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»Flora Germanica«: Ein Jahrhundertschinken

Die umfangreiche Pflanzensammlung bündelt das aktuelle Wissen um die vergangene und gegenwärtige Pflanzenwelt. Eine Rezension
Wer Insekten etwas Gutes tun möchte, lässt es in seinem Garten wild zugehen.

Für viele einheimische Pflanzen kommt die »Flora Germanica« schon zu spät, für andere, im Lauf der Globalisierung zugewanderte »Neophyten« (verwilderte Kultur- und Zierpflanzen) sowie nur unbeständig auftretende »Adventivarten« gerade recht. Mit Entsetzen stellt man beim Blättern fest, wie viel der Flora in den letzten 70 Jahren in verschiedenen Regionen verschwunden ist. Man lernt auch einiges kennen, das man noch nie zu Gesicht bekommen hat.

Die Flora Deutschlands ändert sich ständig

Die ungeheure Arbeit der beiden Hauptautoren Michael Hassler und Thomas Muer (neben rund 150 weiteren) kann nur ermessen, wer selbst wenigstens bei bestimmten Arten, etwa Gräsern oder Orchideen, eine gewisse Vollständigkeit »sammeln« will. Einige sind recht verbreitet – und waren es oft schon immer –, dass man sie danach praktisch »persönlich« kennt. Andere kommen nur an wenigen Fundorten vor und sind manchmal nur einer Hand voll Eingeweihten bekannt. Hat sich die Seltenheit herumgesprochen, braucht man dort nicht mehr zu suchen: Breite Trampelpfade der Fotografen führen hin – und zeugen von rücksichtslosem Umgang mit der Natur, für deren Erhalt und Schutz man angeblich mit seinen Bildern werben möchte.

Die erste Zeile des Buchs lautet: »Eine neue Übersicht über die deutsche Flora.« Das ist treffend formuliert, denn der Vorgänger von 1999, an dem der Zweitautor bereits beteiligt war, ist mehr als 20 Jahre alt. Die fortschreitende Intensivierung der Landwirtschaft, der gigantisch gewachsene Welthandel und die Veränderungen beim Klima haben in dieser Zeit für viel Wandel gesorgt.

Wichtigste Neuerung ist die verbesserte Bebilderung mit nun je zwei Bildern pro Art. Die Systematik wurde mit molekulargenetischen Ergebnissen auf den neuesten Stand gebracht. Die gewohnte Reihenfolge der Ordnungen und Familien aus den klassischen Bestimmungsbüchern (Schmeil-Fitschen, Rothmaler, Oberdorfer) ist somit überholt. In der neuen phylogenetischen Reihenfolge erscheinen nun völlig andere Namen vor allem für Gattungen, aber auch in höheren Kategorien.

Beispielsweise steht jetzt vor den Einkeimblättrigen: (die) »Basale Ordnungen der Bedecktsamer (Angiospermae)«, das ist Stand Dezember 2021. Einige weitere inzwischen erfolgte Neuerscheinungen zu solchen Revisionen konnten bis zum Druck nicht mehr berücksichtigt werden. Tatsächlich sind derartige Bücher nie fertig. Bestimmend für Pflanzennamen ist ein ungeheuer kompliziertes Regelwerk, mittels dessen die Namen festgelegt und verbindlich zur Verfügung gestellt werden. Die Datenbank befindet sich in den Royal Botanic Gardens in Kew, London. Am häufigsten muss der Prioritätsregel gefolgt werden: Der Name des Erstbeschreibers gilt, wenn eine Art mindestens zweimal beschrieben wurde, und bei einer weit verbreiteten Orchidee des Mittelmeerraums ist das gerade wieder geschehen. Der jahrhundertealte Name wird nun zum so genannten Synonym.

Das Ziel der »Flora«, alle Sippen zu behandeln, auch Unterarten, apomiktische (nicht durch geschlechtliche Vermehrung entstandene) Pflanzen und Varietäten, erscheint völlig unrealistisch. Aus den bisherigen rund 3500 Sippen werden nämlich nun rund 5900. Abhilfe ist geplant durch einen dritten Band, der »kritische Sippen« wie Brombeere (Rubus), Löwenzahn (Taraxacum) oder Habichtskraut (Hieracium) enthalten soll. Probleme werden wohl die Abbildungen machen, denn viele Merkmale zur Abgrenzung einzelner Sippen von der sehr nahen Verwandtschaft sind fotografisch nicht darstellbar. Der dritte Band ist in Arbeit und soll 2024 fertig werden.

Vor dem eigentlichen Atlas sind zur Orientierung noch vier Deutschlandkarten zu Klima, potenzieller natürlicher Vegetation (kurz: PNV, die Vegetation, die ohne menschlichen Einfluss bestünde) und Landschaftsgliederung eingefügt. Es folgt ein 54-seitiger Abschnitt »Die Lebensräume Deutschlands und ihre typischen Pflanzenarten«, eine ausgezeichnete Zusammenfassung, die trotz der Kürze mit einem Standardwerk, etwa von R. Pott (Biotoptypen), mithalten kann – vor allem, weil man die erwähnten Arten danach anschauen kann.

Es folgen 9000 Bilder mit Kurzbeschreibung wichtiger Merkmale (es handelt sich nicht um ein Bestimmungsbuch) und viele weitere Informationen durch Symbole. An einer Stelle erwähnen die Autoren, dass die meisten Bilder digitaler Herkunft sind – und so überhaupt erst möglich wurden. Das stimmt nur teilweise, denn leider ist die Pflanzenfotografie mit den modernen Maschinen keineswegs immer besser geworden: Da nicht alle Fotografen mit professionellen Geräten mit Sensoren im früheren Vollformat 24 x 36 Millimeter arbeiten, sondern mit kleineren, verwenden sie Objektive mit viel kürzeren Brennweiten als früher mit einer größeren Tiefenschärfe. Als Ergebnis ist auf den Bildern nicht nur die Pflanze zu sehen, sondern auch mehr oder weniger viel Umgebung, die manchmal stört.

Auch wäre für manche Arten bloß ein Bild völlig ausreichend gewesen, was bei anderen ein drittes ermöglicht hätte. Aber: Insgesamt ist die überzeugende Auswahl und Zusammenstellung ästhetisch und drucktechnisch schwer zu übertreffen.

Am Ende des zweiten Bands findet sich ein ausführliches Glossar aller Fachausdrücke, ein Register herunter bis zu den Synonymen und das Literaturverzeichnis. Das macht die »Flora Germanica« zum Handbuch: 3000 Einträge der letzten 30 Jahre bis April 2022, sorgfältig gelistet nach verschiedenen Kategorien. Mein Großvater bezeichnete solche umfangreichen und teuren Bücher als »Jahrhundertschinken«, um die Anschaffung vor seiner sparsamen Frau zu rechtfertigen. Diese beiden Bände hätte er sicher sofort gekauft.

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