Direkt zum Inhalt

Internationale Wissenschafts- und Technologiepolitik - eine Bilanz der OECD

Nachdem die Industriestaaten in der Nachkriegszeit ihre Wissenschaftssysteme neu aufgebaut und in den siebziger und achtziger Jahren politisch, wirtschaftlich und militärisch konkurriert hatten, scheint die Wissenschafts- und Technologiepolitik nun in eine dritte Phase eingetreten zu sein: Sie stellt sich in den Dienst der Gesellschaft und der internationalen Völkergemeinschaft. Diese Akzentverschiebung meint die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit einer umfangreichen Analyse belegen zu können.

Die meisten der 25 OECD-Länder – Westeuropa einschließlich der Türkei sowie Japan, die USA, Kanada, Mexiko, Australien und Neuseeland – haben trotz der wirtschaftlichen Rezession in den letzten Jahren den Anteil der Finanzmittel für Wissenschaft und Technologie an den öffentlichen Gesamtausgaben nicht gekürzt. Sie hoffen vielmehr, mittels Forschung und Entwicklung ihre ökonomischen Schwierigkeiten überwinden zu können, auch wenn ihnen die Aufwendungen dafür schwerfallen.

Diese gleich eingangs der 1995 erschienenen OECD-Studie "Wissenschafts- und Technologiepolitik – Bilanz und Ausblick 1994" getroffene optimistische Diagnose wird freilich umgehend relativiert: Zur Behebung der aktuellen weltwirtschaftlichen und politischen Probleme seien keine Lösungen, sondern nur Ansätze dazu gefunden worden; und in vielen Ländern – insbesondere in Deutschland und Frankreich – seien die öffentlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung 1994 längst nicht so stark gestiegen wie in den Vorjahren. Lediglich Japan und die Vereinigten Staaten wollten gleich viele Mittel oder sogar noch mehr zur Verfügung stellen.


Technologie und Handel

Für Deutschland bestätigt das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) diese Tendenz in seinen soeben veröffentlichten statistischen Informationen für die Jahre 1992 bis 1995. Demnach erreichten zwar die Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen – die den größten Anteil an den Wissenschaftsausgaben ausmachen – 1995 mit 16,8 Milliarden Mark wieder das Niveau von 1993; doch war damals gegenüber 1992 ein Rückgang um 2,8 Prozent zu verzeichnen gewesen. Erst der Haushaltsentwurf für 1996 sieht vor, dies durch einen Anstieg um 2,8 Prozent gegenüber 1995 einigermaßen auszugleichen. Generell zieht die OECD das Fazit, die wirtschaftliche Position Europas im internationalen Wissenschafts- und Technologiewettstreit werde geschwächt.

Eine Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Technologie und Handelsergebnissen belegt dies. So exportieren die Vereinigten Staaten und Japan im Bereich der Hochtechnologie mehr Güter in die Europäischen Union als umgekehrt. Diese ist vor allem wegen ihrer schwachen Position in der Elektronik- und Computerindustrie von den beiden anderen bedeutenden Wirtschaftsregionen der sogenannten Triade (bestehend aus Europa, Nordamerika sowie Japan mit den asiatischen Schwellenländern) abhängig.

Japan beispielsweise hat seine Exportanteile in der Hochtechnologie binnen fünfzehn Jahren verdoppelt und bei den Wettbewerbsvorteilen das nordamerikanische Niveau erreicht. Westdeutschland hingegen übertrifft nur in den Bereichen "mittlere bis hohe" sowie "mittlere bis niedrige Technologie" den Durchschnitt aller OECD-Staaten; die Spezialisierung der alten Bundesländer im Bereich der Hochtechnologie hat seit 1970 kontinuierlich abgenommen.

Die deutsche Gesamthandelsbilanz sei zwar noch aktiv, dies verdecke aber "eine aufziehende Schlechtwetterfront", kritisierte der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Hans-Olaf Henkel, am 23. Oktober 1995 vor der Stiftung Industrieforschung in Bonn. Ihm zufolge werde das Geld mit auslaufenden und bereits lange reifen Produkten verdient. Der deutsche Anteil an den Patenten der Spitzentechnik sei nicht nur geringer als der japanische oder der nordamerikanische, sondern er nehme immer weiter ab, während jener der Konkurrenten steige.

Diese Innovationsschwäche ließe sich im Prinzip mit einem Argument der OECD-Studie entschuldigen, wonach das Niveau der Forschung und Entwicklung nicht direkt und systematisch die Handelsergebnisse eines Industriezweiges bestimmt. Es sei zwar ein wichtiger Schlüsselfaktor für die industrielle Wettbewerbsfähigkeit, aber nur einer von mehreren gleich bedeutenden. Außer dem absoluten oder relativen Niveau bestimmter Investitionen sei nämlich "bisher kaum untersucht worden, welche Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Arten von physischen und immateriellen Investitionen bestehen und wie diese die Wettbewerbsfähigkeit beeinflussen". Das müsse weiter erforscht werden. Doch läßt sich die deutsche Innovationsschwäche schwerlich mit einer solchen Forschungslücke schönreden.

Deshalb mahnte der BDI-Präsident die deutsche Industrie nicht nur zu mehr Initiative im Bereich Forschung und Entwicklung; sie müsse zudem in der Qualität – etwa Kundenfreundlichkeit und Service-Orientierung – mit den Konkurrenten gleichziehen, die Deutschland in dessen einstigem Monopolbereich in vielen Sparten eindeutig überholt hätten.

Der Bericht der OECD ist in vier Teile gegliedert. Ein Überblick über die staatliche Forschungs- und Entwicklungspolitik in den einzelnen Mitgliedsländern informiert über die jeweiligen Mittel, Programme, Reformen und forschungspolitischen Profile sowie über die internationale Zusammenarbeit. Der zweite Teil ist den wirtschaftlichen Zusammenhängen von Wissenschaft und Technologie gewidmet. Je zwei Kapitel gelten der Entwicklung außerhalb des OECD-Wirtschaftsraumes und "ausgewählten Fragen" der Großforschung und der Biotechnologie. Ergänzend dazu ist ein gegenüber früheren Ausgaben wesentlich erweitertes und vertieftes tabellarisches Werk der OECD "Main Science and Technology Indicators" für 1995 erschienen, das die neuesten Zahlen über Ausgaben und Personal für Forschung, Hochschulbildung und industrielle Forschung und Entwicklung enthält.


Im Mittelpunkt: die Großforschung

Der zuständige OECD-Ausschuß hat sich während einer Ministertagung am 26. und 27. September 1995 mit wesentlichen Problemen der Wissenschafts- und Technologiepolitik befaßt. Gefordert werden unter anderem institutionelle Reformen im Verhältnis von Forschungseinrichtungen und Wirtschaftsunternehmen sowie eine intensivere internationale Zusammenarbeit bei wissenschaftlichen Großprogrammen.

Vorarbeiten dazu leistete das Megascience-Forum, das der OECD-Wissenschaftsausschuß 1992 eingerichtet hatte. Es untersuchte die Forschungsfelder, in denen wissenschaftliche Großprojekte eine Schlüsselrolle spielen: Astronomie, kontinentale Tiefbohrungen, Erforschung des globalen Wandels, Ozeanographie, Neutronenstrahlung, Synchrotronstrahlungsquellen und Teilchenphysik. Das Forum, das für weitere drei Jahre verlängert wurde, soll weiterhin die Regierungen in Fragen der internationalen Arbeit informieren, Probleme und Hindernisse bei Großforschungsprojekten analysieren und die Öffentlichkeit über Bedeutung und Wert der internationalen Kooperation bei Großforschungsprojekten unterrichten. Hinzu kommt künftig auch die Förderung multilateraler Zusammenarbeit bei Großprojekten.

Der OECD-Bericht schildert kritisch die Problematik der Großforschung, die er "Megaprojekte" nennt, und ihre Organisation in verschiedenen Ländern. Seine Schlußfolgerung: Die Wissenschaftspolitiker müßten nicht nur die Ausgaben der Großforschung besonders aufmerksam kontrollieren, sondern vor allem zwischen den miteinander konkurrierenden Forschungsinteressen ein zufriedenstellendes Gleichgewicht wahren, denn hier vollziehe sich derzeit möglicherweise eine "Akzentverlagerung weg von der einigermaßen sterilen Debatte ‰Großforschung kontra Kleinforschung' und hin zu der schwierigen Frage einer Prioritätenordnung für die verschiedenen Wissenschaftsprojekte sowie zu dem Problem, daß manche Disziplinen vielleicht nur auf Kosten anderer mit den hinreichenden Finanzmitteln versehen werden können".

Dazu führt der Bericht ein Beispiel an: Die informierte Öffentlichkeit anerkenne zwar Wissenschaft und Technologie als wichtige Faktoren für Wirtschaftswachstum und bessere Lebensqualität, doch könnte ihr jetzt schon starker Druck weiter zunehmen, "vorzugsweise Forschungen zu betreiben, die ganz konkrete Ergebnisse bringen in bezug auf Wirtschaftswachstum, Umweltschutz und Verbesserungen im Gesundheitswesen".

Damit ist auch die in Deutschland seit einiger Zeit geführte Debatte über die Rolle der Großforschungseinrichtungen im Wechselspiel von Grundlagen-, anwendungs- und industrieorientierter Forschung angesprochen (siehe Spektrum der Wissenschaft, September 1994, Seite 121). Die offizielle Umwandlung der Arbeitsgemeinschaft der Großforschungseinrichtungen (AGF) in die Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren (HGF) am 13. November 1995 in Berlin (siehe Spektrum der Wissenschaft, August 1995, Seite 105) bildet vor allem mit der Einrichtung des für grundsätzliche Fragen der Forschungsstrategie zuständigen Senats eine wichtige Voraussetzung, daß in der Bundesrepublik die von der OECD geforderte Akzentverlagerung vollzogen wird.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1996, Seite 122
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Kennen Sie schon …

Spektrum Kompakt – Eine Frage des Vertrauens

Vertrauen - in sich und in andere - ist eine Grundlage des sozialen Miteinanders. Dabei steht es im ständigen Wechselspiel mit Vernunft und Intuition, Wissen und Erfahrung.

Spektrum - Die Woche – Der Sommer hat dem Wald zugesetzt: Was jetzt?

In dieser Ausgabe widmen wir uns dem Machtmissbrauch, Wäldern und Quanten.

Spektrum - Die Woche – Wie schön ist das Universum?

In dieser Ausgabe widmen wir uns dem All, der Politik und der Erde.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.