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Einstellungen: Wie Minderheiten die Welt verändern

Vor 100 Jahren wurde der südafrikanische Freiheitskämpfer Nelson Mandela geboren; vor fünf Jahren ist er gestorben. Anlass für eine Rückschau auf ein halbes Jahrhundert psychologischer Experimente rund um die Frage, wie sich Minderheiten friedlich Gehör verschaffen können.
Aufmacherseiten von Zeitungen, am Tag nach dem Tod von Nelson Mandela 2013

Wie kann ein einzelner Mensch seine politischen Ideale gegen eine etablierte Macht durchsetzen und so ein ganzes Land zum Umdenken bewegen? Vor dieser Frage stehen alle Minderheiten, die die Gesellschaft, in der sie leben, verändern wollen. So schwierig das Unterfangen auch erscheint, ist es doch nicht unmöglich. Viele große Veränderungen in der Geschichte wurden von einzelnen Menschen oder kleinen Gruppen ausgelöst, die sich in einer schwachen Position befanden. Mitte des 20. Jahrhunderts etwa protestierte der Bürgerrechtler Martin Luther King (1929-1968) erfolgreich gegen die Rassentrennung in den USA. Auch die Frauenrechte wurden von einer Minderheitsbewegung durchgesetzt – wobei »Minderheit« nicht im Sinne der Zahl der Betroffenen zu verstehen ist, sondern im Sinne ihrer politischen Repräsentation. In beiden Fällen verschoben Menschen aus einer schwächeren Position heraus das gesellschaftliche Gleichgewicht zu Gunsten einer Gruppe, für die sie eintraten. Wie ihnen das gelingen konnte, wollen wir im Folgenden sozialpsychologisch erklären.

Erstens: An die eigenen Ideen glauben

Minderheiten haben zunächst einmal einen großen Nachteil: Sie schwimmen gegen den Strom. Der Mensch neigt dazu, sich am Mainstream zu orientieren, denn angesichts einer Mehrheit, die den gleichen Standpunkt vertritt, nehmen wir gerne eine mentale Abkürzung nach dem Motto: »Wenn die meisten dieser Meinung sind, muss da wohl was dran sein.« Und wenn wir doch anders denken, verschweigen wir das lieber und vermeiden es künftig, das Thema anzusprechen, aus Angst, verspottet oder aus einer Gruppe ausgeschlossen zu werden. Diese Tendenz bezeichnete der Psychologe Solomon Asch in den 1950er Jahren als »Compliance Bias« (in etwa: Neigung in Richtung eines konformen Urteils oder Verhaltens).

In seinen Experimenten ließ er Freiwillige beurteilen, ob eine Linie auf einem Bildschirm länger oder kürzer war als eine andere Linie. Was die jeweilige Versuchsperson nicht wusste: Die übrigen Teilnehmer waren Komplizen des Versuchsleiters und äußerten sich in einigen Fällen bewusst in eklatantem Widerspruch zur offenkundigen Länge der Linien. In dieser Situation folgten die Versuchspersonen häufig der Meinung der Mehrheit, auch wenn sie eigentlich zu einem ganz anderen Urteil gekommen wären.

Meinungen von Minderheiten wirken originell und mutig. Das macht die Argumente interessant

Dieses klassische Experiment demonstriert, welche Macht eine Überzahl anderer Meinungen ausüben kann. Wie also können Minderheiten ihre Meinung gegenüber einer Mehrheit durchsetzen? Ihr großer Vorteil: Sie erregen Aufmerksamkeit. Wer eine Minderheitenmeinung vertritt, erscheint originell und mutig, und das macht die Argumente interessant. Schließlich müssen diese besonders gut sein, wenn die Minderheit es wagt, der Mehrheit zu widersprechen. Denn das erscheint riskant, wie Hans-Peter Erb von der Universität Hamburg 2015 in einer Reihe von Experimenten demonstrierte. Darin legte er Probanden verschiedene Szenarien vor, zum Beispiel eine Abstimmung über den Bau eines Tunnels, und bat sie zu beurteilen, wie hoch die materiellen oder sozialen Risiken dafür wären, der Mehrheitsmeinung im betreffenden Szenario zu folgen oder ihr zu widersprechen. Erb stellte fest, dass das Risiko im Fall eines Widerspruchs höher eingeschätzt wurde.

Zweitens: Geduld haben

Der Einfluss von Minderheitenmeinungen entwickelt sich daher in der Regel latent, also nicht direkt von außen wahrnehmbar. Erst wecken die Positionen Interesse, dann macht man sich privat seine Gedanken, und dann fließen die Argumente langsam in eigene Überlegungen ein – manchmal so weit, dass die eigene Überzeugung ins Wanken gerät. Ein solcher Meinungswandel vollzieht sich unbewusst, verzögert und im Privaten.

Psychologen unterscheiden diese latenten von den manifesten Einflüssen, bei denen Veränderungen bewusst, unmittelbar und beobachtbar ablaufen. Solchen manifesten Einflüssen unterliegen wir, wenn wir uns an äußeren an Stelle unserer eigenen Normen orientieren. Etwa wenn eine Person die Straße auf einem Zebrastreifen überquert, sobald ein Polizeibeamter in der Nähe ist: Verschwindet der Polizist und damit der äußere Einfluss, hat die innere Einstellung wieder das Sagen, und an der hat sich ja nichts geändert.

Der latente Einfluss ist tiefer, nachhaltiger und überträgt sich leichter auf ähnlich gelagerte Situationen. Präventionskampagnen, die über Risiken aufklären, können eine solche Einstellungsänderung in Gang setzen. Der Fußgänger entscheidet sich dann nicht aus Angst vor dem Polizisten dafür, die Straße auf einem Zebrastreifen zu überqueren, sondern weil er sich selbst der Gefahren des Straßenverkehrs bewusst geworden ist.

Wenn wir uns der Meinung einer Minderheit anschließen, haben wir uns wirklich von ihr überzeugen lassen. Darin liegt ihre große Stärke

Wie tief dieser latente Einfluss greift, untersuchte der 2014 verstorbene französische Psychologe Serge Moscovici in den 1970er Jahren. In einem seiner Experimente ließ er Versuchspersonen in Sechsergruppen die Farbe von Dias beurteilen, die alle blau waren, aber unterschiedlich hell oder dunkel. In jeder Gruppe befanden sich zwei Komplizen des Forschers, die wiederholt behaupteten, die Dias wären grün. Eine Reihe von Teilnehmern bezeichneten daraufhin die offenkundig blauen Dias ebenfalls als grün, und einige von ihnen meinten wirklich Grün statt Blau zu sehen.

Wenn wir uns der Meinung einer Minderheit anschließen, haben wir uns demnach wirklich von ihr überzeugen lassen. Darin liegt ihre große Stärke. Anders beim Einfluss von Mehrheiten: Als Moscovici eine Überzahl von Komplizen die blaue Farbe für grün erklären ließ, folgten zwar einige Versuchspersonen ihrem Urteil. Doch insgeheim blieben sie bei ihrer Meinung. Die Minderheit gibt gegenüber einer Mehrheit nach, ohne die eigene Einstellung in Frage zu stellen.

Drittens: Nicht bedrohlich erscheinen

Für Minderheiten ist es daher kein Problem, Mitglieder und Gleichgesinnte auf ihrer Seite zu halten. Viel schwieriger ist es jedoch, neue Mitstreiter auf ihre Seite zu holen. Der Schlüssel liegt darin, der Mehrheit nicht das Gefühl zu geben, dass ihr die Minderheitenmeinung gefährlich werden könnte. Juan Pérez von der Universität Valencia und Gabriel Mugny von der Universität Genf glauben, dass eine gegensätzliche Meinung die Identität einer Gruppe bedrohen kann, zum Beispiel das Selbstverständnis einer Ethnie oder Nation.

Entscheidend sei dabei, das Gegenüber frei entscheiden zu lassen. Sonst droht eine Abwehrreaktion: Schon 1996 zeigten Juan Falomir von der Universität Genf und seine Mitarbeiter, dass eine Antitabakwerbung von Professoren einen größeren Einfluss auf rauchende Studenten hatte, wenn sie während des Experiments ihrem Laster frönen durften. Wurde ihnen hingegen das Rauchen untersagt, reflektierten sie die Werbebotschaft weniger und bekundeten vielmehr, die Freiheit haben zu wollen »zur Gruppe der Raucher zu gehören«.

Viertens: Eine gemeinsame Identität betonen

Der südafrikanische Freiheitskämpfer Nelson Mandela (1918-2013) war sich dieser Gefahren zweifellos bewusst. Stets suchte er zu verhindern, dass sich die machthabende weiße Bevölkerung durch seine Forderungen bedroht fühlen könnte. Er lud die Südafrikaner ein, sich unter einer Flagge zu vereinen, um so eine Verbindung zu schaffen zwischen seiner eigenen Gruppe und jener, die er beeinflussen wollte. Auf diese Weise machte er die Identität an der Nation fest und nicht an der ethnischen Herkunft, womit er die Trennung von Schwarz und Weiß abschwächte. Auch Martin Luther King verwies in seiner berühmten Rede »I Have a Dream« wiederholt auf die Nation und verband das Schicksal der Schwarzen mit dem der Weißen in Amerika. Auf diesem Weg gaben die beiden Männer den Gruppen in ihrem Land eine gemeinsame Identität.

Grabmal von Martin Luther King und seiner Frau Coretta Scott King in Atlanta | Der US-Bürgerrechtler wurde am 4. April 1968 in einem Hotel in Memphis erschossen und fünf Tage später auf einem Friedhof in Atlanta beerdigt.

Steigt das Zugehörigkeitsgefühl zu einer gemeinsamen Gruppe, wird die Position der Minderheit besser wahrgenommen, wie ein Experiment zeigte. 1997 konfrontierten Eusebio Alvaro und William Crano kalifornische Studierende mit einem Text, der gegen die Anwesenheit von Homosexuellen im Militär protestierte, was bei den Befragten zu jener Zeit bereits eine Minderheitenmeinung darstellte. Die Forscher gaben an, dass der Protest von anderen Studenten verfasst worden war, und zwar entweder an derselben oder an einer anderen Universität. Die Teilnehmer ließen sich allein vom Text der Studierenden ihrer eigenen Universität beeinflussen und sprachen sich daraufhin eher gegen Homosexuelle in der Armee aus. Sie veränderten ihre Meinung jedoch nicht, wenn der Protest von einer anderen Universität ausging. Wie dieses Beispiel zeigt, ist es nicht immer wünschenswert, dass sich ein Minderheitenstandpunkt durchsetzt.

Für die Minderheit zahlt sich die Strategie, sich einer Mehrheit anzuschließen, offenbar aus. Wie das Experiment weiter zeigte, erschien die Minderheit (die gegen Homosexuelle im Militär protestierte) sympathischer, wenn sie derselben Universität angehörte. Laut William Crano vermeiden Mehrheiten es oft, Minderheiten in ihrer Gruppe abzuwerten, um Letztere nicht durch den Ausschluss von Mitgliedern zu schwächen. Das erlaube einer Splittergruppe, sich frei und unzensiert zu äußern. Die Kehrseite ist, dass Minderheiten keinen unmittelbaren öffentlichen Meinungswandel seitens der Mehrheit einfordern sollten – dazu kommt es ohnehin äußerst selten. Crano geht von einem impliziten Handel aus: Als Gegenleistung dafür, dass sie ihre Meinung äußern darf, muss die Minderheit den Status quo weitgehend akzeptieren.

Unter solchen Bedingungen könnte eine Veränderung zunächst unmöglich erscheinen. Indem sie anderslautende Meinungen zulässt, setzt sich die Mehrheit jedoch deren schleichendem Einfluss aus: Alternativen zum Status quo werden diskutiert, Argumente gehört. Und selbst wenn abweichende Positionen schließlich einkassiert werden, existieren sie weiter in den Köpfen und setzen dort ihren Weg fort.

Fünftens: Beharrlich bleiben

Gründet eine Minderheit ihr Anliegen auf solide, berechtigte Argumente, kann sie auf die Mühlen der Zeit und einen späten Triumph hoffen – allerdings nur, wenn sie ihren Standpunkt nicht verändert. Moscovicis Experiment zeigte: Als die Komplizen nicht konsistent bei ihrem abweichenden Farburteil blieben, verloren sie an Einfluss. Eine Minderheit demonstriert Verlässlichkeit und Vertrauen in die eigenen Ansichten, indem sie ihre Position und ihre Argumente wiederholt.

Nelson Mandela war auch in dieser Hinsicht ein Vorbild. Nach 22 Jahren im Gefängnis und zu lebenslanger Haft verurteilt, bekam er 1985 seine Freilassung angeboten, sollte dafür aber auf einen bewaffneten Kampf verzichten. Er weigerte sich mit der Begründung, dass »nur ein freier Mann verhandeln kann«.

Allerdings sollte man Hartnäckigkeit nicht mit Starrsinn verwechseln. Wer seinen Standpunkt verteidigt, ohne andere Argumente oder eine neue Sachlage zu bedenken, läuft Gefahr, als unnachgiebig, dogmatisch oder gar bedrohlich wahrgenommen zu werden. Wahrscheinlich schloss die französische Politikerin Marine Le Pen deshalb – bemüht um ein gemäßigtes Image – die radikalsten Mitglieder aus ihrer rechtsextremen Partei aus. Das kann natürlich als Verrat an der Basis verstanden werden, weshalb Politiker in diesen Fällen den Diskurs gerne auf zwei Gleisen weiterführen.

Sechstens: Mit einer Stimme sprechen

Und noch eine letzte Voraussetzung braucht es, damit sich eine Minderheit Gehör verschaffen kann: Sie muss einen gemeinsamen Standpunkt vertreten und mit einer Stimme sprechen. Abspaltungen sind ein Luxus, den sich nur Mehrheiten leisten können. Dann aber können sie die Meinung der Mehrheit und einer gesamten Gesellschaft verändern, im Guten wie im Schlechten.

Der Freiheitskampf von Nelson Mandela hat fast ein halbes Jahrhundert angedauert und ihn als politischen Gefangenen ein gutes Vierteljahrhundert seines Lebens gekostet. Doch am Ende ist er mit seiner Idee – dem Anliegen einer Minderheit – zu einem Symbol geworden, das noch immer auf die ganze Welt ausstrahlt.

Dieser Beitrag ist im Original unter dem Titel »L'effet Mandela: Comment les minorités changent le monde« im französischen Psychologiemagazin »Cerveau et Psycho« erschienen.

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