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Erbgut-Entschlüsselung: Die zehn erstaunlichsten Genome der Welt

Alle Gene eines Organismus zu kennen, hilft, seine Lebensweise und mögliche Krankheiten zu verstehen. Oft ist ein Genom allerdings komplexer als gedacht.
Symbolbild Sanger-Sequenzierung

Die Liste jener Lebewesen, deren Erbgut man nahezu lückenlos kennt, wird immer länger. Hier präsentieren wir ein paar echte Meilensteine der Genforschung. Und Rekordgenome: extrem kleine, große oder kuriose.

Die ersten Genome, die man entschlüsselte, gehören Bakteriophagen

Das Erbgut des Bakteriophagen MS2 besteht nicht aus DNA, sondern aus RNA, und seine Entschlüsselung leitete die Ära der modernen Genforschung ein, der »Genomics«. Sie begann im Jahr 1967, als ein Team um Walter Fiers von der University of Ghent die Buchstabenfolge des dritten Gens des Pahgen aufdeckte – und somit seine gesamte Erbgutsequenz. Das Virus, das Escherichia coli und andere Bakterien befällt, hat mit insgesamt 3569 Nukleotiden ein sehr kleines Genom. Ein Jahr später gelang es einer Forschergruppe um Frederick Sanger dann, das erste DNA-Genom zu sequenzieren. Es gehörte ebenfalls einem Phagen: Escherichia virus phiX174 reiht immerhin schon 5386 Nukleotide in seinem Erbgut aneinander. Für die Methode zur Sequenzierung von Nukleinsäuren erhielt Sanger 1980 den Nobelpreis für Chemie – übrigens seinen zweiten, den ersten bekam er für die Aufklärung der Struktur des Insulins.

Ein Schweinevirus hat das kleinste Genom der Welt

Es lässt sich darüber streiten, ob Viren eigene Lebewesen sind oder nicht. Was Proteine und Erbgut angeht, setzen die meisten jedenfalls auf eine Minimalausstattung. So ist es nicht verwunderlich, dass das kleinste bis 2019 sequenzierte Genom einem Virus gehört, dem Porcine Circovirus-1 (PCV1). Mit nicht mehr als 1759 Nukleotiden befällt der Erreger Schweine und kann sich in deren Zellen – mit Hilfe seiner eigenen DNA und der daraus hergestellten Proteine – vermehren. Das Bakterium mit dem kleinsten Genom heißt Mycoplasma genitalium. Dabei handelt sich ebenfalls um einen Parasiten: Ohne eine Wirtszelle kann das Bakterium sich und seine 582 970 Basenpaare nicht vervielfältigen. Pelagibacter ubique, das zur Gruppe der SAR11-Bakterien gehört, kann das ganz allein. Die Organismen leben als Teil des Planktons massenhaft in unseren Weltmeeren und erfüllen wichtige ökologische Funktionen. Das Genom von Pelagibacter ubique umfasst etwa 1,3 Millionen Basenpaare und ist besonders schlank. Im Gegensatz zu anderen höheren Lebewesen enthält es nämlich keinerlei »Junk-DNA« – also Bereiche unbekannter Funktion, die nicht für Proteine kodieren.

Syn 3.0 – ein Bakterium mit künstlichem Minimalgenom

Wie viele Gene sind eigentlich lebensnotwendig? Jene Frage beschäftigte den Biochemiker Craig Venter, der einige Jahre zuvor sein eigenes Erbgut komplett sequenzieren ließ und es in Fachzeitschrift »Plos Biology« veröffentlichte. Zusammen mit Kollegen wollte der Gentechnikpionier ein überlebensfähiges Bakterium mit dem kleinstmöglichen Genom schaffen. Um den Organismus mit dem Namen Syn 3.0 zu kreieren, halbierte das Team das Erbgut des Vorläufermodells (Syn 1.0). Dieses hatten sie ein paar Jahre zuvor aus zwei Bakterienspezies zusammengebastelt. Den Forschern gelang es damals, das etwa eine Million Basenpaare große Genom von Mycoplasma mycoides künstlich herzustellen und einerm anderen Bakterium namens Mycoplasma capricolum zu transplantieren. Diese Zelle war lebensfähig und wurde ausschließlich von dem künstlichen Genom gesteuert. Es enthielt, so meinten Venter und seine Kollegen, aber noch zu viele »unnütze« Gene. Also schnippelten sie weiter. Doch selbst bei der halben Genportion, seinem Nachfolger Syn 3.0 ist wohl nicht Schluss: Von rund einem Drittel der 473 verbliebenen Gene wissen die Forscher noch immer nicht, wozu sie nutzen. Dabei ist das Genom von Syn 3.0 schon etwa 50 000 Basenpaare kürzer als das von Mycoplasma genitalium, dem Bakterium mit dem kleinsten, in der Natur vorkommendem Genom.

Der Fadenwurm C. elegans war das erste Tier, dessen Gene man auslas

Im Fadenwurm Caenorhabditis elegans entschlüsselte man zum ersten Mal das Genom eines mehrzelligen Lebewesens. Einem Team von der Washington University und dem Wellcome Trust Sanger Institute in Cambridge, dem so genannten »C. elegans Sequencing Consortium« gelang selbiges im Jahr 1998. Der etwa ein Millimeter lange Wurm ist ein beliebtes Forschungsmodell, denn er ist durchsichtig, leicht zu handhaben – und sein Genom hat erstaunlich viel mit dem des Menschen gemein. Für über die Hälfte unserer Krankheitsgene findet sich im Wurmgenom ein Analogon. Somit kann man mit Hilfe seines Erbguts, das etwa 100 Millionen Basenpaare und mehr als 20 000 Gene umfasst, die Entstehung menschlicher Krankheiten untersuchen. Zudem ist sein komplettes Nervensystem inklusive aller Verknüpfungen – das Konnektom – als Kartenwerk verfügbar. Für weibliche Würmer gibt es einen solchen Atlas schon seit 30 Jahren, seit Kurzem nun ein Update für beide Geschlechter.

Das Genom der Maus ist ein extrem wichtiges Forschungsmodell

Wo es ein »C. elegans Sequencing Consortium« gibt, muss es auch ein »Mouse Genome Sequencing Consortium« geben. Das Team vom Wellcome Trust Sanger Institute, dem Whitehead Center for Genome Research und dem MIT schaffte es im Jahr 2002, das Erbgut der Maus zu entziffern. Das ist wohl einer der wenigen Fälle, bei dem Forscher bei der Maus nachlegten, was ihnen beim Menschen bereits gelungen war: Die Sequenz des menschlichen Genoms lag – zumindest in einer groben Version – schon ein Jahr vor dem der Maus vor. Danach ging es in Sachen Gentechnik so richtig los: Durch das Einführen oder Ausschalten bestimmter Gene stellte man fortan Knock-out- und Knock-in-Mäuse in allen Variationen her. 2007 erhielten Martin Evans, Mario Capecchi und Oliver Smithies für die Herstellung der ersten Knock-out-Mäuse den Nobelpreis für Medizin . Sie und andere Forscherteams lernten extrem viel über die Rolle bestimmter Gene bei Krankheiten. Denn obwohl das Mausgenom mit rund zweieinhalb Milliarden Basenpaaren etwa 14 Prozent kleiner ist als das menschliche, sind die meisten ihrer 30 000 Gene unseren recht ähnlich.

Welche »Wundergene« erlauben dem Axolotl eine Rundumerneuerung?

Es ist ein echter Lebenskünstler: Verliert ein Axolotl (Ambystoma mexicanum) ein Bein, Teile von Organen oder gar von seinem Gehirn, ist das kein Problem: Alles wächst nach. Seit Jahrzehnten rätseln Forscher, mit Hilfe welcher Gene der Lurch dies bewerkstelligt. Ein internationales Team um Siegfried Schloissnig vom Heidelberger Institut für Theoretische Studien sowie Michael Hiller und Elly Tanaka vom Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden haben 2018 das Genom des wasserlebenden Schwanzlurchs entschlüsselt. Es ist mit 32 Milliarden Basenpaaren etwa zehnmal so groß wie das menschliche Erbgut. Darum war es lange niemandem gelungen, alle Gene des vom Aussterben bedrohten Tiers auszulesen. Dank einer neuen Methode konnte das Forscherteam längere DNA-Stücke auslesen als bisher und am Computer zusammensetzen. Dabei fiel den Forschern auf, dass dem Axolotl im Vergleich zu anderen Amphibien ein bestimmtes Entwicklungsgen fehlte. Dessen Funktion übernimmt bei ihm offenbar ein verwandtes Gen. Gemeinsam mit weiteren Kollegen kam Tanaka außerdem zu dem Schluss, dass für die Rundumerneuerung des Axolotls Zellen aus dem Bindegewebe verantwortlich sind, die auch Säuger – inklusive Menschen – haben. Doch den Schalter, also die für das Wachstum verantwortlichen Gene, kennen die Forscher noch immer nicht.

Obwohl wir so komplex sind, haben Menschen unerwartet wenig Gene

Größenmäßig ist unser Genom mit 3,2 Milliarden Basenpaaren eher durchschnittlich. Aber wie viele Gene hat ein Mensch nun eigentlich? So lautete die Schätzfrage auf der internationalen Genomkonferenz des Cold-Spring-Harbor-Laboratoriums in New York im Jahr 2000. Bis die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts 2003 abgeschlossen war, nahm das Humangenomprojekt im Internet Wetten an. Für die erste Arbeitsversion, die das internationale, staatlich organisierte Projekt unter der Leitung von Francis Collins vom britischen Sanger-Institut 2001 veröffentlichte, prognostizierten die Wissenschaftler eine Genanzahl von 30 000 bis 40 000. Die Aufregung war groß: Offenbar hat ein Mensch nur etwa doppelt so viele Gene wie ein Fadenwurm. Über die genaue Anzahl unserer Gene streiten sich Genetiker bis heute, doch eines ist klar: Lediglich zwei Prozent unserer DNA dient als Vorlage für Proteine. Und was macht der Rest? Auf über 90 Prozent unserer DNA könnten wir wohl verzichten, ohne schwere Schäden zu erleiden, fand ein Team um Charles Robin von der University of Melbourne heraus. Komplexere Lebewesen besitzen also nicht automatisch mehr Gene. Schließlich kann ein Gen die Bauanleitung für mehrere Proteine enthalten. Umso mehr kommt es aber auf die richtige Regulation der Gene, Proteine und allem, was dazwischen liegt, an.

Fossilien enthüllen das Genom eines Ausgestorbenen: des Kleinen Buschmoas

Den Kleinen Buschmoa (Anomalopteryx didiformis) gibt es schon seit etwa 700 Jahren nicht mehr. Vermutlich wurde der fast mannshohe Laufvogel von Menschen, die die Inseln Neuseelands erstmals besiedelten, verspeist. Bis dahin hatte er dort recht ungestört gelebt, denn er kannte keine natürlichen Feinde – und gab darum auch das Fliegen auf. So waren er und seine Eier leichte Beute für hungrige Siedler und ihre Haustiere. Ähnlich erging es anderen Laufvögeln wie dem Riesen-Moa (Dinornis) oder dem Dodo (Raphus cucullatus). Vielleicht kann man diese Giganten bald wieder zum Leben erwecken, denn einem Forscherteam um Alison Cloutier von der Harvard University ist es gelungen, das Genom eines Kleinen Buschmoas zu rekonstruieren  – zumindest zu 85 Prozent. Mit Hilfe extrem leistungsfähiger Sequenziermaschinen lasen sie die DNA eines fossilen Zehenknochens aus. Indem sie die Erbgutschnipsel mit dem Genom des Emus, einem verwandten australischen Laufvogel, verglichen, brachten sie die Moa-DNA in die richtige Reihenfolge. Ersetzte man das Genom des Emus nun an den entscheidenden Stellen durch Moa- oder andere Laufvogel-DNA, könnte man die ausgestorbenen Arten vielleicht von Emus ausbrüten lassen. Dazu müssten Forscher aber zunächst das gesamte Genom des jeweiligen Wunschvogels – zum Beispiel die bislang fehlenden 15 Prozent des Moas – entschlüsseln.

Der Mais hat wohl das dynamischste Genom der Welt

Viele Pflanzen haben enorm große und komplizierte Genome. Oft tragen sie – durch spontane Verdopplungen und Züchtung – mehrere Ausgaben jedes Chromosoms im Zellkern. Man spricht dann von Polyploidie. Weizen hat beispielsweise sechs Chromosomensätze. Der Kulturmais (Zea mays) hat jedes seiner zehn Chromosomen nur zweimal – wie der Mensch. Mit mehr als 2 Milliarden Basenpaaren und etwa 32 000 Genen hat das Süßgras aber auch ähnlich viel Erbgut wie wir. Nicht nur deshalb war die Entschlüsselung seines Genoms ein mühsames Unterfangen. Der Großteil der Mais-DNA kommt mehrfach vor – und springt gerne mal hin und her. Für die Entdeckung dieser springenden Gene, der Transposons, erhielt die Botanikerin Barbara McClintock 1983 den Nobelpreis. Auch andere Lebewesen haben Transposons – der Mais hat aber am meisten: Sie machen über 80 Prozent seines Genoms aus. Im Jahr 2009 veröffentlichte ein riesiges Konsortium um Richard Wilson von der Washington University schließlich das erste vollständige Maisgenom. Danach gab es immer mehr und detaillierte Erbgutkarten verschiedener Maissorten. Obwohl sich darin gewaltige Unterschiede fanden, zeigte sich: Was wichtig ist, bleibt gleich. So fiel einem Forscherteam um John Doebley von der University of Wisconsin-Madison eine Mutation auf, die alle modernen Maissorten gemein hatten  – nicht aber ihr Vorfahr, die Teosite (Euchlaena mexicana). Ihre Körner sind von einer harten Schale umgeben. Eine bestimmte Genveränderung führte dazu, dass im modernen Mais nur mehr eine goldgelbe Haut den nahrhaften Inhalt der Körner schützt.

Ob die Amöbe Polychaos dubium tatsächlich das größte Genom der Welt hat, ist umstritten

Sie hat zwar – im Gegensatz zu Bakterien – einen Zellkern. Die Amöbe Polychaos dubium besteht aber aus nur einer einzigen Zelle und ist somit eines der einfachsten Lebewesen der Welt. Umso überraschender war es, als Carl Friz von der University of British Columbia im Jahr 1968 verkündete, das Genom der Amöbe umfasse 670 Milliarden Basenpaare. Es wäre damit das größte, das man je entdeckt hat. Weil die Sequenzierungsmethoden zu jener Zeit allerdings noch recht ungenau waren, zweifeln viele an diesem Ergebnis. Zumal Friz nicht nur die DNA aus dem Zellkern, sondern die der gesamten Zelle ablas. So rechnete er vermutlich auch das Erbgut anderer Organellen und jenes von Organismen, die sich die Amöbe einverleibt hatte, mit. Das Genom verwandter Amöbenarten wie Amoeba proteus wird heute auf etwa 40 Milliarden Basenpaare beziffert und ist also eine Zehnerpotenz kleiner als von Friz veranschlagt. Vermutlich gilt derselbe Korrekturfaktor auch für das Genom von Polychaos dubius, das dann »nur« noch 67 Milliarden Basenpaare messen würde. Damit wäre es aber deutlich kleiner als das Genom des sonst zweitplatzierten Kandidaten. Im Zellkern von Paris japonica, einer Einbeere aus Japan, tummeln sich unvorstellbare 150 Milliarden Basenpaare – das sind 50-mal so viele wie das menschliche Genom zu bieten hat.

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