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Ängste und Sorgen: Wie wir mit Unsicherheit besser umgehen

Ob es um den Brexit, den Klimawandel oder die eigene berufliche Zukunft geht: Ungewissheit macht vielen Menschen Angst. Der Psychologe Ulrich Stangier von der Goethe-Universität in Frankfurt am Main erklärt, wie wir uns mit ihr arrangieren können.
Frau balanciert auf Baumstamm

»Nichts in dieser Welt ist sicher außer dem Tod und den Steuern«, schrieb der amerikanische Staatsmann Benjamin Franklin. Das war im Jahr 1789. Seither scheinen die Unwägbarkeiten weltweit eher zu- als abgenommen zu haben. Viele der großen Konflikte unserer Zeit verlaufen chaotisch und sind nur schwer vorhersehbar. Dazu gesellen sich private Quellen von Ungewissheit: Wir können jederzeit plötzlich unseren Job verlieren, unheilbar krank werden oder einen geliebten Angehörigen verlieren. Wie kommen wir mit diesen Unsicherheiten zurecht, ohne die Nerven zu verlieren?

Der klinische Psychologe Ulrich Stangier spricht im Interview über krank machende Sorgen, Therapieansätze mit buddhistischer Tradition – und darüber, wie wir aus Ungewissheiten hin und wieder auch Genuss schöpfen können.

Ich lebe in einem friedlichen Land, bin krankenversichert und habe einen festen Mietvertrag. Kenne ich als weißer Mitteleuropäer überhaupt echte Unsicherheit?

Ulrich Stangier: Es stimmt, hier in Deutschland leben wir unter vergleichsweise sicheren Bedingungen. Weltweit ist das eher die Ausnahme. Aber auch in unserem Leben gibt es Phasen großer Unsicherheit: wenn sich die Lebensumstände ändern, bei Prüfungen, Umzügen, Trennungen, bei Umwälzungen im Büro, beim Übergang ins Rentenalter, im Krankheitsfall.

Warum können wir das Ungewisse oft so schlecht aushalten?

Menschen haben ein fundamentales Bedürfnis nach einer geordneten und sicheren Welt. Wir wollen Kontrolle über unser Leben, ganz besonders in bedrohlichen Situationen. Unsere Wahrnehmung von persönlicher Kontrolle ist allerdings recht unterschiedlich ausgeprägt.

Ulrich Stangier | ist Professor für Klinische Psychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Dort forscht er unter anderem zur kognitiven Psychotherapie, etwa bei sozialen Ängsten oder Störungen des Körperschemas. Außerdem leitet er eine psychosoziale Beratungsstelle für traumatisierte Flüchtlinge. In einem Pilotprojekt untersucht er, wie westliche Therapiekonzepte an die Bedürfnisse geflüchteter Patienten besser angepasst werden können.

Vieles, was uns widerfährt, lässt sich kaum kontrollieren.

Søren Kierkegaard und andere Existenzphilosophen sahen die Unsicherheit als eine der Grundbedingungen des Lebens an. Menschen gehen damit aber unterschiedlich um. Manche akzeptieren diese basale Unsicherheit und sagen beispielsweise: »Wie mein Tod werden wird, das sehe ich dann schon. Ich lasse es auf mich zukommen.« Andere erleben große Angst und setzen sich mit dem Thema bereits vorher intensiv auseinander.

An Ihrem Lehrstuhl forschen Sie auch zu Therapiemöglichkeiten für traumatisierte Geflüchtete, etwa aus Afghanistan. Wie gehen diese Patienten mit ihren Unsicherheiten um?

Gerade afghanische Asylbewerber haben oft schlechte Chancen, einen sicheren Aufenthaltsstatus zu bekommen. Das heißt: Sie wissen nicht, ob oder wann sie das Land wieder verlassen müssen – und wie gefährlich die Rückkehr in ihre Heimat wäre. Das führt zu enormem Stress, der für viele Geflüchtete kaum auszuhalten ist. Einigen von ihnen bleibt als einziges Ventil die Vorstellung, sich das Leben zu nehmen, wenn eine Abschiebung droht.

Ändert sich die Situation, wenn die Frage um den Aufenthaltsstatus einmal geklärt ist?

Es existieren weitere Quellen der Ungewissheit: Wie geht es meinen Verwandten? Werde ich sie nach Deutschland holen können? Diese leben ja oft immer noch in der bedrohlichen Umgebung. Selbst wenn die Geflüchteten in Deutschland bleiben können und die Familie nachziehen darf, stellt sich für sie die Frage: Wie komme ich in meiner neuen Umgebung zurecht? Die Geflüchteten müssen eine neue Sprache lernen, sich an neue Umgangsregeln gewöhnen. Hier konzentrieren sich verschiedene Unsicherheiten in einer dramatischen Weise, die für Mitteleuropäer der Nachkriegsgenerationen nicht mehr nachvollziehbar ist.

Von welchen psychischen Problemen berichten die Patienten?

Einige von ihnen haben Folter oder Vergewaltigung erlebt – oder dass Angehörige vor ihren Augen exekutiert wurden. Sie mussten ihre geordnete Existenz aufgeben und stehen plötzlich vor dem Nichts. Sie haben das Gefühl, ihr Leben nicht mehr in gewohnter Weise bestimmen zu können. Das hinterlässt einen Bruch in der Identität. Solche Traumatisierungen können verschiedene psychische Störungen nach sich ziehen, am häufigsten ist aber die Depression. Tatsächlich sehen wir in unserer Beratungsstelle mehr Geflüchtete mit depressiven Verstimmungen als etwa mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung.

»Bei Geflüchteten konzentrieren sich verschiedene Unsicherheiten in einer dramatischen Weise, die für Mitteleuropäer der Nachkriegsgenerationen nicht mehr nachvollziehbar ist«

Was geschieht in der Therapie?

Eines der Ziele ist es, durch Erlernen von Problemlösetechniken wie auch durch Meditation das Gefühl von Kontrolle wiederherzustellen. Genauer gesagt: von partieller Kontrolle. Bestimmte Dinge kann ich durchaus beeinflussen, jedoch nur im Hier und Jetzt. Ungewissheit zu akzeptieren heißt, sich auf die aktuelle Situation zu konzentrieren. Ich kann auf mein Wohlbefinden und meine Gesundheit achten, Energie sammeln, das Leben wieder angehen.

Gibt es andere psychische Störungen, bei denen Ungewissheiten eine zentrale Rolle spielen?

Einige Menschen haben große Probleme, Unsicherheiten zu tolerieren – und reagieren mit der Strategie, sich permanent Sorgen zu machen. Sie wollen darauf vorbereitet sein, dass eine Katastrophe über ihr Leben hereinbrechen könnte – etwa, dass sie eine unheilbare Krankheit entwickeln, ihrem Kind etwas zustößt oder sie ihren Job verlieren. Diese Sorgen können eine ganz eigene Dynamik entwickeln. Wenn ein Mensch permanent damit beschäftigt ist, was alles Furchtbares geschehen könnte, spricht man von einer generalisierten Angststörung.

Oft sind Sorgen aber ziemlich nützlich – weil sie uns beispielsweise motivieren, Gefahren abzuwenden. Woran erkenne ich, dass die Sorgen selbst zum Problem werden?

Es kommt auf das Ausmaß an. Natürlich gibt es hin und wieder Tage, an denen uns intensive Zukunftsängste plagen oder wir lange über die Vergangenheit grübeln. Es kann auch mal sein, dass das über Tage anhält. Doch wenn die Sorgen über Monate hinweg unseren Alltag bestimmen, unser Verhalten oder unsere körperliche Verfassung massiv beeinflussen – dann sind die Auswirkungen so schwer, dass man von einer psychischen Störung spricht.

Sich ständig zu sorgen, belastet Menschen mit generalisierter Angststörung also enorm. Warum tun sie es dennoch?

Der Gewinn ist für Außenstehende nicht auf den ersten Blick erkennbar. Für die Betroffenen folgen die Sorgen allerdings einer gewissen Logik. Sie stellen sich zum Beispiel vor, dass es morgens an der Tür klingelt und ein Polizist ihnen mitteilt, ihr Kind sei bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Die Annahme ist hier: Sollte es wirklich einmal passieren, kommt es wenigstens nicht unerwartet. Der große Schock bliebe also aus. Dieser Gedanke beruhigt zunächst. Außerdem versuchen sie oft alles, um das Eintreten der Katastrophe zu verhindern: etwa, indem sie ihr Kind dauernd kontrollieren und alles tun, damit es nicht bei Rot die Straße überquert.

»Viele sorgen sich sogar um das Sorgenmachen selbst«

Welche Folgen hat das für die Patienten?

Viele sind permanent angespannt und klagen über körperliche Beschwerden, mit denen sie dann zum Arzt gehen – ohne dabei den Zusammenhang mit ihren Sorgen zu erkennen. Sie erleben die Sorgen selbst als bedrohlichen Verlust der Kontrolle über sich selbst und denken: Die Art, wie ich mir Sorgen mache, lässt sich ja gar nicht mehr abstellen. Viele sorgen sich sogar um das Sorgenmachen selbst. Da entsteht ein Teufelskreis, die negativen Erwartungen verstärken sich gegenseitig. Man spricht hier von Metasorgen.

Was hilft den Betroffenen, diese exzessiven Sorgen wieder in den Griff zu bekommen?

Ein Ansatz besteht darin, sich dem Vermiedenen in der Therapie zu nähern. Tatsächlich vermeiden es Patienten mit generalisierter Angststörung häufig, sich mit ihren Emotionen zu konfrontieren.

Aber malen sich die Betroffenen nicht ohnehin ständig mögliche Katastrophen aus?

Sie beschäftigen sich gedanklich mit den Ereignissen, sie tun es jedoch nur oberflächlich. Sie vermeiden es beispielsweise, sich die Katastrophe bildhaft vorzustellen und auch die eigenen Gefühle, die mit der Katastrophe verbunden sind. Genau das öffnet für sie in der Therapie jedoch einen Weg, sich mit den Befürchtungen auseinanderzusetzen. Indem sie konkret nachvollziehen, was für ein Gefühl das ist, erfahren sie etwas über Möglichkeiten der Bewältigung. Das durchbricht den Teufelskreis der Vermeidung.

Gibt es weitere Ansätze, die Menschen mit generalisierter Angststörung helfen?

Häufig profitieren Betroffene von einem Achtsamkeitstraining. Das bedeutet, sich weniger mit abstrakten Befürchtungen zu plagen und sich stattdessen mehr mit der Gegenwart zu beschäftigen – also wie ich mein Leben im Hier und Jetzt wahrnehme. Dem Dalai Lama wird der Ausspruch zugeschrieben: »Es gibt nur zwei Tage im Jahr, an denen man nichts tun kann. Der eine ist gestern, der andere morgen.« Sich permanent mit »Was wäre wenn«-Szenarien auseinanderzusetzen, ist im Grunde müßig. Dadurch kann man mögliche Unglücksfälle meist ohnehin nicht ausschließen.

Viele Menschen fürchten sich vor sehr Unwahrscheinlichem, etwa vor Terroranschlägen. Alkohol und Tabak werden hingegen gern verharmlost, obwohl sie hier zu Lande wesentlich mehr Todesopfer fordern. Warum sind wir so irrational in unseren Befürchtungen?

Ängste können sehr intensiv sein, auch wenn die Bedrohung extrem unwahrscheinlich ist. Angst ist eine Emotion, die unser Überleben sichern soll, aber sie bildet keine statistische Wahrscheinlichkeit ab, mit der ein solches Ereignis möglich ist. Emotionen sind in der Evolution wie auch in der individuellen Entwicklung des Menschen früher angelegt als die Fähigkeit zur rationalen Bewertung, weil sie uns schützen sollen; deshalb sind wir von ihnen oft stärker beeinflusst. Wie die Hirnforschung gezeigt hat, können bewusste Verarbeitungsprozesse, die etwa in der präfrontalen Hirnrinde angelegt sind, von emotionalen Prozessen aus dem tiefer gelegenen limbischen System gehemmt werden.

Warum beschäftigen uns manche Sorgen stärker als andere?

Wenn wir uns zum Beispiel an schlimme Ereignisse in unserem Leben erinnern, stellen wir sie uns meist visuell vor. Bilder und Emotionen sind eng miteinander verknüpft. Aus diesem Grund haben Bilder in Medien oft einen so starken Einfluss auf unsere Ängste und Befürchtungen. Viele von uns haben noch die Bilder des Terroranschlags vom 11. September 2001 im Gedächtnis – der Moment, in dem die beiden Türme zusammenbrachen. Und wir erinnern uns sogar noch an die Gefühle, die wir in jenem Moment erlebten. So etwas gräbt sich tief ins Gedächtnis ein. Entsprechende Assoziationen sind also leicht auszulösen. Mittlerweile steigt auch in den Medien das Bewusstsein dafür, dass es mitunter verantwortungsvoll ist, weniger entsprechende Bilder zu zeigen.

»Ungewissheit zu akzeptieren, heißt, sich auf die aktuelle Situation zu konzentrieren«

Auch Menschen ohne Angststörungen kennen quälende Unsicherheiten. Was kann ich tun, wenn die Sorgen überhandnehmen?

Ein Ansatz besteht darin, aus dem emotionalen Geschehen wieder ein rationales zu machen. Was spricht dafür, dass mich ein solches Ereignis wirklich betrifft? Dieser Perspektivwechsel von emotional aufgeladenen Bildern hin zu einer realistischen Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten ist allerdings nicht so einfach. Betroffene sind hierzu ohne einen Lernprozess nicht in der Lage.

Lässt sich die Fähigkeit zum Perspektivwechsel trainieren?

Ein Konzept aus der kognitiven und achtsamkeitsbasierten Therapie lautet »decentering«. Das bezeichnet die Fähigkeit, sich gezielt vom eigenen Erleben zu distanzieren – und psychische Vorgänge erst einmal nur als solche wahrzunehmen. So kann einem etwa der Einfall kommen: »Was, wenn ich krank werde und unerträgliche Schmerzen erleide? Ich muss dringend etwas tun, um das zu verhindern.« Das ist zunächst ein Gedanke, nicht die gegenwärtige und auch keine zukünftige Realität. Indem wir uns bewusst machen, dass dies ein innerer Vorgang, eben ein Gedanke ist, den wir gerade habe, distanzieren wir uns ein Stück weit von unserem inneren Erleben.

Moment, ich soll mich gezielt von meinen eigenen Gedanken und Gefühlen entfernen?

Zugegeben, vielen erscheint das kontraintuitiv – gerade weil man intensive Gefühle meist als etwas Positives sieht. Es gilt als Wert, authentisch zu sein, mit sich selbst im Einklang. Zu viel Identifikation, gerade mit vergangenen oder zukünftigen Ereignissen, kann aber auch ungesund sein. Manchmal nimmt sie derart überhand, dass sich das gegenwärtige Erleben stark einschränkt. Die eigenen Gedanken als inneres Geschehen wahrzunehmen, nicht als äußere Realität – dieses Konzept ist zum Beispiel aus der buddhistischen Philosophie in den Westen importiert worden. Aber auch in der westlichen Philosophie existieren ähnliche Ideen. Denken Sie etwa an die Lehre der Stoa. Der antike Philosoph Epiktet meinte: »Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Meinungen und die Urteile über die Dinge.«

»Das Ausmaß an Unsicherheit nimmt nicht zu. Aber die Formen der Ungewissheit verändern sich«

Können wir Unsicherheiten auch genießen?

Natürlich. Der Regisseur Alfred Hitchcock spielt in seinen Kriminalfilmen oft mit der Ungewissheit und erzeugt Spannung, die auch etwas Lustvolles in sich trägt – ein Phänomen, das als »suspense« bekannt ist. Wir wollen unsere Bedürfnisse nicht immer augenblicklich erfüllt sehen. Menschen suchen gezielt neue, unbekannte Situationen auf, an denen sie wachsen können. Herausforderungen bieten die Möglichkeit, Grenzen zu testen und über sich selbst hinauszuwachsen. Das kann natürlich ebenfalls ungesunde Formen annehmen: So genannte »Sensation Seekers« suchen den ständigen Nervenkitzel, etwa im Extremsport – weil konstante Bedingungen ohne Anregung bei ihnen eher Stress durch Unterstimulation verursachen.

Klimawandel, Brexit, Donald Trump: Wird die Welt ungewisser?

Das ist eine schwierige Frage. Ich würde vermuten: Das Ausmaß an Unsicherheit nimmt nicht zu. Aber die Formen der Ungewissheit verändern sich. Einerseits haben wir immer bessere technische Möglichkeiten, sichere Bedingungen herzustellen. Auf der anderen Seite funktionieren diese oft nicht so wie gewünscht – oder werden nicht ausreichend genutzt. Vor 200 Jahren war das Klima beispielsweise kein Thema. Man konnte es kaum beeinflussen, hat sich jedoch auch keine Sorgen darum gemacht. Jetzt verfügen wir über neue Technologien, die es uns ermöglichen würden, die Folgen des menschengemachten Klimawandels zumindest einzudämmen. Gleichzeitig entsteht eine starke gesellschaftliche Gegenbewegung, die diese Folgen schlichtweg leugnet. Das erzeugt eine ganz neue Art von Ungewissheit.

Was lässt sich diesen großen Ungewissheiten entgegenstellen?

Es geht nicht darum, Unsicherheiten um jeden Preis zu beseitigen. Das Leben ist grundsätzlich ungewiss. Das zu akzeptieren, ist eine individuelle Aufgabe, aber auch eine globale gesellschaftliche.

Das Interview führte Theodor Schaarschmidt.

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