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Waldschutz-Zertifikate: Die große Kompensationslüge

Erneut fallen Kohlenstoffdioxid-Zertifikate beim genauen Hinsehen durch. 26 untersuchte Kompensationsprojekte verhindern entweder keine Emissionen oder viel weniger als angegeben.
Drohnenaufnahme eines Waldes in Borneo, der zum Teil entwaldet wird
Selbst wenn gerodete Flächen wieder aufgeforstet werden sollten: Oft gehen Setzlinge in großer Zahl wieder ein, so dass die versprochene Kohlendioxidaufnahme gar nicht stattfindet. Zudem dauert es viele Jahrzehnte, bis die Bäume ihr Speicherpotenzial voll ausbilden.

Viele große Firmen schreiben sich das Label »klimaneutral« auf ihre Fahne – und wiegen die Kundinnen und Kunden in dem Glauben, dass sie mit dem Kauf der Produkte der Umwelt etwas Gutes tun. Die Idee dahinter: Unweigerlich anfallende Treibhausgasemissionen werden mit Umweltprojekten kompensiert. Diese Maßnahmen sollen beispielsweise gezielt tropische Regenwälder vor der drohenden Abholzung schützen, trockengelegte Moore wieder vernässen oder große Areale wieder aufforsten. Doch offenbar klingt das zu schön, um wahr zu sein. Schon im Mai 2023 hatte eine größere Recherche aufgedeckt, dass die meisten CO2-Zertifikate nichts als eine große Werbenummer sind.

Zum gleichen Schluss kommt nun eine Analyse von Waldschutzprojekten aus sechs südamerikanischen und afrikanischen Ländern, die von dem US-amerikanischen Unternehmen Verra zertifiziert sind. Für die in »Science« erschienene Studie wurden 26 so genannte REDD+-Programme (Reduced Emissions from Deforestation and Forest Degradation) von den Autorinnen und Autoren untersucht. Das ernüchternde Ergebnis: Nur etwa sechs Prozent der CO2-Zertifikate aus den untersuchten Projekten sind tatsächlich mit vermiedenen Emissionen verknüpft. Die meisten verhindern keine oder viel weniger Emissionen als angegeben. Darüber hinaus zeigen die Autoren, dass 18 REDD+-Projekte rund 62 Millionen Gutschriften für den Kohlenstoffausgleich generiert haben. Etwa 14,6 Millionen davon wurden bereits von Unternehmen auf der ganzen Welt zum Ausgleich ihrer Kohlenstoffemissionen verwendet. Den Schätzungen der Studie zufolge wurde mit diesen Projekten fast dreimal so viel Kohlenstoff kompensiert, wie sie tatsächlich zum Klimaschutz beigetragen haben. Weitere 47,7 Millionen Gutschriften sind noch auf dem Markt verfügbar. »Die Projekte sind ineffektiv für den Klimaschutz, aber ökonomisch effektiv für die Betreiber«, fasst Michael Köhl vom Institut für Holzwissenschaften der Universität Hamburg die Ergebnisse gegenüber dem Science Media Center (SMC) zusammen.

Zertifizierer wie Verra, die etwa drei Viertel aller Emissionen auf dem freiwilligen, nicht staatlichen Kompensationsmarkt bewerten, berechnen die Einsparungen, indem sie beispielsweise Abholzungstrends größerer Waldflächen in die Zukunft fortschreiben und so bestimmen, wie viel der Schutz einer Teilfläche bringt. Doch manche Kritiker bemängeln, dass es fast unmöglich ist, zu ermitteln, wie viele Emissionen ein Waldschutzprojekt tatsächlich einsparen wird, da nie sicher ist, was ohne das Projekt geschehen wäre. Ein weiteres Problem: Die Berechnungen sind für zehn Jahre festgelegt, auch wenn sich die Umstände ändern. Zudem würden oft Flächen gewählt, die ohnehin einfach zu schützen sind.

Gegenüber dem SMC stellt Jonas Hein vom German Institute of Development and Sustainability (IDOS) generell CO2-Kompensation durch Waldschutz in Frage. So würden Kohlenstoffmärkte auf der Annahme basieren, dass CO2 – ganz egal ob aus einem Kohlekraftwerk oder aus einem verbrannten Baum – eine gleichförmige Ware darstellt und somit der Schutz von Wäldern die fossilen Emissionen eines Kraftwerks neutralisieren kann. »Hier werden aus meiner Sicht jedoch Äpfel mit Birnen verglichen. Die Emissionen eines Kohlekraftwerks entstammen aus der Verbrennung von Millionen Jahre alter, hochkonzentrierter und fest gebundener Biomasse. Diese Emissionen würden ohne den Menschen nicht in die Atmosphäre gelangen«, sagt er. Wälder hingegen würden CO2 zunächst für deutlich kürzere Zeiträume binden und Emissionen können zum Beispiel durch politische Entscheidungen – wie die Umwandlung in Plantagen – oder Feuer unmittelbar in die Atmosphäre gelangen. »Waldschutzprojekte wären klimapolitisch vor allem dann effektiv, wenn sie auf Flächen umgesetzt würden, die tatsächlich unmittelbar vor der Entwaldung stehen, zum Beispiel in eine Plantage umgewandelt werden sollen.« Hier bestünden jedoch zwei Probleme: Erstens würden Flächen deswegen zu Plantagen umgewandelt, weil es eine steigende Nachfrage beispielsweise nach Palmöl gibt. Zweitens sind die Opportunitätskosten genau deswegen auf diesen Flächen besonders hoch.

Sind die Waldschutz-Zertifikate also generell gescheitert? »Es gibt eine Reihe unabhängiger akkreditierter Organisationen, die Zertifikate ausstellen«, sagt Sven Günter vom Institut für Waldwirtschaft des Johann Heinrich von Thünen-Instituts gegenüber dem SMC. Diese wären allerdings ebenfalls keine Gewähr für Erfolg, sondern lediglich eine bescheinigte Experteneinschätzung für wahrscheinlichen Erfolg. »Überspitzt formuliert sind Zertifikate im Waldbereich Wetten in die Zukunft – sowohl hinsichtlich vermiedener Entwaldung als auch hinsichtlich Aufforstung. Diese Wetten haben sehr unterschiedliche Gewinnchancen«, so der Experte.

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