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Computersimulation eines Hirnschadens

Beim Lesen von Wörtern machen Erwachsene mit Hirnschädigungen bizarre Fehler. Bringt man einem Netz von simulierten Neuronen das Lesen bei und beschädigt es anschließend, so verhält es sich verblüffend ähnlich.

Im Jahre 1944 erlitt ein junger englischer Soldat eine Schußverletzung am Kopf. Er überlebte zwar, aber mit einer sonderbaren Behinderung: Obwohl er manche Wörter problemlos lesen und verstehen konnte, bereiteten ihm die meisten große Schwierigkeiten. Er las zum Beispiel antik als „Vase“ und Onkel als „Neffe“.

Für den Patienten G.R. war die Verletzung katastrophal, doch der Forschung bot sie Einblick in die Mechanismen, mit denen das Gehirn geschriebene Sprache versteht. Solange das System, das Buchstaben in gesprochene Sprache umwandelt, normal funktioniert, verrät es nur wenig über seine interne Struktur; wird es jedoch beschädigt, kann die eigentümliche Form seines Versagens Aufschluß über die ursprünglich unversehrte Architektur geben (siehe „Sprache und Gehirn“ von Antonio R. Damasio und Hanna Damasio, Spektrum der Wissenschaft, November 1992, Seite 80).

In den letzten Jahren ist die Computersimulation von Hirnfunktionen so weit fortgeschritten, daß sich damit informationsverarbeitende Bahnen des Gehirns modellieren lassen. Wir konnten nun durch absichtliches Beschädigen künstlicher Systeme die Symptome nachahmen, die bei Menschen mit Hirnschädigungen auftreten. Wenn ein Modell die gleichen Fehler macht wie ein Mensch mit verletztem Gehirn, dürfen wir annehmen, mit dem Versuch, die Hirntätigkeit zu verstehen, auf dem richtigen Weg zu sein.

Zwar weisen heutige Computermodelle noch nicht einmal einen winzigen Bruchteil der Fähigkeiten des menschlichen Gehirns auf. Dennoch haben unsere Experimente bereits unerwartete Erkenntnisse darüber geliefert, wie das Gehirn eine Folge von Buchstaben in die Bedeutung eines Wortes transformiert.

Oberflächen- und Tiefendyslexie

Als John C. Marshall und Freda Newcombe von der Universität Oxford (England) 1966 die Spätfolgen von G.R.’s Verletzung untersuchten, beobachteten sie ein höchst eigentümliches Muster von Lesestörungen. Außer zahlreichen semantischen Fehlern machte G.R. auch visuelle – so indem er stock (Vorrat) als „shock“ (Schock) und crowd (Menschenmenge) als „crown“ (Krone) las. Viele Lesefehler ähnelten sowohl in ihrer Form als auch in ihrer Bedeutung dem korrekten Wort; zum Beispiel sah er das Wort wise (weise) und sagte „wisdom“ (Weisheit).

Detaillierte Untersuchungen zeigten, daß G.R. konkrete Wörter wie table (Tisch) viel einfacher zu lesen vermochte als abstrakte wie truth (Wahrheit). Substantive konnte er relativ gut lesen (46 Prozent korrekt), war schlechter bei Adjektiven (16 Prozent), noch schlechter bei Verben (6 Prozent) und am schlechtesten bei Funktionswörtern (2 Prozent) wie of (von). Völlig unmöglich war ihm das Lesen wortähnlicher sinnloser Buchstabenfolgen wie beispielsweise mave oder nust.

Seither hat man mit mehr als 50 weiteren Patienten, die beim Lautlesen semantische Fehler machen, solche Studien angestellt; praktisch alle zeigen die gleiche eigentümliche Symptomkombination. Marshall und Newcombe unterschieden 1973 zwei Typen von erworbener Lesestörung: Patienten mit sogenannter Oberflächendyslexie lesen Wörter falsch, die ungewöhnlich ausgesprochen werden, und wählen dafür oft eine näherliegende Aussprache; zum Beispiel könnten sie das Wort yacht (im Englischen gesprochen wie „jot“ mit sehr offenem „o“) wie „yatched“ („jätschd“) vorlesen. Hingegen würde ein Patient mit Tiefendyslexie wie G.R. vielleicht yacht als „boat“ (Boot) lesen.

Zur Erklärung dieser beiden Formen schlugen Marshall und Newcombe vor, daß die Information bei normalem Lesen zwei unterschiedliche, einander ergänzende Verarbeitungsrouten durchläuft. Bei Oberflächendyslexie ist die phonologische Route intakt, die auf der regelhaften Zuordnung von Buchstaben zu Sprachlauten beruht. Bei Tiefendyslexie funktioniert hingegen nur die semantische Route, mit der sich die Bedeutung eines Wortes direkt aus seiner visuellen Form herleiten läßt (falls dies möglich ist). Wenn jemand Wörter mit Hilfe der semantischen Route vorliest, wird die Aussprache nur von der Bedeutung hergeleitet (Bild 2).

Nach Marshall und Newcombe spiegeln die Fehler bei Tiefendyslexie wider, wie die semantische Route allein funktioniert. Späteren empirischen Befunden zufolge ist dieses Schema zwar allzu einfach, doch das Prinzip wird nach wie vor allgemein anerkannt. Wahrscheinlich geht bei Tiefendyslexie nicht nur die phonologische Route verloren, sondern ist auch die semantische mehr oder weniger beschädigt.

Erklärungsmodelle

Nun ist die Hypothese, das Lesen beruhe auf mehreren separat störbaren Verarbeitungsrouten, durchaus nützlich zur Klassifikation der Patienten, trägt aber wenig zum präzisen Verständnis ihrer Verletzungen bei. Max Coltheart von der Macquarie-Universität in Sydney (Australien) und Eleanor M. Saffran von der Temple-Universität in Philadelphia (Pennsylvania) meinen etwa, daß Patienten mit Tiefendyslexie sehr ähnlich lesen wie solche, bei denen nur die rechte Hirnhälfte funktioniert (Bild 1).

Doch damit lassen sich die überaus typischen Störungsmuster bei erworbener Dyslexie kaum erklären. Um im Detail zu begreifen, wie die Lesefehler entstehen und warum sie übereinstimmende Muster bilden, braucht man ein Modell dafür, wie die Informationsverarbeitung in beiden Routen funktioniert – und wie sie versagt, wenn der neurale Schaltkreis beschädigt wird.

Psychologen beschreiben die Informationsverarbeitung des Gehirns oft mit abstrakten Algorithmen; doch offensichtlich kann man in solche Modelle nicht Störungen einführen, die den Verletzungen entsprechen, wie Hirnzellen sie tatsächlich erleiden. Darum versuchten wir es mit neuronalen Netzen – idealisierten Computersimulationen von Neuronengruppen. Wir entwickelten Netze, welche die Rolle der semantischen Route übernehmen, und entfernten dann gezielt bestimmte Neuronenverbindungen, um das geänderte Netzverhalten zu beobachten. Schon vor einigen Jahren ließen sich an einem einfachen Netz durch Beschädigen irgendeines Teils mehrere Symptome der Tiefendyslexie hervorrufen. Inzwischen haben wir detailliertere Modelle konstruiert, um herauszufinden, welche Aspekte der neuronalen Architektur für dieses Verhalten verantwortlich sind. Außerdem erweiterten wir das Verfahren auf zusätzliche Symptome der Tiefendyslexie.

Unsere Modelle der semantischen Route bestehen aus verbundenen Einheiten oder Knoten, die Neuronen repräsentieren (Bild 3). Jedes Neuron hat ein Aktivitätsniveau zwischen 0 und 1, das von den Eingaben abhängt, die es von anderen Neuronen erhält; und die Verbindungen bestimmen durch eine einstellbare Gewichtung, wie stark die Ausgabe eines Neurons die Aktivität eines von ihm gespeisten Knotens beeinflußt. Diese Gewichte legen – zusammen mit dem Muster der Verbindungen zwischen den Knoten – die Berechnung fest, die das Netzwerk ausführt.

Die erste Version unseres Netzes bestand aus drei Arten von Neuronen: Graphem-Einheiten, die jeweils einen bestimmten Buchstaben in einer bestimmten Position innerhalb des Wortes repräsentierten, Semem-Einheiten als Repräsentanten der Wortbedeutungen und schließlich einer Schicht von Zwischeneinheiten, die das Erlernen komplexer Assoziationen ermöglichten. Ein völlig allgemeines Netz würde 26 Graphem-Knoten für jede Buchstabenposition in einem Wort brauchen, doch wir verwendeten ein vereinfachtes Vokabular und kamen mit weniger aus. Zum Beispiel repräsentierten die Graphem-Knoten für den Wortanfang stets Konsonanten und die für die zweite Position immer nur Vokale.

Die Semem-Knoten entsprechen nicht direkt individuellen Wortbedeutungen, sondern vielmehr semantischen Eigenschaften, die den jeweiligen Gegenstand beschreiben. Das Wort cat (Katze) etwa aktiviert Knoten, die „Säugetier“, „hat Beine“, „weich“ und „wild“ repräsentieren; hingegen bleiben Neuronen inaktiv, die für semantische Eigenschaften wie „durchsichtig“, „schmeckt streng“, „Teil eines Gliedes“ oder „hölzern“ stehen. Unser Netzwerk hat 68 Semem-Knoten für physische und funktionale Attribute einer Wortdefinition. Jedes Wort, das wir auswählten, wurde durch eine andere Kombination von aktiven und inaktiven Semem-Neuronen dargestellt.

Damit das Netz jeweils die richtigen semantischen Eigenschaften aktiviert, muß das Gewicht jeder Verbindung passend eingestellt sein. Das geschieht nicht von Hand, sondern durch eine Lernprozedur – einen Algorithmus zum Programmieren neuronaler Netze. Um einem Netzwerk eine Aufgabe beizubringen, beginnt man mit zufällig gewählten Gewichten und bietet ihm dann immer wieder eine Trainingsmenge von Eingabemustern an (in diesem Falle Buchstaben in bestimmten Positionen). Nach jedem Trainingsdurchgang stellt der Algorithmus die Gewichte so ein, daß sich der Unterschied zwischen Ausgabe und korrekter Antwort möglichst verringert.

Schon seit den fünfziger Jahren weiß man, wie man die Gewichte bei einfachen Netzen mit zwei Schichten anpassen muß. Netzwerke mit mehr Schichten zu trainieren ist allerdings schwieriger. Insbesondere ist nicht unmittelbar klar, wie die Gewichte der Verbindungen zwischen Eingabe- und Zwischenknoten eingestellt werden sollen, denn von vornherein läßt sich nicht bestimmen, welche internen Knoten für eine gegebene Eingabe-Ausgabe-Kombination aktiv sein müßten.

Bessere Netze

Doch in den achtziger Jahren hat man mehrere Trainingsmethoden für mehrschichtige Netze entwickelt. Diese Verfahren teilen die Änderungen der Verbindungsgewichte für jede Schicht entsprechend ihrem jeweiligen Anteil am Fehler auf. Im Laufe vieler Trainingszyklen konvergieren die Gewichte allmählich derart, daß das Netzwerk die richtigen Antworten liefert. Indes kommen je nach den zufällig gewählten Anfangsgewichten unterschiedliche Gewichtskonfigurationen zustande, bei denen das Netz auf die Trainingsdaten korrekt reagiert (siehe „Wie neuronale Netze aus Erfahrung lernen“ von Geoffrey E. Hinton, Spektrum der Wissenschaft, November 1992, Seite 134).

Theoretisch können diese Lernprozeduren in sogenannten lokalen Minima steckenbleiben – das heißt in Gewichtskonfigurationen, die zwar inkorrekt sind, bei denen aber jede kleine Änderung die Fehler nur vergrößern würde. Doch in der Praxis lernt ein neuronales Netz fast immer annähernd optimale Lösungen. Außerdem sind manche Lernprozeduren zwar biologisch plausibler als andere, aber unsere Resultate scheinen nicht von der verwendeten Methode abzuhängen. Wir vermuten, daß – selbst wenn das Gehirn eine ganz andere Lernmethode benutzen sollte – die resultierende neuronale Verschaltung dennoch der von unserem Netz entwickelten Struktur ähnelt. Darum kann unsere Erklärung der Vorgänge nach einer Schädigung des Netzes auch dann richtig sein, wenn seine Lernprozeduren nicht mit Hirnprozessen übereinstimmen.

Obwohl unser ursprüngliches Netz mit einer internen Zwischenschicht lernen konnte, Wortformen auf ihre semantischen Eigenschaften abzubilden, funktionierte es nicht gut genug. Es zeigte den Hang, sehr ähnliche Eingaben – zum Beispiel cat (Katze) und cot (Feldbett) – auf gleiche Ausgaben abzubilden, wenn es nicht extrem lange trainiert worden war. Diesem Problem begegneten wir, indem wir zusätzlich eine Schicht sogenannter Aufräum-Neuronen einbauten. Wenn die ursprüngliche Vernetzungsstruktur eine unsaubere Antwort liefert, suchen die neuen Neuronen sie zu modifizieren, damit die korrekte Semantik entsteht. Da die Anzahl der Wortbedeutungen begrenzt ist, genügt es schon, wenn die Semem-Knoten von der Eingabe zunächst so aktiviert werden, daß das resultierende Erregungsmuster näher bei der richtigen Wortbedeutung liegt als bei irgendeiner anderen. Mit denselben Lernmethoden, die bei Netzen mit nur einer Zwischenschicht funktionieren, lassen sich auch mehrschichtige Netzwerke trainieren oder gar solche, bei denen die Knoten zyklisch miteinander verbunden sind.

Netze in semantischen Räumen

Am einfachsten läßt sich der Aufräum-Mechanismus mit einer Rückkopplungsschleife realisieren. Die Ausgabe der Semem-Knoten wandert zu den Aufräum-Neuronen, und deren Ausgabe dient wiederum als Eingabe für die Semem-Knoten. Bei jedem Kreislauf beeinflussen die Aufräum-Knoten die Semem-Knoten (und umgekehrt) so, daß das Muster der semantischen Eigenschaften dem korrekten immer ähnlicher wird (Bild 4).

Die Rückkopplungsschleife ändert das Verhalten unseres neuronalen Netzes. Das ursprüngliche Netzwerk war statisch: Zu einer bestimmten Eingabe erzeugte das Netz ein entsprechendes Ausgabemuster, und dieses Muster änderte sich nicht, solange die Eingabe gleich blieb. Hingegen ist die Ausgabe des neuen Netzes dynamisch: Sie bewegt sich schrittweise auf ein stabiles Muster zu (Bild 5).

Darum stellen wir uns die Ausgabe nicht bloß als Liste aktiver semantischer Eigenschaften vor, sondern als eine Bewegung durch einen vieldimensionalen semantischen Raum, dessen Koordinaten durch alle semantischen Eigenschaften definiert sind, die das Netzwerk darzustellen vermag. Jeder Punkt im Raum entspricht einem bestimmten Aktivitätsmuster der Semem-Knoten, aber nur wenige Muster stellen gültige Bedeutungen dar: Die korrekten Wortbedeutungen sind Punkte im semantischen Raum.

So gesehen nehmen also die ersten drei Schichten des Netzes eine Wortform und wandeln sie in eine Position im semantischen Raum um. Die Aktivität der Aufräumschicht zieht dann die Ausgabe des Netzes zu dem Punkt, welcher der nächstliegenden Bedeutung entspricht. Das Gebiet um jedes Wort herum heißt bei Physikern und Mathematikern Punktattraktor: Wenn die anfängliche Ausgabe innerhalb einer bestimmten Region auftaucht, wird der Netzzustand unaufhaltsam zu einem bestimmten Punkt im Gebiet gezogen (Bild 6).

Anhand eines semantischen Raumes mit darin verteilten Punktattraktoren, die Wortbedeutungen repräsentieren, läßt sich besser verstehen, wie unser Netz funktioniert und warum es dieselben semantischen Fehler wie ein Patient mit Dyslexie machen kann.

Beschädigen wir zum Beispiel das Netz, indem wir die Gewichte im Aufräum-Mechanismus zufällig verändern, so verschiebt sich die Grenze des Attraktorgebiets für jedes Wort. Hält sich das Netzwerk in einer Region des semantischen Raumes auf, wo es vorher zu einem bestimmten Wort gezogen wurde, so bewegt es sich jetzt möglicherweise auf ein anderes, semantisch verwandtes Wort zu.

Wenn wir hingegen die von der Eingabe kommende Bahn unterbrechen, liegt die Ausgabe des Netzes vielleicht von Anfang an näher bei der Bedeutung eines semantisch verwandten Wortes als bei der des eigentlich dargebotenen. Diese Erkenntnis löst ein Haupträtsel der Tiefendyslexie, nämlich warum die Schädigung beliebiger Teile der semantischen Route im Gehirn im wesentlichen ähnliche Störungsmuster beim Lesen hervorruft. Neurologen und andere Forscher haben sich gefragt, wie eine Schädigung nahe der Eingabe – dem visuellen Teil des Lesesystems – semantische Fehler erzeugen kann. Nach unserem Modell entstehen diese Fehler ganz zwanglos, weil die Aufräum-Neuronen bei dem Versuch, die Ausgabe der gestörten früheren Verarbeitungsschritte zu verstehen, semantische Informationen benutzen.

Der Begriff Attraktor erklärt zudem ein weiteres Phänomen. Fast allen Patienten, die semantische Fehler machen, unterlaufen auch visuelle – sie verwechseln ein Wort wie cat mit dem visuell ähnlichen cot. Sie machen jedoch nicht die bei Oberflächendyslexie typischen Aussprachefehler, also etwa „loave“ (im Englischen gesprochen wie „louw“) für love (Liebe; gesprochen „law“) oder „deef“ (gesprochen „dif“) für deaf (taub; gesprochen „def“). Diese feste Verbindung von semantischen und visuellen Fehlern ist merkwürdig, denn bei manchen Patienten sind nur die späteren Verarbeitungsstufen geschädigt, und man würde darum erwarten, daß sie nur semantische Fehler begehen.

An unserem neuronalen Netz entdeckten wir nun zu unserer Überraschung, daß eine Beschädigung des semantischen Aufräumsystems manchmal visuelle Fehler bewirkte. Im nachhinein verstehen wir den Grund: Die ersten Schichten eines unbeschädigten Netzwerks können es sich leisten, relativ ähnliche Ausgaben für die Wörter cat und cot zu produzieren, weil die Aufräum-Schleife jede zu ihrer korrekten Bedeutung steuern wird. Doch wenn der Aufräum-Mechanismus beschädigt wird und sich dadurch die Form der Attraktorgebiete ändert, kann die Ausgabe der Semem-Knoten ohne weiteres zum Attraktor eines visuell ähnlichen, aber semantisch nicht verwandten Wortes wandern.

Anfangs kamen wir nicht auf diese Erklärung, denn sie setzt voraus, daß die Grenzen der Attraktoren für cat und für cot einander sehr nahe kommen können, obwohl die beiden Wörter semantisch völlig unähnlich sind; man würde erwarten, daß die Attraktoren vieler anderer Bedeutungen dazwischen liegen. In einem zweidimensionalen Raum stimmt das auch: Wenn wir 40 zufällige Punkte als Repräsentanten von Wortbedeutungen wählen und um jeden Punkt einigermaßen kompakte Attraktorgebiete konstruieren, kommen sich die Attraktoren für unähnliche Begriffe nirgends nahe. Für Räume mit vielen Dimensionen gilt das aber keineswegs. Unser Netzwerk repräsentiert mit seinen Semem-Knoten 68 semantische Eigenschaften; also liegen die Attraktoren für jedes der 40 Wörter in einem 68-dimensionalen Raum.

Wie sich zeigt, liegt in 68 Dimensionen der Mittelpunkt der Strecke zwischen zwei zufällig gewählten Punkten fast immer näher bei diesen beiden Punkten als bei irgendeinem der anderen 38 Zufallspunkte. Darum können die Attraktoren für cat und cot eine gemeinsame Grenze haben, ohne daß ihnen andere Attraktoren ins Gehege kommen – in einem 68-dimensionalen Raum ist es leicht, Hindernissen auszuweichen.

Obgleich unser Netzwerk sowohl die korrekte als auch die gestörte Abbildung von Wortformen auf Bedeutungen zu reproduzieren vermag, heißt das nicht, daß es deswegen schon die einzig mögliche Architektur für die semantische Verarbeitungsroute des Gehirns hätte. Um den Bereich möglicher Alternativen abzustecken, untersuchten wir, wie Beschädigungen sich auf andere Architekturen auswirkten, bei denen jeweils ein bestimmter Aspekt der Netzkonstruktion variiert worden war.

Wir programmierten Versionen des neuronalen Netzes, in denen die Semem-Knoten untereinander zusammenhingen, und andere ohne solche Verbindungen; wir programmierten Netzwerke, in denen jedes Neuron einer Schicht mit jedem der nachfolgenden Schicht verbunden war, und andere, die nur dünn vernetzt waren. Zusätzlich verschoben wir die Aufräum-Knoten so, daß sie ihre Arbeit vor den Semem-Knoten erledigten, und kombinierten sie mit der Zwischenschicht. Wir änderten sogar die Anordnung der Neuronen in der Eingabeschicht, um die Wortrepräsentation zu verändern, und fügten ein Ausgabe-Netz hinzu, das Bedeutungen in Phonemfolgen umwandelte, so daß das System tatsächlich sprechen konnte (Bild 7).

Subtile Fehler

Die meisten architektonischen Details sind irrelevant. Die spezielle Form, in der die visuelle Eingabe repräsentiert wird, ist unwichtig, solange visuell ähnliche Wörter auch ähnliche Aktivitätsmuster in der Eingabeschicht erzeugen. Entscheidend ist nur, daß Attraktoren da sind: Wenn es hinter der Schadensstelle keine Aufräum-Neuronen gibt, zeigt das Netzwerk nicht das für Tiefendyslexie typische Störungsbild.

Interessanterweise reproduziert unser Netzwerk nicht nur die offensichtlichen visuellen und semantischen Fehler der Tiefendyslexie, sondern ahmt auch subtilere Phänomene nach. Zum Beispiel machen Patienten gelegentlich Fehler, bei denen einer visuellen Verwechslung eine semantische zu folgen scheint. G.R. las zum Beispiel sympathy (Sympathie) als „Orchester“ – vermutlich über symphony (Symphonie). Auch unser Netzwerk produziert solche Fehler, indem es manchmal cat als „bed“ (Bett) liest, vermittelt durch cot (Feldbett).

Wird unser Netz sehr stark beschädigt, zeigt es einen seltsamen Effekt, wie er auch bei Patienten mit schweren Läsionen auftritt; ihre semantischen Repräsentationen sind derart deformiert, daß sie überhaupt keine Worte mehr finden können. Aber obwohl sie nicht mehr imstande sind, das vorgelegte Wort zu identifizieren, vermögen sie oft dennoch zu entscheiden, in welche semantische Kategorie es fällt – zum Beispiel „Tier“ oder „Nahrungsmittel“.

Unter ähnlichen Umständen findet unser Netzwerk nicht mehr den einen Attraktor, der einem bestimmten Wort entspricht – immerhin können die Attraktoren für mehrere Wörter zu einem verschmolzen sein. Trotzdem stabilisiert sich die Ausgabe des Netzes innerhalb eines größeren Volumens des semantischen Raumes, in dem einst das korrekte Wort und seine Verwandten lagen. Deswegen kann auch bei starker Störung wenigstens die Kategorie des Wortes richtig bestimmt werden.


Abstrakte und konkrete Begriffe

Ein von unseren Modellen anfänglich nicht berücksichtigtes Symptom der Tiefendyslexie ist, daß den Patienten beim Lesen abstrakte Wörter schwerer fallen als konkrete. Dieses Phänomen scheint fest zum Krankheitsbild zu gehören, denn Abstraktheit – eine semantische Eigenschaft – erhöht die Wahrscheinlichkeit visueller Fehler. Außerdem neigen die Patienten bei solchen Lesefehlern dazu, ein konkreteres Wort auszusprechen als das tatsächlich angebotene. Unser Versuch, diesen Effekt zu simulieren, beruht auf einer Hypothese, die unter anderen Gregory V. Jones von der Universität Warwick in England formuliert hat: Patienten mit Tiefendyslexie können konkrete Wörter leichter lesen, weil diese eine festere und detailliertere Bedeutung wachrufen. Für unser Netzwerk heißt das: Ein konkretes Wort hat mehr semantische Eigenschaften als ein abstraktes.

Zum Beispiel hat post (Pfosten) 16 Eigenschaften, die von „einen halben bis zwei Meter groß“ bis „verwendet für Freizeit und Spiel“ reichen. Hingegen gibt es zu past (Vergangenheit) nur zwei Eigenschaften: „hat Dauer“ und „bezieht sich auf eine frühere Zeit“. Wir konstruierten nun ein neues Vokabular aus 20 Paaren von Wörtern mit je vier Buchstaben; sie unterschieden sich in nur einem Buchstaben, wobei immer das eine Wort abstrakt und das andere konkret war. Im Mittel hatten die konkreten Wörter viermal so viele semantische Eigenschaften wie die abstrakten.

Nachdem wir das Netz auf das Aussprechen der neuen Wörter trainiert hatten, stellten wir fest, daß die abstrakten immer dann benachteiligt waren, wenn das Netz schon vor den Aufräum-Knoten Schäden aufwies. Die konkreten Wörter verursachen weniger Fehler, weil ihre semantischen Aktivitätsmuster redundanter sind; darum steht den Aufräum-Knoten mehr Struktur zur Verfügung, um das Netz auf die richtige Bedeutung hinzusteuern. Hingegen sind die abstrakten Wörter wegen der geringeren Redundanz ihrer semantischen Muster mehr auf die Vorwärtskopplung (die direkte Verarbeitung ohne Rückkopplung) angewiesen, und dabei sind die visuellen Einflüsse am stärksten.

Da das korrekte Erkennen konkreter Wörter stärker auf der Aufräum-Schleife beruht, bewirken schwere Schäden in diesem Bereich eine überraschende Umkehrung: Das beschädigte Netzwerk liest konkrete Wörter weniger gut und produziert mehr visuelle Fehler als bei abstrakten. Dieser Typ von Läsion und Störungsbild paßt zu dem einzigartigen Fall einer Dyslexie bei konkreten Wörtern, den Elizabeth K. Warrington am National Hospital in London untersucht hat. Diesem Patienten fiel es nicht nur viel schwerer, konkrete Wörter zu lesen als abstrakte, sondern er konnte auch gesprochene abstrakte Wörter besser Bildern zuordnen. Das deutet darauf hin, daß sein Problem auf der Ebene des semantischen Systems lag.

Unsere Erklärung des Störungsmusters bei Tiefendyslexie beruht auf einem neuronalen Netz, das eine Repräsentation (die visuelle Wortform) in eine andere, beliebig damit zusammenhängende (eine Menge semantischer Eigenschaften) transformiert. Ähnliche Fehlermuster sollte man bei der Schädigung anderer kognitiver Prozesse erwarten, die eine beliebige Transformation in einen oder aus einem semantischen Raum bewirken. Tatsächlich haben Neuropsychologen bei Tiefendysgraphie (einer Schreibstörung) und Tiefendysphasie (einer Störung beim Nachsprechen) verwandte Störungsbilder beschrieben.

Diese zusätzlichen Indizien sprechen dafür, daß unser Modell einen größeren Gültigkeitsbereich hat als ursprünglich angenommen. Vor allem markiert es den erfolgreichen Einsatz einer neuen Technik zu Erforschung der Hirntätigkeit.

Experimentelle Neuropsychologie

Unsere Arbeit unterscheidet sich von anderen Erklärungen der Tiefendyslexie (und – mit wenigen Ausnahmen – aller anderen neuropsychologischen Phänomene) durch die Art der Hypothesenbildung. Statt jede Komponente eines komplexen neuronalen Mechanismus verbal zu charakterisieren und dann rein intuitiv vorherzusagen, wie eine Schädigung ihr Verhalten beeinflussen werde, simulieren wir diesen Mechanismus, beschädigen ihn und beobachten, was geschieht. Wir haben dabei immer wieder Überraschungen erlebt. Darum werden für die Frage, wie das Gehirn normalerweise sprachliche Information verarbeitet und wie diese Funktionen durch Verletzung oder Krankheit gestört werden, detaillierte Computersimulationen vermutlich künftig eine entscheidende Rolle spielen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1993, Seite 68
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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