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Aufmerksamkeitsstörung: »Menschen mit ADHS können Sinnesreize schlechter vereinen«

Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung haben ihre Augen und Ohren oft überall. Die Psychiaterin Alexandra Philipsen erklärt, warum das Gehirn der Betroffenen Reize anders verarbeitet – und was das für den Alltag bedeutet.
Abstrakte, unscharfe Stadtszene bei Nacht
ADHS erzeugt bei den Betroffenen oft ein Gefühl der Reizüberflutung. Studien zufolge kann das daran liegen, dass sie Sinnesreize anders verarbeiten.

Mit ADHS verbinden viele Menschen Verhaltensauffälligkeiten in Kindheit und Jugend. Dabei bleibt bei den meisten Betroffenen zumindest ein Teil der Symptome bis ins Erwachsenenalter bestehen. Sie äußern sich unter anderem durch innere Anspannung, Zerstreutheit und Probleme beim Zeitmanagement. Außerdem berichten Volljährige häufig von einem Gefühl der Reizüberflutung. Wie das zu Stande kommt, erforscht Alexandra Philipsen von der Universität Bonn. Im Interview erklärt sie, was im Gehirn der Betroffenen anders läuft und wie man am besten damit umgeht.

Spektrum.de: Frau Philipsen, die Natur hat uns mit einer Fähigkeit ausgestattet, die man Aufmerksamkeit nennt. Wozu ist sie gut?

Alexandra Philipsen: Zum einen hilft sie uns dabei, sensorische Prozesse effizient und Energie sparend zu steuern. Ich kann beispielsweise gezielt meinen Blick auf etwas richten, was mich interessiert. Sie ist zudem wichtig für viele kognitive Vorgänge: Ertönt etwa ein Geräusch im Hintergrund, kann ich es gedanklich ausblenden, aber ich kann mich ihm auch bewusst zuwenden. Im Grunde benötigen wir Aufmerksamkeit für unzählige Prozesse, zum Beispiel auch für das Arbeitsgedächtnis. Allerdings ist sie nicht immer klar abzugrenzen von Konzentration und Wachheit. In vielen Situationen profitieren wir von allen drei Eigenschaften.

Alexandra Philipsen | Die Medizinerin leitet die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Bonn und ist stellvertretende ärztliche Direktorin der Universitätsklinik. Neben ihrer klinischen Tätigkeit erforscht sie mit ihrem Team unter anderem, wie das Gehirn Emotionen, Impulse und Aufmerksamkeit reguliert. Mit Hilfe dieser Erkenntnisse entwickelt und prüft sie verschiedene Therapieansätze, insbesondere bei ADHS im Erwachsenenalter.

Aufmerksamkeit ist aber nicht unbegrenzt verfügbar. Wie schafft es das Gehirn, unwichtige Reize auszublenden?

Im Gehirn existieren verschiedene neuronale Netzwerke – man kann sie sich wie Rückkopplungsschleifen vorstellen. Das Aufmerksamkeitsnetzwerk ist eines von ihnen. Wenn wir uns auf eine Aufgabe fokussieren, erhöht das Gehirn die Aktivität der beteiligten Hirnstrukturen. Gleichzeitig drosselt es die Aktivität des Ruhe­zustands- oder Default-Mode-Netzwerks, das beim Tagträumen und Nichtstun arbeitet. Ein dritter Schaltkreis, das Salienznetzwerk, dient Studien zufolge als Vermittler: Es entscheidet, wann es sich lohnt, die Aufmerksamkeitsareale hoch- und zugleich das Default-­Mode-Netzwerk herunterzufahren.

Bei manchen Menschen funktioniert diese Regu­lation nicht richtig – ihre Aufmerksamkeit ist ­reduziert und sie sind leichter ablenkbar. Inwiefern arbeitet ihr Gehirn anders?

Die meisten Erkenntnisse dazu stammen von Studien an Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. Bei ihnen sind, statistisch gesehen, manche Hirnareale minimal kleiner, also in ihrer Entwicklung leicht verzögert. Das sind neben Regionen im Stirnhirn auch solche im Scheitel- und Schläfen­lappen sowie im Kleinhirn und in den Basalganglien. Man muss dazu sagen, dass es sich zum Teil nur um Bruchteile von Millimetern handelt. Bis zum Erwach­senen­alter gleichen sich die Unterschiede in der Regel wieder aus.

Verschwinden dann auch die Symptome wieder? Schließlich werden die meisten ADHS-Diagnosen im Kindesalter gestellt.

Leider nur in den seltensten Fällen. Ich habe während meines Studiums noch gelernt, ADHS wachse sich in der Regel spätestens mit 18 Jahren aus, weil das damals in den diagnostischen Systemen als »Kinderkrankheit« klassifiziert war. Heute wissen wir, dass nur etwa 20 Prozent der Menschen, die in der Kindheit eine ADHS-Diagnose erhalten, die Symptome im Erwachsenenalter ganz verlieren. Das haben verschiedene longitudinale Studien ergeben, also Untersuchungen, bei denen man die Teilnehmer über viele Jahre begleitete. Eine neuere Erhebung erfasste die Symptome beispielsweise alle zwei Jahre und zeigte, dass sie bei den meisten Patienten und Patientinnen schwanken: Mal kommen die Betroffenen über den Schwellenwert für eine ADHS-Diagnose und mal liegen sie knapp darunter.

Wie ist der Schwellenwert definiert? Jeder ist ja hin und wieder mal unkonzentriert.

Wie bei allen psychischen Erkrankungen gibt es bei ADHS ein großes Spektrum an Ausprägungen. Deshalb hat man für die Diagnose bestimmte Schwellen festgelegt. Bei einer definierten Anzahl an Symptomen sprechen wir von einer Diagnose, sofern – und das ist ganz wichtig – die Person sich dadurch stark beeinträchtigt fühlt. Man hat für die Hyperaktivität und Impulsivität sowie für die Unaufmerksamkeit jeweils neun Kriterien formuliert, von denen bei Kindern je sechs und bei Erwachsenen je fünf erfüllt sein müssen. Weil der Leidensdruck aber individuell so unterschiedlich ist, ist die Diagnose immer im Gesamtkontext zu stellen.

Gibt es denn auch Auffälligkeiten im Gehirn von Erwachsenen mit ADHS?

Bei ihnen spielen die Volumenunterschiede keine Rolle mehr. Hier können wir allerdings Veränderungen in der Hirnaktivität sehen. Wie Studien mittels Elektroenzephalografie (EEG) gezeigt haben, findet man im Gehirn von Betroffenen häufiger bestimmte langsame Hirnwellen, die bei Gesunden in der Regel vor allem dann auftreten, wenn sie schläfrig sind. Wahrscheinlich hat das etwas mit den erwähnten Netzwerken zu tun. Möglicherweise kann die Aktivität des Aufmerksamkeitsnetzwerks weniger lange aufrechterhalten werden, so dass das Ruhezustandsnetzwerk schneller wieder das Ruder übernimmt. Untersuchungen mit funktioneller Magnet­resonanztomografie stützen das: Lässt man Erwachsene mit ADHS im Hirnscanner Aufmerksamkeitstests durchführen, sieht man, dass die relevanten Hirnareale im Vergleich mit anderen Testpersonen weniger aktiv sind. Das sind der präfrontale Kortex sowie andere Regionen des Aufmerksamkeitsnetzwerks. Gleichzeitig schneiden die Betroffenen bei den Aufgaben im Gruppenvergleich durchschnittlich etwas schlechter ab.

Was sind das für Aufgaben?

Ein Beispiel ist der Flankertest. Hiermit untersucht man die geteilte Aufmerksamkeit: Auf einem Bildschirm erscheinen nebeneinander drei Pfeile. Die Probandinnen und Probanden müssen per Tastendruck angeben, ob der mittlere Pfeil nach links oder nach rechts zeigt. Weisen alle Pfeile in dieselbe Richtung, ist das noch sehr leicht. Schwieriger wird es, wenn die äußeren Pfeile in eine andere Richtung zeigen als der mittlere. Das erfordert eine geteilte Aufmerksamkeit. Menschen mit ADHS brauchen für solche Aufgaben im Schnitt länger und machen mehr Fehler.

Sie sagten, die meisten Kinder mit ADHS weisen im Erwachsenenalter weiterhin Symptome auf. Kann die Störung bei Erwachsenen auch neu auftreten?

Nein. Zwischenzeitlich glaubte man das. Da haben ein paar große Kohortenstudien für viel Wirbel gesorgt. Als man die Kohorten dann aber noch mal genauer unter die Lupe nahm, wurde deutlich, dass die Studien Schwächen hatten. Inzwischen besteht der wissenschaftliche Konsens: ADHS ist eine Entwicklungsstörung, die spätestens im frühen Jugendalter zu Tage tritt. Es kann höchstens durch ein Schädel-Hirn-Trauma oder eine schwere Infektion des Gehirns zu ähnlichen Symptomen kommen, aber das ist dann keine ADHS im eigentlichen Sinn.

Menschen mit ADHS berichten oft von Reizüber­flutung. Nehmen die Betroffenen Sinneseindrücke intensiver wahr?

Wahrscheinlich ist das so, wobei das Phänomen bei Menschen mit Autismus ja auch auftritt. Meine Arbeitsgruppe an der Universität Bonn hat selbst Untersuchungen dazu durchgeführt und fand etwas, was uns überraschte: Offenbar können Menschen mit ADHS Reize aus verschiedenen Sinneskanälen schlechter vereinen. Sie benötigen mehr Zeit dafür. Das hätte ich nicht gedacht, weil meine Erfahrung im Umgang mit ihnen zeigt, dass sie allgemein sehr schnell auf Input von außen anspringen. Aber sie brauchen anscheinend länger für die Verarbeitung. Damit ist die Kapazität für die Aufmerksamkeit länger blockiert, weshalb ihre Reaktionszeit in verschiedensten Tests verlängert ist. Zudem weisen unsere Studien darauf hin, dass die Betroffenen, während sie sich auf das Hören konzentrieren, gleichzeitig ihr Sehsystem aktivieren – wir sprechen von crossmodaler Aktivierung. Diese lenkt womöglich von der eigentlichen Aufgabe ab.

TV-Tipp

»SCOBEL – Fresh Brain«

Alexandra Philipsen im Gespräch mit Gert Scobel und weiteren Experten. Die Sendung entstand in redaktioneller Zusammenarbeit mit »Gehirn&Geist« und dem NeuroForum Frankfurt 2023 der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung.

Auf 3sat am 23.11.2023 um 21 Uhr.

Wie unterscheiden sich in der Hinsicht die einzelnen ADHS-Typen, etwa der unaufmerksame und der hyperaktiv-impulsive Typ?

Unsere Studie hat keinen Unterschied ergeben, aber wir hatten auch nur eine kleine Stichprobe. Ich gehe davon aus, dass die Hyperaktivität bei der sensorischen Inte­gration eine geringere Rolle spielt als die reduzierte Aufmerksamkeit. Um das zu überprüfen, bräuchten wir jedoch größere Untersuchungen.

Gibt es Möglichkeiten, das Fokussieren auf eine Aufgabe zu trainieren?

Das haben wir tatsächlich getestet, und zwar mit Hilfe virtueller Realität (VR). Wir haben einen Seminarraum entworfen, den man über eine VR-Brille »betreten« kann. Es entsteht der Eindruck, man sitze in diesem Raum, in dem man sich umsehen und bestimmte Aufgaben bearbeiten kann. Wir wollten Menschen mit ADHS dabei unterstützen, bei einem Konzentrationstest seltener mit dem Blick abzuschweifen. Deshalb ließen wir jedes Mal, wenn sie ihre Augen vom Zielort abwendeten, kurz einen Ton erklingen – als Erinnerung, sich wieder der Aufgabe zuzuwenden.

Und, hat das geholfen?

Die gesunden Kontrollprobanden und -probandinnen haben tatsächlich von der akustischen Mahnung profitiert. Die Versuchspersonen mit ADHS allerdings empfanden sie eher als störend; der Ton hat sie zusätzlich abgelenkt.

»Man sollte möglichst viele Tätigkeiten automatisieren, da eine hohe mentale Last Menschen mit ADHS mehr Energie kosten kann als andere«

Wie können Patientinnen und Patienten im Alltag Reizüberflutung vermeiden?

Man muss hier individuell schauen, in welchen Situa­tionen es der Person leichter und in welchen es ihr schwerer fällt, sich zu konzentrieren. Manche brauchen es eher ruhig, anderen hilft Musik im Hintergrund. Und dann sind natürlich Rituale ganz wichtig, vor allem solche, die die »Mental Load« verringern, also die mentale Belastung durch Organisatorisches. Es ist beispielsweise ratsam, den Schlüssel an einen festen Platz zu legen, immer zur gleichen Zeit aufzustehen, feste Abläufe bei der Arbeit zu etablieren und so weiter. Man sollte möglichst viele Tätigkeiten automatisieren, da eine hohe mentale Last Menschen mit ADHS mehr Energie kosten kann als andere. Wenn man aber wirklich etwas im Hirnstoffwechsel ändern möchte, ist eine Medikation oder körperliche Aktivität ratsam. Auch Meditation empfinden einige als hilfreich.

Sie nennen körperliche Aktivität in einem Zug mit Medikamenten. Kann Sport ähnlich viel ausrichten?

Nein, das nicht. Aber er kann durchaus die Aufmerksamkeit steigern, wie wir in neuropsychologischen Tests zeigten: Menschen mit ADHS profitierten von einer 30-minütigen Sporteinheit hinsichtlich ihrer Reaktionszeit deutlich mehr als Personen ohne ADHS. Zwar wissen wir noch nicht genau, welche Sportart sich hier am besten eignet, doch vermutlich genügt moderate Bewegung, die den Kreislauf auf bis zu 70 Prozent der maximalen Herzschlagrate anregt. Extreme Anstrengung dagegen kann die Aufmerksamkeit stören.

In welchen Fällen empfehlen Sie eine medika­mentöse Behandlung?

Wenn sich die Betroffenen stark in für sie wichtigen Lebensbereichen eingeschränkt fühlen, raten wir ihnen, es mit Stimulanzien zu probieren, also mit Methylphenidat oder Amphetaminen. Gängigen Theorien zufolge erhöhen die Mittel die Verfügbarkeit der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin im Gehirn. Die zu Grunde liegenden Wirkmechanismen gehen aber vermutlich noch darüber hinaus. Wir empfehlen, mit einer niedrigen Dosis zu beginnen – zusammen mit einer ärztlichen oder auch psychotherapeutischen Begleitung. Die Substanzen sind in der Regel gut verträglich und sehr wirksam. Etwa 60 bis 70 Prozent der Patientinnen und Patienten sprechen gut darauf an.

»Beim Hören das visuelle System zu aktivieren, hilft dabei, gedankliche Verknüpfungen zu bilden«

Inwieweit gleichen die Mittel die Defizite bei der multisensorischen Integration aus?

Dazu führen wir gerade eine Studie durch. Ich erwarte, dass die Substanzen die Integration verbessern. Wie Untersuchungen gezeigt haben, nehmen die Reaktionszeiten bei neuropsychologischen Tests unter Methylphenidat ab. Und wenn wir davon ausgehen, dass die Schwierigkeiten bei der multisensorischen Integration zumindest zum Teil auf eine verlangsamte Verarbeitung und auf Schwierigkeiten bei der Aufmerksamkeitsallokation zurückzuführen sind, sollten die Stimulanzien ebenfalls das Zusammenspiel der Sinne beeinflussen.

Wirkt sich eine frühe Behandlung im Kindesalter positiv auf die Symptome im späteren Leben aus?

Leider in der Regel nicht. Doch eine rechtzeitige Therapie kann natürlich andere psychische Störungen oder negative psychosoziale Konsequenzen abwehren, die nicht selten mit ADHS einhergehen. Durch eine effek­tive Behandlung können etwa die schulische Entwicklung und das soziale Miteinander gefördert werden. Es gibt zudem Hinweise, dass eine Therapie das Risiko für Depressionen und Angststörungen, aber auch für Schlafprobleme und Sucht senkt.

Hat die leichte Ablenkbarkeit auch Vorteile für die Betroffenen?

Eine populäre Erklärung ist die des evolutionsbiologischen Vorteils, den Thom Hartmann in seinem Buch »Eine andere Art, die Welt zu sehen« beschreibt: Wer sehr reizoffen war und ungewöhnlich viele Details wahrnahm, wurde in der Urzeit nicht so schnell vom Tiger gefressen. Allerdings sprechen die epidemiologischen Daten leider dagegen. Die Betroffenen haben, statistisch gesehen, mehr Unfälle und sterben eher durch riskantes Verhalten. Zumindest in unserer heutigen Welt ist dieser evolutionäre Vorteil fraglich.

Und abgesehen vom vermeintlichen Überlebensvorteil?

Ich denke, Menschen mit ADHS sind häufig kreativer und können leichter assoziieren. Möglicherweise hängt das mit dem Ruhezustandsnetzwerk zusammen, das bei ihnen allgemein aktiver ist. Sie sind in der Regel ­verträumter und lassen ihre Gedanken oft schweifen, was der Quell vieler neuer Ideen ist. Eventuell spielt hier auch die crossmodale Aktivierung eine Rolle. Beim ­Hören das visuelle System zu aktivieren, hilft vielleicht dabei, gedankliche Verknüpfungen zu bilden. Es gibt also durchaus positive Seiten, die man nicht außer Acht lassen darf!

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