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Leseprobe »Die Afghaninnen«: Spielball der Politik

Das Schicksal der afghanischen Frauen ist schon immer eng mit den politischen Interessen der jeweiligen Machthaber und/oder der Invasoren verknüpft gewesen. Ihr Leben und ihre Rechte sind Spielball sowohl der nationalen als auch der internationalen Politik. Frauen werden als Eigentum, Druckmittel oder Alibi instrumentalisiert, um ein ausschließlich von Männern bestimmtes politisches Handeln zu rechtfertigen. Diese seit vielen Jahrzehnten etablierten Muster zeigten sich auch während der jüngsten Ereignisse.
Vollverschleierte Frauen in Afghanistan

Wir haben versagt!

Wenige Wochen nach dem Abzug der NATO-Truppen im August 2021 genügten, und die Taliban nahmen den Frauen alle Erfolge, die sie in den vergangenen Jahren erlangt hatten, Stück für Stück wieder ab. Die Zugeständnisse, die man den Taliban während der ersten sogenannten Friedensgespräche zwischen 2013 und 2014 abgerungen hatte, erwiesen sich als das, was sie von Anfang an waren: Lippenbekenntnisse. Die Taliban waren nur vermeintlich auf die Besorgnisse der Verhandlungspartner eingegangen und erwarteten stattdessen sehnlichst den Tag, an dem sie erneut die Kontrolle über das ganze Land haben würden.

Für jene, die die früheren Appelle der internationalen und lokalen Menschen- und Frauenrechtsorganisationen verfolgt haben, war dies keine wirkliche Überraschung. Denn sie machten schon lange darauf aufmerksam, was in den Provinzen geschah, die die Taliban lange vor Kabul eingenommen oder nie aufgegeben hatten. In über der Hälfte der 34 Provinzen Afghanistans hatte sich die prekäre Lage der Frauen ohnehin nie verändert. Und so gehört auch dies zur Wahrheit: Wenn man das Schicksal der afghanischen Frauen anschaut, die außerhalb der Großstädte leben, wird deutlich, wie gering die Zahl der Frauen war, die tatsächlich von den wenigen Chancen profitieren konnten, die sich in den letzten 20 Jahren boten. Auch unter den Augen des Westens konnte sich weder das ambitionierte Ziel, afghanische Frauen zur Gleichberechtigung zu verhelfen, noch die Idee, dass Menschenrechte auch für Frauen gelten, landesweit etablieren. Milliarden von Hilfsgeldern wurden jahrelang im Namen der Förderung von Frauen bedingungslos an die afghanische Regierung ausgezahlt und befeuerten eher die Korruption, als dass sie den Frauen tatsächlich genutzt hätten. Nicht nur in dieser Hinsicht hat die internationale Gemeinschaft komplett versagt.

Einmal mehr sind es nun vor allem die Afghaninnen, die die Folgen dieser gedankenlosen internationalen Politik ausbaden müssen. Die wenigen von ihnen, die von der Phase des Aufschwungs während des internationalen militärischen Einsatzes profitiert haben, werden erneut Opfer der frauenfeindlichen Taliban und sind schutzlos der Willkür der patriarchalen afghanischen Gesellschaftsordnung ausgeliefert. Auf der internationalen Ebene wird das vollmundig bedauert, aber niemand fühlt sich zuständig und übernimmt dafür die Verantwortung. Zwar wurde im Zuge der Evakuierungen neben lokalen MitarbeiterInnen der internationalen Organisationen auch Personen die Ausreise ermöglicht, die in der Zivilgesellschaft, den Medien, der Kultur oder der Wissenschaft tätig waren, aber die Mehrzahl der Afghaninnen hat dieses Privileg nicht.

Zum großen Teil ist die den Mädchen und Frauen zugewiesene Rolle in den extrem frauenfeindlichen Traditionen der afghanischen Gesellschaft verankert. Die Schwierigkeiten und Herausforderungen, denen die sogenannte nassl-e nau, die »neue Generation«, gegenüberstand, sind keinesfalls neu. Nicht selten zwingt dieser große Spagat zwischen traditionellen Regeln und moderner Lebensweise Mädchen und Frauen dazu, resigniert aufzugeben und oft genug den einzigen Ausweg aus ihrer Situation in der Selbsttötung zu sehen. Wer sich organisiert und gegen die Traditionen auflehnt, geht ein hohes Risiko ein. So selbstverständlich der Wunsch nach Veränderung für jede gebildete moderne Frau auch scheint, bleibt doch vor dem Hintergrund der afghanischen Realität jeder Schritt in diese Richtung erwähnenswert, denn wer sich hier nicht an die zugewiesenen Regeln hält, läuft schnell Gefahr, umgebracht zu werden.

Erschwert wurde und wird die Situation der Frauen durch den mehr als vier Jahrzehnte herrschenden Krieg. Diese Tatsache hat auch dazu beigetragen, dass viele Männer nichts anderes gelernt haben, als sich und ihre Ziele mit Waffengewalt durchzusetzen, statt mit Argumenten zu überzeugen. Da viele Ehemänner keinerlei Interesse daran haben, dass ihre Frauen irgendein traditionelles Gesetz in Frage stellen, geschweige denn demokratische Rechte in Anspruch nehmen, wird von ihnen jeder Versuch des Ausbruchs mit Gewalt unterbunden. So werden die Frauen, die ihre Stimme erheben, eingeschüchtert, bedroht und getötet. Die Konsequenzen aus ihrer auflehnenden Haltung bekommen oft nicht nur sie, sondern unter Umständen ihre ganze Familie zu spüren.

Es steht zu befürchten, dass sich daran nichts ändern wird. Ende März traf sich der chinesische Außenminister Wang Yi mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow, um multilaterale Beratungen über die Lage in Afghanistan zu führen und um ihre »strategische Partnerschaft« sowie ihre außenpolitische Kooperation zu festigen. Russische Medien zitierten Lawrow, dass für Russland »die Präsenz jeglicher US- und NATO-Infrastruktur in Afghanistans Nachbarländern inakzeptabel« sei. Die Bemühungen Chinas in Afghanistan machen sichtbar, dass sie in der Region immer mehr die Rolle der USA übernehmen wollen. Das sollte uns aufhorchen lassen.

Vor allem kommt den Taliban diese Annäherung sehr entgegen. Denn ihren beiden mächtigen Partnern ist der Umgang der Islamisten bezüglich der Rechte der Frauen und Minderheiten im Land nicht wichtig. Sie müssen sich daher auch den moralischen Ansprüchen des Westens nicht verpflichtet fühlen und können die ohnehin viel zu leisen Forderungen, unverzüglich ihre neue Direktive zu revidieren, dass Mädchen ab der siebten Klasse bis auf Weiteres der Schulbesuch untersagt wird, ignorieren. Zudem hat der Ukrainekrieg die Frage nach der Aufarbeitung des militärischen Scheiterns in Afghanistan aus den westlichen Medien verdrängt, was den an der Macht Interessierten am Hindukusch ebenfalls sehr gelegen kommt.

Allerdings gibt es auch Hoffnung: Die Außenministerin Annalena Baerbock hat am Beginn ihrer Amtszeit versprochen, die Außenpolitik Deutschlands weiblicher zu machen. Vor dem Deutschen Bundestag sagte sie im Zusammenhang mit Vergewaltigungen als Kriegswaffe: »Deswegen gehört zu einer Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts auch eine feministische Sichtweise. Das ist kein Gedöns, sondern auf der Höhe dieser Zeit.« Denn Kriege und Konflikte gibt es genug, die einer Lösung harren – neben der Ukraine, wo aktuell mit großer Brutalität und Rücksichtslosigkeit Städte bombardiert, Zivilisten umgebracht und Familien auseinandergerissen werden, darf man auch den Jemen, Syrien, Äthiopien und Mali nicht vergessen. Und natürlich Afghanistan. Gemeinsam ist all diesen Ländern, dass die männliche Gier nach Macht und Respektlosigkeit die Basis der Zerstörungswut bilden, Machtbesessenheit anstatt Moral und Menschlichkeit herrschen. Dem steht eine feministische Außenpolitik entgegen.

Die Basis der aus Schweden stammenden Idee, mehr Frauen in Schlüsselpositionen zu verhelfen, ist der Mensch – egal, ob Frau oder Mann –, der Mensch, der ungerecht behandelt wird. Feministische Außenpolitik vollzieht daher grob gesagt einen Paradigmenwechsel bei Sicherheitsfragen »weg vom rein militärischen Denken hin zu einem erweiterten Fokus, der – neben dem Kriegsgeschehen – die Zivilbevölkerung berücksichtigt: Frauen, Kinder, Alte, Kranke.« In Zeiten von Kriegen und Krisen sind es vor allem Frauen und Kinder, die benachteiligt werden und leiden. Terroristische und militärische Gruppierungen bestehen ausschließlich aus Männern. Mehr Feminismus in der Politik zu wagen würde bedeuten, männliche Aggressivität einzudämmen und Strukturen von Gewalt aufzubrechen.

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