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Gravitationslinsen: Abell 3827 und das Rätsel um die Dunkle Materie

Der überraschend komplexe Galaxienhaufen Abell 3827 zeigt, dass bei der Suche nach Dunkler Materie nichts so einfach ist, wie es scheint. Nun haben Fachleute eine neue Theorie aufgestellt.
Das Galaxiencluster Abell 3827 durch die Linse vom Hubble-Teleskop betrachtet
Ist das eine Galaxie oder sind es drei? Auf dem vom Hubble-Teleskop aufgenommenen Bild des massereichen Galaxienhaufens Abell 3827 befindet sich rechts eine höchst ungewöhnliche Galaxie – sie ist gekrümmt und hat drei Zentren.

Wer auf der Suche ist nach kosmischen Schmuckstücken, kommt an Abell 3827 nicht vorbei. Der extrem dichte Galaxienhaufen ist etwa 1,3 Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt und an Schönheit kaum zu übertreffen. Die Bilder des Hubble-Weltraumteleskops zeigen ein helles zentrales Quartett verschmelzender Galaxien, die wie Diamanten schimmern und auf einem azurblauen Verlobungsring thronen. Aber Abell 3827 bietet mehr als nur oberflächliches Funkeln und Glänzen – der Galaxiencluster übt dazu noch eine tiefe Anziehungskraft auf neugierige Astrophysikerinnen und -physiker aus.

Trotz seiner Leuchtkraft sind nur etwa 10 Prozent der Gesamtmasse sichtbar. Die restlichen 90 Prozent bestehen aus einer unsichtbaren Substanz, auch Dunkle Materie genannt. Diese Massenansammlung ist so groß, dass das Galaxiencluster die Raumzeit um sich herum krümmt und wie ein riesiges Vergrößerungsglas wirkt. Astronomen bezeichnen diesen Effekt als Gravitationslinse. Der hauchdünne, leuchtende »Verlobungsring«, der sich um das Zentrum des Haufens legt, ist in Wirklichkeit eine Reihe von verstärkten und verzerrten Abbildungen einer durch glücklichen Zufall perfekt mit dem dem Cluster in einer Linie liegenden, weit entfernten Hintergrundgalaxie. Theoretiker rätseln bereits seit einigen Jahren, was es mit den seltsamen, von dunkler Materie geformten Details dieser Mehrfachbilder auf sich hat.

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagt Jenny Wagner, eine theoretische Astrophysikerin, die am Bahamas Advanced Study Institute and Conferences (BASIC) den starken Gravitationslinseneffekt erforscht. »Als ich mir den Haufen genauer ansah, dachte ich: ›Irgendetwas stimmt hier nicht‹«, erinnert sie sich. »Ich konnte aber nicht genau sagen, was nicht stimmte.«

Auf Grund seines einzigartigen Aussehens ist Abell 3827 einer der besten Orte für die Erforschung der Dunklen Materie. Die geheimnisvolle Substanz macht insgesamt etwa 80 Prozent der Masse des Universums aus und ist für moderne kosmologische Modelle von zentraler Bedeutung. Dennoch konnte sie seit gut 90 Jahren nicht direkt nachgewiesen werden. Die genaue Kartierung der von den Gravitationslinsen erzeugten Lichtbögen und Mehrfachbildern, die Abell 3827 umgeben, ermöglicht es den Wissenschaftlern, den Haufen zu wiegen und zu bestimmen, wie viel Dunkle Materie er möglicherweise an welcher Stelle enthält.

Aber wie viele verzerrte Bilder gibt es von Abell 3827? Das hängt davon ab, wen man fragt. Mehr als ein Jahrzehnt lang haben viele Physikerteams weltweit versucht, jedes der einzelnen Bilder mit dem Auge zu identifizieren und zu verfolgen. Sie berichten von vier, sechs oder sogar acht Abbildern der Hintergrundgalaxie, die den Sternhaufen umkreist – wobei jede Anzahl eine etwas andere Verteilung der dunklen Materie bedeutet. Viele der scheinbaren Spiegelbilder sind auch ungewöhnlich gegeneinander verdreht.

Darüber hinaus haben frühere Forschungsarbeiten die Bewegungen der vier zentralen miteinander verschmelzenden Galaxien als mögliches Instrument identifiziert, um die Hypothese der mit sich selbst wechselwirkenden dunklen Materie zu prüfen, der so genannten SIDM (self-interacting dark matter). Dabei handelt es sich um eine hypothetische Variante der Dunklen Materie, die komplexere Strukturen bilden könnte als der Standardtyp, von dem man annimmt, dass er auf kosmischen Skalen weniger wechselwirkt. Aber auch hier sind die Forscher zu widersprüchlichen Schlussfolgerungen gekommen: Einige berichten von Beobachtungen, die mit SIDM zusammenpassen, andere wiederum finden nichts dergleichen.

»Stellen Sie sich vor, Sie haben eine belgische Waffel, die Sie sehr weit von sich weghalten; dann sieht sie aus wie ein Pfannkuchen. Aber je näher sie kommt, desto dicker erscheint sie«Jenny Wagner, theoretische Astrophysikerin

Trotz des enormen Potenzials von Abell 3827 bleibt der Galaxienhaufen für Fachleute, die seine verborgenen Vorgänge aufklären wollen, ein verwirrendes Durcheinander. »Es ist wie bei einer Massenkarambolage«, sagt Richard Massey von der englischen Durham University, der Abell 3827 in der Vergangenheit bereits im Detail untersucht hat. »Jeder, der Zeuge eines Unfalls wird, erzählt hinterher eine völlig andere Version der Ereignisse.«

Von Pfannkuchen und Waffeln

Nun haben Jenny Wagner und zwei ihrer Kollegen eine neue Theorie vorgeschlagen, die einige dieser Unstimmigkeiten ausräumen könnte. Die Forscher argumentieren, dass der wahre Schuldige die unerwartet komplexe Linsenmorphologie des Galaxienhaufens ist. Das Trio geht davon aus, dass Abell 3827 nicht »flach wie ein Pfannkuchen« ist, wie die üblichen Linsenmodelle annehmen, sondern wie eine dickere, dreidimensionale Linse mit entsprechend stärkeren Aberrationen auf dem projizierten, unscharfen Bilderkranz. »Stellen Sie sich vor, Sie haben eine belgische Waffel, die Sie sehr weit von sich weghalten; dann sieht sie aus wie ein Pfannkuchen«, sagt Wagner. »Aber je näher sie kommt, desto mehr werden Sie sehen, dass sie tatsächlich eine dicke Struktur entlang der Sichtachse aufweist.«

Forscher, die Galaxienhaufen untersuchen, die einen Gravitationslinseneffekt zeigen, haben der Einfachheit halber lange Zeit flache Pfannkuchenmodelle bevorzugt, weil die Dicke einer Linse vernachlässigbar ist im Vergleich zu den Milliarden Lichtjahren, die die meisten von der Erde entfernt sind. Dieser Ansatz könne jedoch nur die Scherung oder Streckung der Bilder erklären, nicht aber die rätselhaften Ausrichtungen, die in Abell 3827 zu sehen sind, sagt Wagner.

Die neue Theorie, die das Team kürzlich in den »Monthly Notices of the Royal Astronomical Society« veröffentlicht hat, beruht auf der Annahme, dass die Galaxien im zentralen Quartett nicht in einer Ebene liegen, sondern entlang der Sichtachse von der Erde aus verteilt sind. Das Licht der Hintergrundgalaxie werde also nicht, wie herkömmlich modelliert, sofort vollständig abgelenkt, sagt Wagner, sondern mehrfach über eine Entfernung von 46 Millionen Lichtjahren – die geschätzten Dicke des Galaxienhaufens Abell 3827. Nach der »Waffel«-Hypothese des Teams könnte eine Galaxie im zentralen Quartett, die deutlich näher an der Erde ist als der Rest, mitverantwortlich für die Verzerrungen sein. Frühere Untersuchungen haben gezeigt, dass drei der Galaxien wie Perlen an einer Schnur aufgereiht und alle etwa gleich weit von uns entfernt sind. Die vierte Galaxie scheint der Erde jedoch rund 32 Millionen Lichtjahre näher zu sein. Das Licht der Hintergrundgalaxie werde also höchstwahrscheinlich nicht nur einmal, sondern mindestens zweimal gebündelt, bevor es auf unsere Teleskope trifft, sagt Wagner.

Das Cluster sei ein »chaotischer Galaxienhaufen, der sich in einer noch nie dagewesenen Weise bewegt«, sagt Wagner. Künftige Beobachtungen, bei denen die Geschwindigkeiten der Galaxien im Verhältnis zueinander genau gemessen werden, würden daher helfen, diese Hypothese zu belegen. Sollte sich ihre neue Theorie bestätigen, würde dies auch die These untermauern, dass vermeintliche Anzeichen von SIDM, die zuvor in dem Haufen gesichtet wurden, besser als Produkte fehlerhafter Modelle für Dunkle Materie erklärt werden können. Möglicherweise müssen die Physiker diese Modelle auch dahingehend überarbeiten, dass sie die Gravitationslinseneffekte anderer lichtverzerrenden Galaxienhaufen einbeziehen. »Die Rolle weiterer Strukturen entlang der Sichtachse ist wichtig für die spätere Auswertung«, sagt Adi Zitrin, ein Experte für die Analyse von Galaxienhaufen an der Ben-Gurion-Universität in Israel. »In der Praxis vernachlässigen wir diese Frage allerdings oft, entweder weil wir die Dinge vereinfachen wollen oder weil uns die Daten fehlen.«

»Die Frage ist immer: Wie verrückt kann die Physik sein und wann liege ich einfach mit meiner Modellierung daneben?«Jenny Wagner, theoretische Astrophysikerin

Um die Verteilung der Mehrfachbilder um Abell 3827 besser kartieren zu können, entwickelten Wagner und ihr Team ein Bildanalysewerkzeug, mit dem sie automatisch Unterscheidungsmerkmale zwischen den verzerrten Lichthöfen identifizieren und zuordnen können. Als das Programm einige Merkmale, die in früheren Arbeiten beschrieben worden waren, nicht identifizieren konnte, führte das Team diese Diskrepanz auf frühere menschliche Fehler bei der Kartierung der Linsenbilder zurück – Fehler, die sich noch verstärkten, nachdem sie die Daten in neuere Modelle eingepflegt hatten. »Uns sollte bewusst sein: Wir haben Modelle, aber die haben ihre Grenzen«, sagt Wagner, »und die Frage ist für mich immer: Wie verrückt kann die Physik sein, und wann liege ich einfach mit meiner Modellierung daneben?«

Rätselraten und »Geisterklumpen«

Andere Fachleute stimmen zu, dass die derzeitigen Modelle für Dunkle Materie – von denen viele eine Gravitationslinse als flaches, zweidimensionales Objekt simulieren – anfällig für Fehler sind und zwangsläufig auf Vermutungen beruhen. Ein häufiges Problem bei den Modellen, wie Wagner und ihr Team feststellten, war das Vorhandensein von »Geisterklumpen« – anomale Massenansammlungen, die den Modellen nach um den Haufen herum existieren sollten, wo den Beobachtungen zufolge aber nur leerer Raum zu finden ist. Gemäß der »Waffel«-Hypothese sollte sich das Problem mit den Geisterklumpen lösen lassen, wenn den Modellen eine zweite Gravitationslinse hinzugefügt wird. Damit ließe sich die Dicke des Galaxienhaufens besser simulieren, sagt Wagner, obwohl »man eine neue Art der Linsenmodellierung etablieren müsste«, um es wirklich zu verifizieren.

Allerdings ist noch nicht jeder davon überzeugt, dass die neue Theorie die verwirrende Ansammlung von verzerrten Bildern von Abell 3827 zufrieden stellend erklären kann. Liliya Williams von der University of Minnesota, die den Galaxienhaufen ebenfalls untersucht hat, vermutet, dass die Mathematik, die hinter dem Bildanalyseprogramm von Wagner und ihren Kollegen steht, bei den Bildern des Galaxienhaufens versagt, da diese etwa viermal so groß sind wie die Bilder der meisten anderen bekannten Gravitationslinsen. »Ich frage mich, ob die Schlussfolgerung, dass es sich um eine dicke Linse handelt, daher rührt, dass die Methode über die Grenzen ihrer Anwendbarkeit hinausgeht«, sagt Williams.

Tim Hamilton von der Shawnee State University in Portsmouth, Ohio, sagt: »Ich weiß nicht, ob die Waffel-Interpretation wirklich die überzeugendste ist, aber ich denke, dass sie mindestens so plausibel ist wie andere Vermutungen, die es bisher gab«, sagt er. »Bei der Menge an Informationen, die wir zum jetzigen Zeitpunkt haben, ist dies wahrscheinlich die einfachste Art der Modellierung, ohne zusätzliche Komplikationen einzuführen.«

Im Gegensatz zu den Schlussfolgerungen von Wagner und ihrem Team sagen andere Experten, dass die Existenz von SIDM, die unterhalb unserer derzeitigen Nachweisgrenzen mit sich selbst wechselwirken könnte, noch nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Weitere Bilder des Galaxienclusters und seiner verblüffenden Mehrfachbilder werden den Astronominnen und Astronomen in Zukunft helfen, die Verteilung der Masse innerhalb von Abell 3827 besser zu kartieren.

Richard Massey, der viel an den Modellen gearbeitet hat, die Abell 3827 mit SIDM in Verbindung bringen, ist nach wie vor davon überzeugt, dass die Dunkle Materie zumindest in geringem Maß mit sich selbst interagieren muss, um überhaupt zu existieren. Dieses subtile und schwer fassbare Phänomen zu beobachten, das im verzerrten Licht ferner Galaxien zum Ausdruck kommt, so sagt er, »könnten wir vielleicht innerhalb des nächsten Jahrzehnts erreichen.«

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