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Ohrgeräusche: Wie Tinnitus entsteht

Wie der Phantomton bei Tinnitus entsteht, ist noch unklar. Ein neues Modell bietet nun eine schlüssige Erklärung – und weist neue Behandlungswege.
Tinnitus

Um Sie herum ist es still, doch plötzlich hören Sie etwas: ein leises Pfeifen. Der unangenehme Ton scheint von keiner Geräuschquelle in Ihrer Nähe auszugehen. Noch während Sie sich über seine Ursache wundern, röhrt ein Moped vorbei, und das Pfeifen ist, wenige Sekunden nachdem es begonnen hat, schon wieder verschwunden. Solche kurz andauernden akustischen Phantomwahrnehmungen hat wohl jeder schon einmal erlebt. Sie sind vollkommen normal, und üblicherweise schenken wir ihnen keine größere Beachtung. In manchen Fällen, etwa nach einem lauten Konzert, kann das Pfeifen jedoch bestehen bleiben und im Lauf der Zeit mitunter noch stärker werden – ein chronischer Tinnitus entsteht.

In Deutschland, Österreich und der Schweiz leidet rund jeder Siebte zumindest einmal im Leben unter den lang andauernden Phantomgeräuschen. Viele Betroffene entwickeln daraufhin Schlaf- und Konzentrationsprobleme, manche erkranken sogar an Depressionen. Eine Therapie, die an der Wurzel des Phänomens ansetzt, gibt es derzeit nicht. Die meisten Behandlungen zielen darauf ab, dass Patienten lernen, mit dem Tinnitus zu leben.

Um der Störung gezielt entgegenzuwirken, müssen wir erst mehr über ihre Ursachen herausfinden. Die neurophysiologischen Mechanismen, die Tinnitus bedingen, sind nur unzureichend erforscht. Unser Team arbeitet daran, das zu ändern. Unlängst ist es uns gelungen, ein Modell zu entwerfen, das die Entstehung der Phantomwahrnehmungen in ein neues Licht rückt – und darüber hinaus therapeutische Wege eröffnen könnte. Wir gehen davon aus, dass Tinnitus, egal ob vorübergehend oder chronisch, kein rein krankhaftes Phänomen darstellt. Das Pfeifen ist vielmehr ein Nebeneffekt eines Mechanismus, der die Hörfähigkeit verbessern soll.

Bereits seit Jahrzehnten ist bekannt, dass Tinnitus oft mit Schwerhörigkeit einhergeht. Ein durch dauerhaftes Tragen von Ohrstöpseln simulierter Hörschaden lässt selbst viele gesunde Probanden vorübergehend Phantomtöne hören. Sobald sie die Ohrstöpsel entfernen, verschwindet dieser künstlich erzeugte Tinnitus. Ähnlich ergeht es Patienten mit Hörgerät oder Cochleaimplantat. Ist das Gerät an, verstummt ihr Tinnitus manchmal komplett. Wird die Prothese nachts zum Laden der Batterie ausgeschaltet, kommt der unangenehme Ton aber häufig zurück, um nur wenige Sekunden nach dem Wiedereinschalten erneut zu verebben.

Forscher nutzen dieses Wissen, um Tinnitus bei Versuchstieren auszulösen und zu untersuchen. Dazu setzen sie Nagetiere unter Narkose einem Schalltrauma aus. Das schädigt das Gehör und lässt bei vielen der Tiere Verhaltensanzeichen von Tinnitus entstehen. Ein Forscherteam um den Neurophysiologen M. Charles Liberman von der Harvard Medical School zeigte 2009, dass bereits ein mildes Schalltrauma akustische Sensoren im Innenohr beeinträchtigt. Es zerstört nämlich jene Synapsen, die geräuschempfindliche Haarzellen mit den Nervenzellen des Hörnervs verbinden. Auch im Lauf natürlicher Alterungsprozesse gehen diese Verknüpfungen zusehends verloren.

Die Gruppe um Liberman belegte, dass der gleiche Prozess den »versteckten Hörverlust« bedingt. Davon betroffene Personen schneiden zwar im klassischen Reinton-Hörtest nicht schlechter ab als gut hörende Menschen. Ihr Sprachverständnis ist aber in Umgebungen mit vielen Nebengeräuschen, etwa auf einer Party, bereits stark beeinträchtigt. Die übrig gebliebenen, intakten Synapsen reichen noch aus, um einfache akustische Signale ins Gehirn zu übertragen; ihre Hörschwellen bleiben deshalb unauffällig. Komplexere Informationsmuster – wie die Stimme einer Person in einem Durcheinander von dutzenden – kann das Gehirn jedoch nur zuverlässig entschlüsseln, wenn ein Großteil der Synapsen intakt ist. Hier haben Menschen mit verstecktem Hörverlust Probleme. Bei ihnen tritt zudem gehäuft Tinnitus auf: Der Biophysiker Roland Schaette vom University College London zeigte 2011 mit einer Computersimulation, dass versteckter Hörverlust allein bereits ausreicht, um das Dauerfiepen auszulösen – die beiden gehen also oft Hand in Hand.

Daneben zeichnet sich Tinnitus durch einen weiteren Faktor aus: Bei Betroffenen sind Nervenzellen an nahezu allen Stationen der Hörbahn aktiver als bei Personen ohne Tinnitus. Ihre Neurone feuern öfter spontan und reagieren empfindlicher auf äußere Reize. Jedes Modell, das erklären will, wie Tinnitus entsteht, sollte deshalb berücksichtigen, wie Phantomton, Schwerhörigkeit und erhöhte Nervenzellaktivität zusammenhängen.

Ein klassischer Erklärungsansatz dafür ist das Modell der lateralen Inhibition. Es basiert auf der Tatsache, dass benachbarte Nervenzellen sich gegenseitig hemmen können. Dabei unterdrückt ein Neuron die umliegenden umso mehr, je aktiver es selbst wird; das erhöht den Kontrast im Signal, weil es den Reiz besser vom Hintergrundrauschen abhebt. In den sensorischen Systemen im Gehirn – jenen Schaltkreisen, die Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tastgefühl vermitteln – verarbeiten nah beieinanderliegende Neurone oft vergleichbare Reize. Zum Beispiel reagieren benachbarte Haarzellen im Innenohr auf ähnliche Frequenzen.

Demzufolge entsteht Tinnitus, weil Töne in einem bestimmten Frequenzbereich nicht mehr verarbeitet werden, etwa auf Grund eines Hörschadens. Jene Zellen, die Geräusche in diesem Spektrum abdecken, hemmen ihre Nachbarn dann weniger. Indirekt aktiviert das Neurone, die angrenzende Frequenzen wahrnehmen. Dieses Phänomen wird als Disinhibition bezeichnet und bedingt in dem Modell die bei Tinnitus beobachtete neuronale Überaktivität. An jeder Station entlang der Hörbahn wird das Signal weiter verstärkt. Bringt es Neurone im auditorischen Kortex zum Feuern, nehmen Betroffene die Aktivität als Phantomton wahr.

Das Modell liefert zwar eine Erklärung dafür, wie innerhalb von Minuten oder gar Sekunden ein vermeintliches Pfeifen entstehen kann. Träfe es zu, sollten Betroffene aber zwei verschiedene Tinnitustöne gleichzeitig hören – einen, der in der Tonhöhe über, und einen, der unter dem vom Hörschaden betroffenen Frequenzbereich liegt. Praktisch alle Erkenntnisse in der Tinnitusforschung widersprechen dieser Vorhersage.

Mangelhafte Modelle

Ein zweites gängiges Modell erklärt Tinnitus mit homöostatischer Plastizität. Laut der zentralen Hypothese versucht das Gehirn einen Hörverlust über einen adaptiven Mechanismus auszugleichen. Gelangen über längere Zeit weniger Reize ins Hörsystem, passen sich die Neurone daran an, indem sie ihre Erregbarkeitsschwelle senken, so dass die durchschnittliche Aktivität in der Hörbahn etwa gleich hoch ist wie vor dem Hörverlust. Als Nebeneffekt werden die Zellen anfälliger für erhöhte Spontanaktivität, die dann – so die Hypothese – als Tinnitus wahrgenommen wird. Weil ein solcher Anpassungsprozess Stunden bis Tage dauert, kann dieses Modell aber nicht erklären, wie ein Tinnitus unmittelbar nach dem Besuch eines Rockkonzerts entsteht. Beide Modelle bilden die tatsächliche Situation also nur unvollständig ab und machen zudem falsche Vorhersagen.

Als wir 2014 in Berlin an einer Konferenz zum Thema Tinnitus teilnahmen, kam eine Frage wiederholt auf: Wie kommt es zu der beobachteten erhöhten Nervenzellaktivität? Schließlich dringen nach einem Hörschaden weniger Signale ins Hörsystem. Die Neurone der Hörbahn reagieren darauf paradoxerweise mit stärkerem Feuern. Das zu der Zeit bereits bekannte Erklärungsmodell der homöostatischen Plastizität ließ offen, woher das Hörsystem wissen sollte, wie sehr es Signale verstärken muss, damit diese das »gewünschte« Aktivitätslevel erreichen. Wie war Letzteres überhaupt definiert? Niemand hatte eine plausible Antwort.

Kurz erklärt:

Rauschen

Die Physik definiert Rauschen als zufällige Abfolge von Signalen einer beliebigen messbaren Größe. Beispiele hierfür sind kleine Luftdruckschwankungen (akustisches Rauschen) oder das spontane Feuern eines Neurons (neuronales Rauschen).

Stochastische Resonanz

ein in der Natur allgegenwärtiges Phänomen, das auf Reizschwellen beruht. Diese treten auf, wenn ein Signal an sich zu schwach ist, um gemessen zu werden. Wird ein solches Signal mit Rauschen überlagert, kann es dadurch detektierbar werden. Für das jeweilige Rauschen gibt es eine optimale Intensität, bei der die Übertragung des Signals am besten funktioniert. Diese Intensität hängt von gewissen Eigenschaften des Systems, der Schwelle und des Signals ab.

Einem von uns (Krauss) kam während einer Kaffeepause der entscheidende Geistesblitz. Was, wenn ein weiterer Mechanismus – die stochastische Resonanz – beteiligt war? Sie macht ein Signal, das für dessen Sensor zu schwach ist, durch Hinzufügen von Rauschen messbar (siehe »Wie stochastische Resonanz funktioniert«). Ist die Summe aus Signal plus Rauschen groß genug, erkennt der Sensor das Signal. Das »Rauschen« ist bei Neuronennetzen eine beliebige Nervenaktivität. Sie trägt entweder keine Information oder eine, die vom zu messenden Signal unabhängig ist. Für ein solches Rauschen gibt es eine optimale Intensität. Denn: Ist es zu gering, erreicht ein schwaches Signal nur unzuverlässig die Detektionsschwelle; ist es zu groß, versinkt das Signal darin, und die Information geht auch verloren.

Noch bevor die Kaffeepause zu Ende war, hatten wir die Idee im Groben ausgearbeitet: Das Hörsystem könnte prinzipiell stochastische Resonanz nutzen und den Pegel des Rauschens mit einem gesonderten Regelkreis steuern. Der würde die Informationsübertragung von der Hörschnecke ins Gehirn überwachen und bei Bedarf die Stärke des Rauschens anpassen. Kämen also über die Haarzellen weniger Signale in das Hörsystem, etwa nach einer Schädigung des Innenohrs, würde der von uns postulierte Regelkreis dem akustischen Signal mehr »inneres« Rauschen beimischen. Die stochastische Resonanz würde das Signal verstärken und den Hörverlust so teilweise kompensieren. Das beigemischte Rauschen führt demzufolge zur neuronalen Überaktivität, die letztlich als Tinnitus wahrgenommen wird. In wenigen Minuten hatten wir einen neuen Erklärungsansatz für die Störung skizziert. Er erklärt das Pfeifen nicht mehr allein als krankhafte Fehlanpassung des Gehörs. Vielmehr wäre es der Nebeneffekt eines Mechanismus, der dem Hörschaden entgegenwirkt und die Hörleistung zu verbessern versucht.

Bevor wir unser Modell in einer Fachzeitschrift veröffentlichen konnten, mussten wir einige entscheidende Fragen klären. Darunter: Kann der Regelkreis überhaupt zumindest im Prinzip funktionieren? Falls ja, wo und wie ist er im Hörsystem realisiert? Welche Vorhersagen ergeben sich aus unserem Modell? Und halten sie einer Überprüfung stand?

Test mit Hindernissen

Um unsere theoretischen Überlegungen zu testen, simulierten wir das Modell zuerst am Computer. Dabei stießen wir schnell auf ein grundsätzliches Problem: Der Regelkreis müsste die Stärke des Rauschens ständig an die aktuelle Geräuschkulisse anpassen, um die Informationsübertragung von der Hörschnecke ins Gehirn zu optimieren. Doch wie bestimmt er den Informationsgehalt eines unbekannten, sich ständig verändernden Signals? Gemeinsam mit Claus Metzner, Biophysiker an der Universität Erlangen-Nürnberg, fanden wir eine mögliche Lösung. Eine bestimmte statistische Eigenschaft des gemessenen Signals, die Autokorrelation, ist umso stärker ausgeprägt, je mehr Informationsgehalt das Signal trägt. Diese Eigenschaft kann in speziellen neuronalen Netzen leicht erkannt werden. Somit war das Hörsystem zumindest theoretisch in der Lage, die notwendigen Informationen zu sammeln. Unklar blieb, wo genau im Hörsystem das passierte und welche Struktur das Rauschen einspeisen könnte.

Wie stochastische Resonanz funktioniert

Wir durchsuchten die Literatur nach möglichen Kandidaten und wurden schnell fündig: Der dorsale cochleare Nukleus (DCN), was so viel bedeutet wie »hinterer Hörschneckenkern«, schien der optimale Kandidat für diese Aufgabe. Zusammen mit dem vorderen Hörschneckenkern bildet er die erste Station im Hörsystem. Wie andere Etappen der Hörbahn ist auch der DCN so organisiert, dass ähnliche Tonhöhen in räumlich benachbarten Zellen verarbeitet werden.

Bereits zwischen 1998 und 2004 veröffentlichte James Kaltenbach, damals an der Wayne State University, mehrere Fachartikel, die den DCN als ersten Ort in der Hörbahn identifizierten, der bei Tinnitus überaktiv ist. Der Neurobiologe entdeckte, dass nur bestimmte Teile des DCN betroffen waren. Diese verarbeiten genau die Frequenzbereiche, die das Schalltrauma in Mitleidenschaft gezogen hat. Die spontane Aktivität der Neurone zeigte starke Ähnlichkeit zu der, die durch einen äußeren Ton hervorgerufen wird. Zudem fand Kaltenbach heraus, dass die Tonhöhe des Tinnitus sich mit der Frequenz deckt, die die überaktiven Zellen im DCN verarbeiten. Der Phantomton wird als umso lauter wahrgenommen, je aktiver diese Neurone sind.

Wenn die stochastische Resonanz hier stattfindet, braucht der DCN eine Quelle für das Rauschen. Als Kandidat boten sich Neurone aus dem somatosensorischen System an, die ebenfalls mit dem Nervenkern verknüpft sind. Sie vermitteln Oberflächen- und Tiefenwahrnehmung, etwa Berührungs- und Tastempfindungen, aber auch Informationen zu Muskeldehnung und Gelenkstellung. Bisher war unklar, welchen Zweck die Verbindung von somatosensorischen Neuronen zum DCN erfüllen könnte. Uns erscheint plausibel, dass ihre Signale dem Hörsystem als Rauschen dienen. Die ständige Aktivität im somatosensorischen System erzeugt nämlich einen kontinuierlichen Strom von Nervenimpulsen, der praktisch völlig unabhängig von den Signalen aus der Hörschnecke ist.

Der Neurophysiologe David Ryugo, der damals an der Johns Hopkins University School of Medicine forschte, fand 2003 heraus, dass die somatosensorischen Nervenbahnen in den DCN von den dort ansässigen Nervenzellen in der Regel stark gehemmt werden. Für unsere Regelkreis-Hypothese erscheint das sinnvoll: Im Fall eines zu schwachen akustischen Eingangs würden sie enthemmt. Genau das hat die Audiologin Susan E. Shore von der University of Michigan in Ann Arbor im DCN von Meerschweinchen beobachtet. Darüber hinaus entdeckte David Ryugo in dem Nervenkern einen speziellen Neuronentyp, bei dem jeweils mehrere Fasern aus der Hörschnecke und dem somatosensorischen System zusammenlaufen. Unserer Ansicht nach findet in diesen Zellen die stochastische Resonanz statt.

Wie bestimmt man Tinnitus bei Tieren?

Ob ein Versuchstier möglicherweise Tinnitus hat, wird durch einen Schreckreflextest überprüft. Der Schreckreflex ist angeboren und bewirkt, dass ein Tier zusammenzuckt, wenn es ein lautes Geräusch hört. Tritt kurz vor dem Knall ein Warnreiz auf, wird der Schreckreflex unterdrückt. Als Warnreiz kann eine kurze Lücke in einem leisen Hintergrundrauschen verwendet werden, also ein kurzer Moment der Stille. Eine Maus mit Tinnitus hört während der Lücke weiterhin den Tinnituston. Die Lücke wird also schlechter wahrgenommen, und der Schreckreflex bleibt stärker erhalten. Vergleicht man, wie sehr das Tier vor und nach einem Schalltrauma auf diesen Test reagiert, kann man damit auf einen Tinnitus schließen.

Dass das Hörsystem und das somatosensorische System über den DCN miteinander verbunden sind, hat einige erstaunliche Konsequenzen. Beispielsweise lässt sich die Tinnituswahrnehmung allein durch ein Zähnezusammenbeißen verstärken. Eine Erklärung dafür ist mit unserem Modell recht schnell gefunden. Der Druck auf die Zähne und das Zahnfleisch erhöht die somatosensorische Aktivität und erzeugt so mehr Rauschen im auditiven System. Manche Patienten berichten, dass ihr Tinnitus scheinbar von chronischen Verspannungen – vor allem im Bereich der Kiefer-, Nacken- und Schultermuskulatur abhängt. Ihnen hilft eine geeignete Physiotherapie am besten dabei, die Beschwerden zu lindern oder ganz loszuwerden.

Den wohl merkwürdigsten Effekt, der sich aus unserem Modell ableiten lässt, beschrieb kürzlich der Physiologe Juan Huang. Er und seine Gruppe von der Johns Hopkins University in Baltimore testeten 2017 die Hörschwellen von Personen, die ein Cochleaimplantat erhalten hatten. Als die Forscher die Fingerkuppen der Probanden elektrisch reizten, stellten sie fest: Den Patienten fiel es nun leichter, Gesprochenes zu verstehen!

Unser Modell begreift Tinnitus als Nebeneffekt eines Mechanismus, der Hörschwellen verbessert. Zusammen mit unserem Kollegen Ulrich Hoppe von der HNO-Klinik Erlangen überprüften wir diese Vorhersage. Mit Daten von fast 40 000 hörgeschädigten Patienten belegten wir, dass Menschen mit Tinnitus tatsächlich im sprachrelevanten Frequenzbereich niedrigere Hörschwellen als jene ohne Tinnitus hatten. Der Unterschied betrug im Mittel etwa sechs Dezibel.

Schon 1996 hatte Lutz Wiegrebe von der Ludwig-Maximilians-Universität München eine Beobachtung gemacht, die unsere These stützt. Er untersuchte, wie die »Zwickerton«-Illusion das Hörvermögen gesunder Probanden beeinflusste. Um diesen Phantomton zu erzeugen, lässt man Probanden für etwa eine Minute einem akustischen Rauschen lauschen, dem bestimmte Frequenzen fehlen. Unmittelbar danach nehmen die meisten Menschen für einige Sekunden ein leises Pfeifen wahr, dessen Tonhöhe in der Mitte des »stummen« Bereichs liegt. Wiegrebe zeigte, dass während der Wahrnehmung eines Zwickertons die Hörschwellen für Geräusche mit ähnlicher Frequenz wie der des Zwickertons um bis zu 13 Dezibel verbessert sind. Unser Modell erklärt das so: Das Hörsystem bemerkt das Fehlen eines Frequenzbereichs, woraufhin es das interne Rauschen in diesem Bereich erhöht. Der Betroffene nimmt das als Zwickerton wahr. Zudem reagiert sein Gehör durch das verstärkte innere Rauschen empfindlicher auf Geräusche im entsprechenden Frequenzbereich.

Heilsames Rauschen

Vielleicht tröstet Tinnituspatienten der Gedanke, dass ihr Leiden nicht nur negative Aspekte besitzt. Darüber hinaus weist unser Modell auch den Weg zu möglichen neuen Behandlungsstrategien. Bereits im Jahr 2000 fand ein Forscherteam um den Ingenieur Fan-Gang Zeng von der University of California in Irvine heraus, dass sich die Hörschwellen von normal hörenden Probanden verbessern lassen, wenn diese akustischem Rauschen ausgesetzt werden. Stimmt unser Modell, könnte ein derartiges »äußerliches« Rauschen unter Umständen das innere ersetzen und damit dem Tinnitus entgegenwirken. In der Tat belegten Tierstudien der Gruppe um den Neurobiologen Karl Kandler von der University of Pittsburgh in Pennsylvania kürzlich genau das. Die Forscher beschallten eine Gruppe von Mäusen unmittelbar nach deren Schalltrauma sieben Tage lang mit akustischem Rauschen bei Zimmerlautstärke. Lediglich zwölf Prozent der so behandelten Nager entwickelten Tinnitus. Zum Vergleich: In der Kontrollgruppe waren es rund viermal mehr Tiere, also knapp 50 Prozent. Wir testen einen ähnlichen Ansatz gerade an menschlichen Patienten und warten nun auf erste Resultate.

Bis wir diese ausgewertet haben, können Sie selbst ein kleines Experiment machen: Wenn Sie in einer ruhigen Minute plötzlich ein leises Pfeifen hören, beißen Sie doch einmal fest Ihre Zähne zusammen. Achten Sie darauf, wie der Ton daraufhin lauter wird!

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