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»Die Zunge«: In aller Munde

Florian Werner zeichnet ein sehr lesenswertes Porträt der Zunge. Zugleich liefert er eine umfassende Kultur- und Zivilisationsgeschichte des Organs.
Es liegt mir auf der Zunge

»Plötzlich ist sie in aller Munde. Nachdem die menschliche Zunge jahrtausendelang, im eigentlichen Sinn des Wortes, ein Schattendasein fristete, verlässt sie neuerdings immer häufiger ihren verborgenen Ort im Oralraum und fordert die ihr zustehende Aufmerksamkeit. Sie biegt sich, sie rollt sich zusammen. Sie reckt und streckt sich, sie leckt lasziv die ihr nahe stehenden Lippen, spricht selbstbewusst von ihren Fähigkeiten und zeigt sich in ihrer verkannten Pracht …«

Mit diesem furiosen Anfang setzt Florian Werner ein. Und was dieser Anfang verspricht, das sei schon jetzt verraten, hält das Werk über seine 200 Seiten hinweg. Das für den Bayerischen Buchpreis 2023 nominierte Buch ist eine umfassende Kultur- und Zivilisationsgeschichte des einzigen Organs, das sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des Körpers bewegen kann und so schnell ist, dass man es kaum zu fassen kriegt.

Werner, Literaturwissenschaftler und Buchautor, verarbeitet in seinem Porträt eine enorme Fülle an Material und zeigt universelle Belesenheit. Von der Bibel und antiker Literatur bis hin zu gegenwärtigen Autoren, von der Biologie und Geruchsforschung über die Anatomie und Ethnologie und Philosophie bis hin zu Literatur, Kunst und Musik geht Werner virtuos mit seinen Lesefrüchten um. Er zeigt, wie verkannt die Zunge bislang gewesen ist. So auch in der Erotik der westlichen Welt: Während ihre Rolle als sexuelles Organ im Kamasutra schon vor gut 1800 Jahren wie selbstverständlich bekannt war, kommt sie und das Reden darüber in unseren Breiten erst richtig im 20. Jahrhundert in Fahrt. Dass das von Provokationen begleitet ist, zeigt sich etwa an der ausgestreckten Zunge auf dem Cover des Rolling-Stones-Albums »Sticky Fingers« von 1971, das schließlich zum Markenzeichen der Band avancierte.

Ob Geschmack, Erotik oder Rhetorik: Die Zunge ist immer dabei!

Schon vorgeburtlich erfüllt die Zunge eine zentrale Rolle der Selbsterkundung: Ab der 14. Schwangerschaftswoche nuckeln Föten an ihrem Daumen und erfahren sich selbst. Das setzt sich unmittelbar nach der Geburt mit dem Saugen an der Mutterbrust fort; die Zunge erfüllt von da an unser Leben lang ihre Funktionen, sie treibt Mätzchen und Späße, sei es in Provokationen wie beim Zungeherausstrecken oder beim öffentlichen Eisschlecken, das von manchen als schlüpfrig empfunden wird. Sie ist unerlässlich für das Schmecken wie das Küssen, das sich aus der Mund-zu-Mund-Fütterung entwickelt hat. Spielerisch ist ihre Rolle beim Sex – hier vergleicht Werner die Zunge mit dem Phallus. Erst recht das Sprechen wäre ohne sie und ihre enorme Beweglichkeit unmöglich, wir wären nicht der Lage, Worte zu artikulieren, unsere Gedanken auszusprechen. Die Zunge ist ein Machtinstrument, das Massen mobilisiert. Nicht umsonst gilt – eher mythologisch als real, wie Werner illustriert – das Abschneiden der Zunge als ein Akt, der das Opfer mundtot machen, es seiner Sprache und damit der Gegenrede berauben will.

Der Autor ist ein glänzender Stilist. Er schreibt nicht nur sehr klar, verständlich und elegant, er versteht es auch, mit Sprache zu spielen. Die vielen Sprichwörter, die sich um die Zunge ranken, bieten ihm eine große Bandbreite, vom »Hüten seiner Zunge« über die »spitze Zunge« bis hin zur »gespaltenen Zunge«, die bei Schlangen ein Ortungsinstrument ist, bei uns Menschen seit Adam und Eva in der Bedeutung des falschen Redens daherkommt.

Das Buch von Florian Werner über die Zunge zu lesen, ist ein Genuss: Die gut 200 Seiten erzeugen keinen Moment von Langeweile. Die Fülle an Erkenntnissen aus dem Porträt lassen uns erkennen, wie wenig Gedanken wir uns über ein Organ machen, das wir ständig im Munde mit uns führen und das uns ein Leben lang Genuss verschafft. Nach der Lektüre des Buchs wird man der eigenen Zunge größere Aufmerksamkeit zollen.

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