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Lehre und Forschung in Afghanistan: »Es wird keine gebildeten Menschen mehr geben«

Universitäten schließen, Akademiker fliehen – mit der Taliban-Machtübernahme sind Errungenschaften aus 20 Jahren Forschung gefährdet. Und die Leben vieler Forschenden in Afghanistan.
Vor rund zwei Jahrzehnten wurde die Universität Bamiyan gegründet, aber 1997 von den Taliban geschlossen. 2003 wurde die Hochschule wiedereröffnet und diente seitdem als wichtigstes Hochschulzentrum in der Hochlandregion Afghanistans (Archivbild von 2018)

Hamidullah Waizy hatte im Ministerium für Bergbau und Erdöl in Kabul gerade Bewerbungsgespräche geführt, als ihm mitgeteilt wurde, dass die Taliban in die Stadt eingedrungen seien und das Gebäude evakuiert werden müsse. Am nächsten Morgen – am 16. August 2021 – sah er bewaffnete Kämpfer auf den Straßen. Seither ist nichts mehr, wie es vorher war. Waizy ist Geologe an der Polytechnischen Universität Kabul und wurde kürzlich zum Generaldirektor für die Exploration von Bergwerken im Ministerium ernannt. Er ist schockiert über den raschen Niedergang der Stadt. Seitdem lebt er in Ungewissheit, meistens verbarrikadiert in seinem Haus, aber diese Sicherheit ist nur relativ.

In Kabul sind derzeit die meisten Universitäten und öffentlichen Einrichtungen geschlossen. Die Taliban wollen zwar, dass die Beamten ihre Arbeit fortsetzen, doch »die Zukunft ist sehr ungewiss«, sagt Waizy. Eins ist sicher: Es wird schwierig werden. Als die fundamentalistische Gruppe das Land zuletzt von 1996 bis 2001 beherrschte, setzte sie brutal eine konservative Variante der islamischen Scharia durch. Unter anderem verletzten sie Frauenrechte und unterdrückten die Meinungsfreiheit. Als die Regierung im Jahr 2001 gestürzt worden war, waren internationale Gelder nach Afghanistan geflossen und die Universitäten gewachsen.

Jetzt fürchten Forscherinnen und Forscher wie Waizy nicht nur um ihre eigene Sicherheit, sondern auch, dass Fördermittel ausbleiben und persönliche Freiheiten eingeschränkt werden. Wer kann, wird versuchen zu fliehen. Einige fürchten, wegen ihrer Beteiligung an internationalen Kooperationen ihres Fachs oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit verfolgt zu werden.

Hart erkämpfte Erfolge in der Wissenschaft sind gefährdet

In Forschung und Lehre »sind Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre in Gefahr«, sagt Attaullah Ahmadi, Wissenschaftler für öffentliche Gesundheit an der Kateb-Universität in Kabul. Berichten zufolge wurden Finanzmittel in Milliardenhöhe für die afghanische Regierung im Ausland gestoppt – etwa bei der US-Notenbank und Kredite des Internationalen Währungsfonds. Es ist unklar, ob oder wann die Mittel frei gegeben werden und wie sich das auf Universitäten und Forschende auswirkt. Schon jetzt berichten allerdings viele von ihnen, dass ihre Gehälter derzeit nicht gezahlt werden.

Im Jahr 2001, nach den Terroranschlägen vom 11. September in den Vereinigten Staaten, waren die USA mit internationalen Partnern in Afghanistan einmarschiert und hatten die Taliban gestürzt. 2004 wurde schließlich eine neue Regierung gewählt. In diesen ersten Jahren nach dem Sturz war die Situation verheerend, erinnert sich Kenneth Holland, Dekan an der O.P. Jindal Global University in Sonipat, Indien. Er war von 2017 bis 2019 Präsident der American University of Afghanistan (AUAF) in Kabul. Als er 2006 in das Land kam, habe er fast keine Forschung an den Universitäten, keine Forschungskultur vorgefunden.

Und es dauerte, bis diese Kultur wieder aufgebaut worden war: Ab 2004 hatten die Weltbank und viele internationale Organisationen Hunderte von Millionen Dollar in die Universitäten gesteckt, um die Lehre, die Ausbildung der Lehrkräfte und die Forschung zu unterstützen, sagt er. Es zeigte sich schnell, wie groß der Bedarf war: Seit 2010 entstanden etwa drei Dutzend öffentliche Universitäten oder wurden wiedereröffnet, und weitere Dutzend private Universitäten wurden gegründet. Die öffentlichen Universitäten werden vom Ministerium für Hochschulbildung finanziert, das wiederum internationale Geldgeber unterstützen, sagt Holland. Die privaten Universitäten leben von Studiengebühren. Die Kosten der AUAF trägt hauptsächlich die US-Regierung.

»Lange Zeit hielten Wissenschaftler Afghanistan für ein Schwarzes Loch«
Najibullah Kakar, Geologe am GFZ in Potsdam

Die Zahl der Studierenden an öffentlichen Universitäten stieg von 8000 im Jahr 2001 auf 170 000 im Jahr 2018. Ein Viertel von ihnen waren Frauen. Und auch wenn der Anteil der Beiträge aus Afghanistan in internationalen Fachzeitschriften nach wie vor gering ist, stieg die Zahl der jährlich in der Scopus-Datenbank erfassten Veröffentlichungen von 71 im Jahr 2011 auf 285 im Jahr 2019.

Shakardokht Jafari hat seit 2001 viele Fortschritte beobachtet, von der steigenden Zahl weiblicher Studierender bis hin zum wachsenden Output zu allen wissenschaftlichen Themen von Krebs bis Geologie. Doch jetzt befürchtet die aus Afghanistan stammende Medizinphysikerin an der University of Surrey in Guildford, Großbritannien, dass die Wissenschaft und der Forschungsfortschritt stagnieren werden.

Dabei war es gerade bergauf gegangen, berichtet Najibullah Kakar. »Lange Zeit hielten Wissenschaftler Afghanistan für ein Schwarzes Loch«, sagt der Geologe am Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ in Potsdam. Er ist einer von vielen Afghanen, die für ihre Ausbildung ins Ausland gegangen sind, mit der Absicht, mit neuen Fähigkeiten zurückzukehren und beim Aufbau des Landes zu helfen. Im Jahr 2014 war er daran beteiligt, das erste seismische Netzwerk in Afghanistan zu installieren, mit dem die Plattentektonik untersucht werden sollte. Er setzte diese Arbeit bis 2019 fort, dann erschwerten allerdings die aufkeimenden Konflikte seine Reisen in entlegene Gebiete.

Angst und Panik unter Forschenden

Er und sein Team planten, ein seismisches Überwachungs- und Forschungszentrum in Afghanistan einzurichten, um vor Naturgefahren zu warnen. Doch seit dem Fall von Kabul herrscht dort Panik. Kakar sagt, er habe seit Tagen nicht mehr geschlafen, weil er verzweifelt versucht, seine dortigen Kollegen zu befreien.

Kakars Kollegen gehören zu den zahlreichen Forschern, die in Übersee Asyl suchen. Rose Anderson, Direktorin der humanitären Organisation Scholars at Risk (SAR) in New York City, vermittelt bedrohten Wissenschaftlern sichere Unterschlupfmöglichkeiten an Universitäten. Sie berichtet, dass allein im August mehr als 500 Anträge von Menschen aus Afghanistan bei SAR eingegangen sind.

»Fast alle berichteten von der Angst, von den Taliban verfolgt zu werden, weil sie für freie und kritische Forschung eintreten und sich für die Achtung der Menschen- und Frauenrechte einsetzen«
Rose Anderson, Direktorin Scholars at Risk

Darunter sind zum Beispiel Juristen, die Repressalien fürchten, wenn ihr Fachgebiet im Widerspruch zur Auslegung der Scharia durch die Taliban steht. Viele Frauen fürchten, wegen ihres Geschlechts und ihres Engagements für Frauenrechte könnten die Taliban sie ins Visier nehmen. Einige Männer wiederum haben Angst davor, bestraft zu werden, weil sie Frauen unterrichten. Andere befürchten, dass sie auf eine Abschussliste gesetzt werden könnten, weil sie im Ausland studiert oder internationale Verbindungen haben.

»Fast alle berichteten von der Angst, von den Taliban verfolgt zu werden, weil sie für freie und kritische Forschung eintreten und sich für die Achtung der Menschen- und Frauenrechte einsetzen«, so Anderson. Viele sind untergetaucht oder planen, in Nachbarländer zu fliehen. Anderson zufolge haben sich bisher 164 Einrichtungen weltweit bereit erklärt, Wissenschaftler aufzunehmen, und SAR hat an die Regierungen der USA und Europas appelliert, Visa im Schnellverfahren zu erteilen und die Evakuierungsflüge fortzusetzen.

Doch die Ausreise gestaltet sich schwierig: Botschaften sind geschlossen, der Weg zum Flughafen von Kabul ist gefährlich, und eine Flucht auf dem Landweg ist schwierig. Viele gefährdete Menschen bleiben deshalb in Afghanistan. Holland sagt, die Forscher der AUAF seien besonders gefährdet. Die Einrichtung wurde bereits vor einigen Jahren angegriffen: 2016 wurden 13 Menschen getötet, darunter Fakultätsmitglieder, Mitarbeiter und Studierende. Alle etwa 60 nichtafghanischen Mitarbeiter wurden evakuiert, aber nur rund 20 der zirka 400 einheimischen Mitarbeiter wurden ausgeflogen, sagt er. Weitere 800 Studierende und mehr als 1000 Ehemalige könnten zur Zielscheibe werden, so Holland.

Gefahr für Minderheitengruppen

Die meisten der 39 Millionen Einwohner Afghanistans, darunter viele Mitglieder der Taliban, gehören der Volksgruppe der Paschtunen an. Forscher anderer ethnischer Gruppen laufen Gefahr, verfolgt zu werden. Musa Joya ist Medizinphysiker an der Teheraner Universität für Medizinische Wissenschaften im Iran und arbeitet auch als Dozent in Kabul. Er gehört der Farsi sprechenden Hazara-Minderheit an. Er hatte geplant, im Jahr 2022 nach Kabul zurückzukehren, um in einem von der Internationalen Atomenergiebehörde unterstützten Strahlentherapiezentrum zu arbeiten, aber aus diesen Plänen wird möglicherweise nichts. Auch im Iran zu bleiben, ist eher keine Lösung, da es für Ausländer schwierig ist, in Forschungsinstituten eine Anstellung zu finden, sagt Joya.

Seine Frau und seine Kinder sind noch in Afghanistan. »Ich sehe wirklich schwarz für die Zukunft«, sagt er. »Ich weiß nicht, wie ich meine Familie ernähren, wie ich sie retten und wie ich sie schützen kann.« Bislang hat er keine Berichte über die Verfolgung von Menschen durch die Taliban in Kabul gehört, aber Nachrichten über Morde in anderen Provinzen beunruhigen ihn. Die Menschen »bereiten sich auf einen Sturm vor«, sagt er.

»Ich weiß nicht, wie ich meine Familie ernähren, wie ich sie retten und wie ich sie schützen kann«
Musa Joya, Medizinphysiker in Teheran

Es gibt einige Anzeichen dafür, dass die Dinge nicht mehr so restriktiv sind wie unter der vorherigen Taliban-Regierung. Mehrere Forscher berichten, dass die Taliban mit Universitätsleitern über die Wiederaufnahme des Unterrichts sprechen. Es gibt Gerüchte, denen zufolge es Frauen erlaubt sein könnte, ihr Studium fortzusetzen, auch wenn die Taliban angeordnet haben, dass Frauen und Männer getrennt unterrichtet werden müssen. Einige Universitäten haben vorgeschlagen, in den Klassenzimmern Trennwände einzubauen.

In der westlich von Kabul gelegenen Stadt Bamyan wurden die Frauen jedoch aufgefordert, nicht zu arbeiten und zu Hause zu bleiben, berichtet eine Hazara-Dozentin und Bildungsforscherin, die an der AUAF studiert hat. »Ich werde jetzt von den Taliban bedroht«, sagt sie. Auch andere Wissenschaftler machen sich Sorgen über die Zukunft der Forschung. Joya befürchtet, dass die Taliban der Forschung keinen Vorrang einräumen oder ihren Wert nicht anerkennen werden. Und er fragt sich, wie die Universitäten ohne internationale finanzielle Unterstützung zurechtkommen können.

Ein in Kabul ansässiger Wissenschaftler und Mitglied der Afghanistan Science Academy, der namentlich nicht genannt werden möchte, sagt, dass er und seine Familie, wie viele andere in Afghanistan, bereits zum dritten Mal alles verloren haben. Er floh während der Unruhen in den späten 1970er Jahren vor dem Einmarsch der Sowjetunion, dann Ende der 1990er Jahre während der letzten Amtszeit der Taliban und erwägt nun, erneut zu fliehen. »Es ist eine sehr schwierige Situation für einen Menschen: Man wird im Krieg geboren, man wächst im Krieg auf, und jetzt wird man im Krieg sterben.«

»Mit dieser Art von Rückzug haben sie unser ganzes Leben, all unsere Hoffnungen und Ambitionen zerstört«
Musa Joya

Viele Menschen mit einem Hochschulabschluss sind bereits geflohen. »Das ist eine große Katastrophe für die Zukunft Afghanistans«, sagt er. »Es wird keine gebildeten Menschen mehr geben.« Die Akademie zum Beispiel beschäftigte etwa 200 Wissenschaftler und 160 andere Mitarbeiter mit einem Jahresbudget von etwa 300 Millionen Afghani (3,5 Millionen US-Dollar), fügt er hinzu. Sie und viele Regierungsangestellte wurden jedoch seit zwei Monaten nicht mehr bezahlt, seit die Taliban das Land immer stärker unter ihre Kontrolle gebracht haben.

»Das System ist nahezu gelähmt«, sagt Ahmadi. Es ist nicht klar, ob die internationale Gemeinschaft die neue Regierung anerkennen und weiterhin Mittel bereitstellen wird. Die Forscher hoffen, dass sie nicht im Stich gelassen werden. »Wir haben unser ganzes Geld, unsere Energie und unsere Zeit in Afghanistan investiert, um eine bessere Zukunft für uns und unsere Kinder aufzubauen. Aber mit dieser Art von Rückzug haben sie unser ganzes Leben, all unsere Hoffnungen und Ambitionen zerstört«, sagt Joya.

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