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»Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht«

Dem verbreiteten Mangel an Naturverständnis setzt Bruno P. Kremer dieses botanische Lesebuch entgegen. Gekonnt leichtfüßig und eloquent führt er quer durch das Fachgebiet und bereitet eine vermeintlich schwere Kost verständlich und unterhaltsam auf.

Die Leserinnen und Leser zu verblüffen, ist das probate Stilmittel des erfolgreichen Sachbuchautors Bruno P. Kremer. Durch vergnügliche Antworten auf nur selten gestellte Fragen, nämlich nach dem Wie und Warum von Phänomenen, die uns alltäglich umgeben, will der Biologie-Didaktiker das Bewusstsein für das vielfältig Wunderbare im Selbstverständlichen wecken. Eine geistreiche, Erfolg versprechende Herangehensweise!

Überraschungen von Anfang bis Ende

Ebenso genial wie die Funktions- und Wirkungsweise der Pflanzen – so sieht es der botanische Enthusiast Bruno P. Kremer. Entsprechend betitelt er sein Buch und versetzt die Leserschaft schon von Anbeginn in den von ihm angestrebten Verblüffungszustand. Pflanzen werden gemeinhin nicht mit schöpferischer Geisteskraft oder gar Genialität konnotiert, sondern als mehr oder weniger passive und den Elementen ausgelieferte Geschöpfe betrachtet.

Aber: genial in Bezug auf was? Aus unserer vertrauten anthropozentrischen Sicht heraus kann man nur vermuten, dass eine Auflistung ökonomisch bedeutsamer oder in anderer genialer Weise dem Menschen nützlicher Pflanzen folgt. In gewisser Hinsicht erfüllt sich diese Erwartung auch – allerdings ganz anders als gedacht.

Kremer weist am Anfang seines Buchs darauf hin, dass die Existenz sauerstoffabhängiger Lebewesen – und damit auch unsere – seit Jahrmillionen von der unermüdlich betriebenen, großartigen Fotosyntheseleistung der Pflanzen (und weiterer chlorophyllhaltiger Organismen) abhängt. Zudem diene die pflanzliche Anatomie von jeher als Vorlage unzähliger wichtiger Ingenieurleistungen, und auch die Bedeutung der Pflanzen für Medizin und Pharmaindustrie sei unermesslich.

Aber allein darauf beschränkt sich die Genialität der Pflanzen und infolgedessen auch das Buch nicht. Dessen Fokus liegt vielmehr auf dem System »Pflanze« und darauf, wie sich im Lauf der Evolution die fantastischsten Phänomene und Prinzipien herausgebildet haben, die allen Pflanzen eigen oder gegebenenfalls artspezifisch abgewandelt sind.

Unspektakulär gliedert sich das Werk in die Kapitel Sprossachse (»Von Stämmen, Stängeln und Stielen«), Blatt (»Was Pflanzen so hinblättern«) sowie Blüte und Frucht (»Blühen, Reifen, Fruchten«), in denen der Autor sich den Grundorganen, ihren je nach Überlebensstrategie angepassten Aus- und Umformungen sowie den mit ihnen in Verbindung stehenden funktionellen Aspekten widmet.

Grob skizzierten Überblicken mischt Kremer zahllose (wissenschaftliche) Details bei; Fakten, die man eigentlich immer schon einmal hatte wissen wollen. Beispielsweise, warum Bäume nicht endlos in den Himmel wachsen. Er erklärt, dass dies zum einen natürlich der Stabilität dient, zum anderen aber auch mit der Wasserversorgung der Baumwipfel zu tun hat. Der Wasserfaden reißt bei rund 130 Meter Höhe schlicht unter seinem Eigengewicht ab, da die Kohäsionskräfte unter dieser Belastung nicht mehr im Stande sind, die Wasserteilchen zusammenzuhalten. Weiterhin erfahren die Leserinnen und Leser zum Beispiel Details über den Holzbaustoff Lignin, über die »beeindruckende Materialökonomie« beim Aufbau des effektiven Leitungsgewebes, aber auch, was dieses mit der Ausbildung von Jahresringen zu tun hat und wie sich die Dendrochronologie ihrer bedient, um die jüngere Klimageschichte zu rekonstruieren.

So ist ein Kompendium der Botanik entstanden, das sich von anderen Botanikbüchern abhebt, indem es sich der Thematik nicht lehrbuchhaft faktenvermittelnd nähert, sondern in Form eines Lesebuches unterhaltsam erzählend. Dabei scheut der eloquente Autor keinesfalls die Erklärung komplizierter Sachverhalte.

Den speziellen Stoffwechsel von C4- und CAM-Pflanzen etwa handelt er ebenso ab wie den Umgang der Strandpflanzen mit hohen Salzkonzentrationen. Launige Überschriften der Unterkapitel (»Nicht nur eine Frage der Ähre« zum Thema Stabilität von Getreidehalmen), eingestreute Anekdoten (»Vincent malte Mutanten«) und amüsante Wortspiele (»Verhütungsbotanik«, »Pollen am Stiel«) sorgen jedoch für einen durchweg vergnüglichen Charakter des Buchs. Außerdem erhalten etliche Querverbindungen und Assoziationen die Aufmerksamkeit, etwa zu Film- oder Märchenfiguren wie Tarzan und Spiderman in Verbindung mit Klimm- und Kletterpflanzen oder Dornröschen beim Thema Dornen oder Stacheln mitsamt einem Verweis auf Eugen Drewermanns Märchendeutungen.

Auf diese Weise absolvieren die Leserinnen und Leser quasi unbemerkt ein Grundstudium der Botanik, das inhaltlich sogar über das hinausreicht, was Lehrpläne und Studienprogramme der letzten Jahrzehnte für Unterricht und Vorlesungen vorsehen. Wie der Autor Bewusstsein für so viel Staunenswertes in unserer unmittelbaren Umgebung weckt, ist schon genial. Ein unbedingt empfehlenswertes Buch – es hätte aber ein schöneres Layout verdient.

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