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Vor dem Einbruch der Multimedia-Kultur - Leseforscher überprüfen die Bestände

Inzwischen liegt auch der zweite Teil einer 1989 begonnenen internationalen Vergleichsstudie der Stiftung Lesen vor. Daten aus insgesamt 16 Ländern belegen, daß die Lesekultur durch die Konkurrenz der elektronischen Medien zwar nicht zerfällt, aber doch bedroht ist.

Der Einfluß der Medien mache sich im Zusammenhang mit Konzentrationsschwächen von Schülern ebenso deutlich, wie die sprachliche Verrohung auf den nachlassenden Erziehungseinfluß der Familie hinweise, konstatierte die vormalige baden-württembergische Kultusministerin Marianne Schultz-Hector zu Anfang dieses Jahres. Erforderlich sei eine Kultur des Redens und des Zuhörens sowie der einfühlsamen Aufmerksamkeit für andere. Damit bestätigte sie die beunruhigende Beobachtung von Grundschullehrern, nach der vor allem bei Kindern, die ihre Freizeit mit Computerspielen verbringen, die Ausdrucksfähigkeit so weit vermindert ist, daß sie meist nur noch in Ein-Wort-Sätzen reden.

Experten sind sich indes einig darüber, daß selbst im beginnenden Multimedia-Zeitalter schriftliche Ausdrucksmöglichkeit und Lesekompetenz eher an Bedeutung zunehmen. Wie aber ist es um die Bereitschaft der Gesellschaft bestellt, sich trotz der Verlockungen von immer zahlreicheren Fernsehprogrammen und Computerspielen mit den anstrengenderen Lesemedien zu befassen?


Lesen im internationalen Vergleich

Der Stellenwert des Lesens in der Mediengesellschaft ist schon lange Gegenstand der Forschung. Bereits 1977 hat die Stiftung Lesen – unter dem damaligen Namen Deutsche Lesegesellschaft – ihre Arbeit aufgenommen. Im Jahre 1989 begann sie schließlich im Auftrag des Bundesmininsteriums für Bildung und Wissenschaft mit einer Studie zum Forschungs- und Wissensstand über Lesen und Nichtlesen im internationalen Vergleich. Nach einer ersten Bestandsaufnahme für sieben westliche Industrieländer (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, August 1992, Seite 115) liegt nun auch der zweite Teil des Gutachtens vor, an dem zahlreiche Forscher aus dem In- und Ausland beteiligt waren; diesmal wurde das Leseverhalten in Dänemark, Finnland, Israel, Japan, Kanada, den Niederlanden, Rußland, Schweden, Spanien und den USA untersucht ("Lesen im internationalen Vergleich", Teil 2, Quintessenz-Verlag, München 1994).

Während sich die meisten dieser Länder hinsichtlich des Leseverhaltens und -standards nur wenig unterscheiden – der sogenannten Drittelformel zufolge gibt es überall etwa gleich viele Gewohnheits-, Gelegenheits- und Nichtleser –, ist der Nachholbedarf beispielsweise in Spanien beträchtlich: 38 Prozent der dortigen Bevölkerung verfügen nicht einmal über eine Mindestschulbildung, können also entweder gar nicht oder nicht ausreichend schreiben oder lesen; die Nichtleser-Quote ist deshalb mit 40 Prozent überdurchschnittlich hoch. Zwar sind in Spanien Zeitungen und Zeitschriften weiter verbreitet als Bücher, doch 35 Prozent der Bevölkerung nutzen auch diese Lesemedien nie; nur 48 Prozent der Männer und 44 Prozent der Frauen in dem südeuropäischen Land lesen überhaupt in Büchern.

Die Studie zieht denn auch für Spanien das Fazit, daß die Kulturtechnik Lesen dort einen schweren Stand habe: "Bücher und Lesen scheinen nicht als wertvolle Informationsquellen betrachtet zu werden; diese Rolle wird eher dem Fernsehen zuerkannt."

Anders im europäischen Norden: Finnland erscheint geradezu als Eldorado der Lesekultur. Sowohl was die Anzahl der veröffentlichten Titel als auch die der gedruckten Exemplare pro Kopf der Bevölkerung betrifft, nimmt die finnische Buchproduktion seit Jahrzehnten einen Spitzenplatz in Europa ein. Der Anteil der Leser an der Gesamtbevölkerung ist im internationalen Vergleich außergewöhnlich hoch. In einer bewertenden Untersuchung zur Lese- und Schreibfertigkeit, welche die International Association for the Evaluation of Education Achievement (IEA) 1992 in 32 Staaten durchgeführt hatte, schnitten finnische Kinder und Jugendliche am besten ab.

Über die Gründe kann auch die Soziologin Katarina Eskola von der Universität Jyväskylä, die das Kapitel "Lesen und Lesestudien in Finnland" verfaßt hat, nur mutmaßen: "Finnland ist ein dünn besiedeltes Land. Möglicherweise ist es genau diese Art von Umgebung, in der Literatur zusätzlich zu persönlichen Kontakten und wechselseitiger sozialer Interaktion zu einem besonders wichtigen Faktor der Gemeinschaftsbildung wird." Außer der besonderen geographischen und klimatischen Situation, wodurch "die Menschen in langen, kalten und dunklen Wintern länger in den Häusern bleiben" als in Mittel- oder Südeuropa, könnte auch eine weitere skandinavische Eigenheit zur guten Lesefertigkeit der finnischen Kinder und Jugendlichen beitragen: "Ausländische Filme werden nicht synchronisiert, sondern mit Untertiteln versehen; folglich ist es erforderlich, schnell und fließend lesen zu können."

Weil der Leseforscher Mogens Jansen für dänische Kinder ähnliches vermutet, könnte nur empirische Forschung Klarheit verschaffen. Das Fernsehen als Lesetrainer – letztlich vielleicht doch nicht zu schön, um wahr zu sein? Indes hat auch in Finnland etwa ein Fünftel der Bevölkerung keine Beziehung zur Literatur, und 26 Prozent geben an, sie hätten im vergangenen Jahr kein Buch gelesen.

Ähnliche Zurückhaltung üben die Niederländer: 21 Prozent der dortigen Grundschüler verfügen nur über eine mangelhafte Lesekompetenz, 25 Prozent der Bevölkerung lesen und 40 Prozent kaufen keine Bücher (Bild 1 rechts). Die entsprechende Studie weist auf eine beträchtliche Zunahme des Fernsehangebots zwischen 1975 und 1985 hin; die Lesezeit habe sich dadurch in diesem Zeitraum von im Mittel sechs auf fünf Wochenstunden reduziert. Den größten Rückgang sehen die niederländischen Forscher zwar bei den Lesern von Zeitschriften, doch auch die Lektüre von Tageszeitungen und Büchern sei rückläufig: "Es läßt sich feststellen, daß Fernsehen auf Kosten des Lesens geht."

Ein anders akzentuiertes Bild bietet Israel, wo die unter Leitung von Elihu Katz von der Hebräischen Universität Jerusalem durchgeführte Wiederholungsstudie "Kultur und Kommunikation in Israel" von 1970 bis 1990 einen leichten Aufwärtstrend bei der Titelproduktion und einen Abwärtstrend beim Lesen belegt, insbesondere bei jungen Leuten mit hohem Bildungsstand (Bild 2). Wie in anderen Ländern, in denen man eher den Anregungs- statt den Verdrängungseffekt des Fernsehens hervorhebt, weisen auch diese Untersuchungen darauf hin, daß die unterschiedlichen Medien Bücher und Fernsehen die psychosozialen Bedürfnisse nicht im gleichen Maße befriedigen: "Durch die Verbreitung der elektronischen Medien wurden die Printmedien nicht verdrängt."


Zunehmender Analphabetismus?

Ein direkter länderübergreifender Vergleich von zentralen statistischen Indikatoren für den Lesestandard einer Bevölkerung wie Leserquote, Lesefrequenz und Anteil des funktionalen Analphabetismus ist nur selten möglich, weil die Daten – wenn überhaupt – mit unterschiedlichen Methoden erfaßt werden. Die zuverlässigsten Angaben zu dem in den vergangenen Jahren auch hierzulande diskutierten funktionalen Analphabetismus – den Schwierigkeiten Erwachsener beim Lesen und Schreiben in der Muttersprache – sind für die USA verfügbar, wo regelmäßig bei großen Bevölkerungsgruppen wie etwa College-Absolventen und Wehrdienstleistenden Lesetests durchgeführt werden.

Von den Vereinigten Staaten gingen 1984 auch die ersten alarmierenden Signale aus, als auf der Grundlage eines von der "Commission on Reading" vorgelegten Berichts der Anteil funktionaler Analphabeten in der Bevölkerung auf 10 Prozent – entsprechend 23 Millionen Männern und Frauen – anzusetzen war. Etwa 44 Prozent waren der Kategorie der aliterates zuzuordnen, konnten also zwar lesen, praktizierten dies aber nicht oder nur gezwungenermaßen.

In seinem neuen Gutachten über die USA stellt Steven A. Stahl, Professor an der Universität von Georgia in Athens, fest: 30 Prozent aller High-School-Schüler lesen nie zum Vergnügen. Dabei sei gerade in einer postindustriellen Gesellschaft wie der in den USA ein hohes Maß an Lesefähigkeit vonnöten. Weil handlungsorientierte Arbeitsplätze zugunsten von informationsorientierten verlorengehen, müßten mehr Arbeitnehmer fähig sein, mit gedrucktem Material umzugehen, es auszuwerten und komplexe Texte lesend zu verstehen. Sowohl für die beruflichen Bedürfnisse als auch für die Teilnahme am politischen Leben sei ein höheres Maß an Lesefertigkeiten unabdingbar. Gerade hierbei allerdings haben die Amerikaner, wie die Untersuchungen zeigen, zunehmend Probleme.


Fazit

Die wichtigsten Ergebnisse der von der Stiftung Lesen nun in insgesamt 16 Industriestaaten durchgeführten Vergleichsstudie lassen sich in vier Punkten zusammenfassen:

- Messungen zur Lesefertigkeit in den USA zeigen seit den sechziger Jahren eine abnehmende Tendenz oder zumindest Stagnation. Testreihen mit Schülern im Alter von 9 bis 17 Jahren ergaben, daß sich die Kluft zwischen guten und sehr schwachen Lesern nicht schließt, sondern eher vergrößert.

- Die gleiche Tendenz in der Entwicklung des Lesestandards ist auch für die mitteleuropäischen Industriestaaten anzunehmen. Wenngleich bisher keine breit angelegten Untersuchungen dazu durchgeführt worden sind, steht zu vermuten, daß das Lese- und Schreibniveau der Schulabgänger ebenfalls abgenommen hat.

- Tests und repräsentative Untersuchungen, die in den vergangenen zwanzig Jahren vorgenommen wurden, weisen darauf hin, daß der Standard der Lesefähigkeit in den Industrieländern mit Ausnahme Japans nicht mehr gesteigert werden konnte beziehungsweise leicht abgenommen hat.

- Übereinstimmend meinen die Autoren der vorliegenden Teilstudien, daß das Vorbild der Eltern in der Lese- und Mediensozialisation den größten Einfluß auf das spätere Medienverhalten der Kinder habe. Wenngleich die Schule der zentrale Ort des Erwerbs von Lesefähigkeit und -fertigkeit sei, so der Tenor der Untersuchungen, hänge die Wirksamkeit schulischer Leseförderung entscheidend von den familiären Voraussetzungen und den bereits im Vorschulalter erworbenen Mediengewohnheiten ab.

Den vielfach beschworenen Zerfall der Lesekultur bestätigen die Forschungsergebnisse nicht. Die in Deutschland und in einigen anderen europäischen Ländern sowie in Israel und in den USA verstärkten Aktivitäten zur Leseförderung zeigen inzwischen Wirkung. In anderen Staaten, vor allem in Finnland und – vor gänzlich anderem kulturellen Hintergrund – in Japan, hat Lesen als Kulturtechnik von jeher einen ungebrochen hohen Stellenwert (Bild 3).

Andererseits dürfen bedenkliche Erscheinungen wie die in mehreren Ländern festgestellte Abwendung gerade der jugendlichen Generation von dem Medium Tageszeitung nicht übersehen werden. Maßnahmen zur Leseförderung sind also weiterhin geboten.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1995, Seite 116
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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