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Mysteriöse Skelette: Wer starb am Knochensee?

Hoch oben im Himalaja finden sich um einen winzigen See die Knochen hunderter Toter. DNA-Analysen verraten nun Erstaunliches über die Toten - und eine offenbar fatale Reise.
Der Roopkund-See in Indien

Nur einen Monat ist der Roopkund-See auf über 5000 Meter Höhe einigermaßen frei von Schnee und Eis. Dann aber bietet sich dem Besucher ein wahrhaft schauriger Anblick: Tausende Knochen, teils noch mit anhaftendem Fleisch, lagern in und um den See. Schätzungen zufolge starben hier zwischen 600 und 800 Menschen. Der Zorn der Nanda Devi habe eine Pilgergruppe getroffen, erzählen sich die Einheimischen. König Jasdhaval und seine Frau hätten die hinduistische Berggöttin verärgert, sie hätten Tänzerinnen an den heiligen Ort gebracht, woraufhin Nanda Devi die gesamte Entourage des Monarchen mit Hagelkörnen so hart wie Eisen ums Leben brachte.

Alles nur Folklore? Aber wer starb dann wirklich am Roopkund-See? Dieser Frage gehen indische Forscher wie Niraj Rai vom Birbal Sahni Institute of Palaeosciences in Lucknow seit Jahren nach. Nun taten sie sich mit einem internationalen Team von Paläogenetikern zusammen, um gemeinsam anhand von 38 Knochenproben das Rätsel um die Identität der Toten zu lüften. Die Ergebnisse gibt es zum Nachlesen im Fachblatt »Nature Communications«. Erstaunliches fanden die Forscher heraus. Demnach hat die Legende vielleicht wirklich einen wahren Kern. Doch erzählt sie bei Weitem nicht die ganze Geschichte.

Tatsächlich sind die Toten überraschend alt, wenn auch nicht alle gleichermaßen: Zu mindestens zwei Zeitpunkten starben laut Radiokarbondatierung Menschen am Roopkund-See. Zum ersten Mal irgendwann zwischen den Jahren 700 und 1000. Und dann rund 1000 Jahre später um das Jahr 1800. Und während die Toten im ersten Fall aus einer Vielzahl von Gegenden Indiens zu stammen scheinen, kam die zweite Gruppe aus dem östlichen Mittelmeerraum – Griechenland oder Kreta wären aus genetischer Sicht passende Abstammungsorte. Ein weiterer Mann scheint die Europäer begleitet zu haben. Er starb ebenfalls um das Jahr 1800, zählte aber wohl Malaysier und Vietnamesen zu seinen Vorfahren.

Expeditionen an den Knochensee

Damit haben Forscher nun erstmals eine Ahnung davon, wer an dem Bergsee sein Leben aushauchte, auch wenn die Begleitumstände immer noch mysteriös sind. Klassische Untersuchungsmethoden hatten den Forschern bereits Jahre zuvor verraten, dass die Ansammlung der Leichname eine große Vielfalt aufweist. Es finden sich dort Männer ebenso wie Frauen, Junge wie Alte und Schmächtige wie Großgewachsene, deren Statur – so stellten seinerzeit die untersuchenden Anthropologen um Subhash Walimbe erstaunt fest – überhaupt nicht zum durchschnittlichen Körpertypus der Südasiaten passte. Gut möglich, dass sie unwissentlich auch einige Überreste jener Europäer zur Analyse ausgewählt hatten.

Die Überreste Hunderter Menschen | Mindestens zwei Menschengruppen starben am Knochensee – eine davon erst Anfang des 19. Jahrhunderts.

Nur zwei Personengruppen finden sich nicht im Fundspektrum: Frauen im Alter jenseits der 60 sowie Kinder und Jugendliche. Damit spricht alles dagegen, dass eine Armee an dem Bergsee zu Grunde ging, wie einige gemutmaßt hatten. In den Knochen ließen sich auch keine Krankheitserreger nachweisen, so dass wohl keine Seuche die Menschen dahinraffte – auch dies eine These, die zur Erklärung vorgebracht worden war.

Vermutlich, so fassen es die Wissenschaftler dann zusammen, waren die älteren Toten vor allem Pilger, die an der alle zwölf Jahre stattfindenden Nanda Devi Raj Jat teilnahmen. Der Pilgerweg verläuft in nicht allzu weiter Entfernung vom Roopkund-See. Gut möglich, dass Teilnehmer vor schwerem Wetter an den See flüchteten und dort erfroren. Eindeutige äußere Anzeichen für Gewalteinwirkung oder Unfälle zeigen die bislang untersuchten Skelette jedenfalls nicht. Die Radiokarbondaten lassen zu, dass es mehrmals zu solchen Ereignissen kam – anders als die Daten der jüngeren Skelette, die sich vergleichsweise eindeutig um denselben Mittelwert 1800 n. Chr. gruppieren, erbrachte die Altersbestimmung für die älteren Toten eine Zeitspanne als Ergebnis. Vielleicht forderte die Reise zum Schrein der Göttin wieder und wieder Opfer.

Wer liegt noch dort oben?

Historisch überliefert sei das Hindufest und die dazugehörige Pilgerfahrt erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, schreibt das Wissenschaftlerteam. Im Einklang mit der Kohlenstoffdatierung würden jedoch Inschriften in Tempeln der Region auf einen Beginn im 8. oder 10. Jahrhundert hinweisen.

Knochen über Knochen | Zahlreiche Besucher des Roopkund-Sees quer durch die Epochen haben die Knochen bewegt, zerstört und wohl auch mitgenommen. Archäologische Erkenntnisse sind dadurch schwer zu gewinnen.

Doch wer die Männer und Frauen waren, die um das Jahr 1800 in das zerklüftete Gebirge stiegen, verrät all das nicht. Die Isotopenzusammensetzung ihrer Knochen zeigte, dass ihre Ernährung eher der von Inlandsbewohnern entsprach als der von Küstenanrainern. Und auch aus der Genetik der 13 familiär nicht näher Verwandten lässt sich nicht ableiten, dass sie tatsächlich aus der Ägäis zu ihrer Himalajareise aufbrachen, sondern lediglich, dass ihre direkten Vorfahren von dort stammten.

Was verschlug sie an den Knochensee? Nahmen sie etwa als Verehrer der Hindugöttin ebenfalls an der Pilgerfahrt teil? Und wie viele aus ihrer Gruppe liegen noch am Roopkund-See? Unter den hunderten Individuen hatten die Forscher ihre Proben ja offenbar recht unsystematisch herausgesucht; zumindest verraten sie in ihrer Publikation nicht, nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgte. Offen ist auch, ob noch mehr Menschen wie der Mann aus Südostasien am Roopkund-See verstarben. Leider ist der Fundort an dem gerade einmal 40 Meter im Durchmesser großen See durch zahlreiche Besucher und häufigen Steinschlag stark gestört, so dass eine klassische archäologische Ausgrabung mit vertretbarem Aufwand nicht durchführbar erscheint.

Da macht die Suche in historischen Aufzeichnungen noch am ehesten Hoffnung auf des Rätsels Lösung. Eine Gruppe von Fremden, die Anfang des 19. Jahrhunderts in den Bergen auf Nimmerwiedersehen verschwand – das sollte doch in den Archiven Spuren hinterlassen haben. Dank der neuen genetischen Untersuchung wissen Forscher nun immerhin, wann und nach was sie dort suchen müssen.

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