich vorgelesen worden war – auch hier wieder über alle sozialen Schichten hinweg. Außerdem gaben 86 Prozent der Schülerinnen und Schüler, denen täglich vorgelesen wurde, an, sich Dinge schnell merken zu können. Bei jenen, denen gar nicht oder nur selten vorgelesen worden war, waren es nur 45 Prozent. Zudem profitieren Kinder, denen viel vorgelesen wurde, womöglich auch in charakterlicher Hinsicht: 75 Prozent der Jungen und Mädchen mit viel Vorlesezeit wurden von ihrer Mutter als selbstbewusst beschrieben. Bei den anderen Kindern waren es nur 44 Prozent.

Die richtigen Worte finden – über Gefühle sprechen

Eine Forschungsgruppe um den Kinderarzt Alan Mendelsohn von der New York University School of Medicine zeigte anhand von 675 Familien: Kinder, denen vorgelesen wurde, sind eher in der Lage, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Daher falle es ihnen auch leichter, ihr Verhalten zu steuern, so die Wissenschaftler. Entsprechend ließen sich bei diesen Mädchen und Jungen weniger Verhaltensauffälligkeiten beobachten. »Neben der Sprachentwicklung fördert das Vorlesen auch die sozial-emotionale Entwicklung«, meint auch Ralph Radach. »Vorlesen unterstützt den Aufbau einer sozialen Bindung gewaltig. Darum fördert Vorlesen auch die Resilienz bei Kindern.«

Was genau passiert nun im Gehirn der Kleinen während der Gutenachtgeschichte? Und was ist anders, wenn wir sie nur vor den Fernseher setzen? Das untersuchte ein Team um den Pädiater John S. Hutton vom Cincinnati Children’s Hospital Medical Center. Es präsentierte 27 Vorschülern drei ähnliche Geschichten in unterschiedlichen Formaten: als reines Hörstück, als Hörstück begleitet von Illustrationen und als animiertes Video. Währenddessen erlaubte ein Magnetresonanztomograf (MRT) einen Blick in das Denkorgan der Kinder. Bei der illustrierten Geschichte waren Areale für die visuelle Wahrnehmung und die bildhafte Vorstellung am stärksten miteinander verknüpft, während Bereiche für die Verarbeitung von Sprache zwar aktiviert, aber nicht übermäßig belastet waren. Das reine Hörstück beanspruchte die Sprachzentren am stärksten, was die Autoren jedoch eher als Überforderung interpretieren: Ohne begleitende Bilder fehlten den Kindern offenbar die narrativen Stützrädchen, die ihnen die Reise durch das Abenteuer erleichtern. Beim Video, das gleich einen permanenten Strom an Bildern liefert, waren Hirnbereiche für die visuelle Wahrnehmung stark aktiviert, dafür verschiedene Hirnbereiche am wenigsten funktionell miteinander verknüpft. Areale für das Hören, Sehen, Verstehen und die Vorstellungskraft arbeiteten hier nicht so stark zusammen wie in den anderen Formaten. Diese neurowissenschaftlichen Erkenntnisse sieht das Team als Beleg dafür, dass das gemeinsame Lesen von Bilderbüchern Kinder im Vorschulalter optimal fordert und fördert.

Und Kinderbücher können sogar Zukunftswünsche beflügeln. Nachdem Vorschülern zwei Monate lang unter anderem »Pixi«-Bücher über Handwerkerinnen, Briefträger, Notärztinnen und Imker vorgelesen wurden, kannten die Mädchen und Jungen doppelt so viele Berufe wie zuvor. Vielleicht machen gute Geschichten es den Kleinen also auch im weiteren Leben leichter, neue Welten zu erobern.

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