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Freistetters Formelwelt: Die Anti-Atheisten-Formel

Kann man einen Atheisten mit der richtigen Formel in die Flucht schlagen? Dem großen Mathematiker Leonhard Euler ist das gelungen. Angeblich jedenfalls.
Der Mythos: Eine Formel soll die Existenz Gottes beweisen.

Rund um Weihnachten taucht in den sozialen Medien immer wieder das gleiche Bild mit der gleichen mathematischen Gleichung auf. Zumindest in meiner Blase der sozialen Medien, es kann gut sein, dass es anderswo weniger mathematisch zugeht. Man kann sich sogar Pullover mit Weihnachtsmotiven kaufen, auf denen diese Formel zu finden ist. Aus mathematischer Sicht ist sie komplett irrelevant, der Witz an der Sache besteht nur darin, dass man die einzelnen Symbole der Gleichung so umstellen kann, dass am Ende dort »merry = x – mas« steht.

Das hat mich an eine andere Formel erinnert:

Mathematisch gibt auch diese Gleichung nicht viel her. Man nimmt eine Zahl b, multipliziert sie n-mal mit sich selbst, addiert eine Zahl a, dividiert das Ganze durch n und kriegt als Ergebnis eine weitere Zahl x. Man kann zum Beispiel a = 1, b = 2 und n = 3 setzen und wird als Resultat x = 3 kriegen. Oder irgendeine andere Kombination. Wie gesagt: Mathematisch ist das alles irrelevant. Aber in Büchern über die Geschichte der Mathematik taucht die Formel trotzdem immer wieder auf, und ich ärgere mich jedes Mal aufs Neue.

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Die Geschichte geht so: Der französische Philosoph Denis Diderot hat in den 1770er Jahren die russische Zarin Katharina II. in St. Petersburg besucht. Dort ist er mit seinen atheistischen Äußerungen unangenehm aufgefallen, weswegen die Herrscherin den gerade in St. Petersburg arbeitenden berühmten Mathematiker Leonhard Euler zu Hilfe rief. Diderot wurde vor den Hofstaat zitiert, Euler ratterte die besagte Formel herunter und setzte ein »Deswegen existiert Gott, antworten Sie!« dahinter. Diderot, der keine Ahnung von Mathematik hatte, war dadurch so verunsichert und gedemütigt, dass er St. Petersburg fluchtartig verließ.

Eher so mittelgut erfunden

Ich weiß nicht, was ich an dieser Geschichte unglaubwürdiger finde. Dass ein Mathematiker vom Rang eines Leonhard Euler sich auf so etwas einlässt und die Mathematik missbraucht, um eine philosophische Frage unzulässig zu »beantworten«? Oder dass Diderot nicht nur unfähig war, zu verstehen, dass so eine Formel absolut nichts über die Existenz eines Gottes aussagen kann, sondern darüber hinaus kaum Ahnung vom Thema hatte und sich durch eine scheinbar komplexe Formel in die Flucht schlagen ließ?

Diderot war einer der gebildetsten Menschen seiner Zeit, er war einer der wichtigsten Autoren und Organisatoren der »Encyclopédie«, eines der Hauptwerke der Aufklärung. Er war nachweislich an Mathematik interessiert, hat mathematische Vorlesungen gehört und selbst über mathematisch-physikalische Fragen publiziert (»Mémoires sur différents sujets de mathématiques«, 1748). Er wusste also Bescheid über Formeln und Zahlen.

Die Geschichte kann nicht wahr sein und ist es auch nicht. Sie stammt aus den veröffentlichten Erinnerungen des französischen Professors Dieudonné Thiébault über seine Zeit am preußischen Hof in Berlin. Das mehrbändige Werk hat er mit jeder Menge Anekdoten aufgelockert, und die Geschichte über Diderot war eine davon, die er aber nicht selbst erlebt hat, sondern nur gehört haben will. In seiner Erzählung steht übrigens kein n unter dem Bruchstrich der Formel, sondern ein z, was die Sache allerdings nicht sinnvoller macht. Und auch Eulers Name taucht dort nicht auf. Den hat der englische Mathematiker Augustus De Morgan eingefügt, der die Geschichte 1872 in eines seiner Bücher übernahm. Von da an ist sie immer wieder nacherzählt und ausgeschmückt worden.

Doch egal ob die Anekdote einen wahren Kern hat oder nicht, zeigt sie eines sehr gut. Mathematik mag zwar auf der reinen Manipulation von Symbolen nach logischen Gesetzen basieren, bei der den Symbolen selbst im Prinzip keine spezielle Bedeutung zukommt. Das heißt aber nicht, dass man einer Symbolfolge einfach irgendeine beliebige Bedeutung geben kann. »Gott« steckt ebenso wenig in der Petersburger Formel wie Weihnachten in »merry = x – mas«.

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