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Abelpreis 2023: Caffarellis Mathematik macht die Welt etwas verständlicher

Luis Caffarelli beschreibt natürliche Phänomene wie das Fließen von Wasser oder das Schmelzen von Eiswürfeln – und räumt dabei Unendlichkeiten aus dem Weg. Für seine Arbeit erhielt er nun den Abelpreis als höchste Auszeichnung seines Fachs.
Eiswürfel auf blauem Hintergrund
Was passiert mit dem Eiswürfel, während er schmilzt? Luis Caffarelli hat für die Beantwortung dieser Frage den Abelpreis erhalten.

Mathematik ist die Sprache, mit der wir das Universum beschreiben können, davon war schon Galileo Galilei im 16. Jahrhundert überzeugt. Doch selbst alltägliche Phänomene wie das Schmelzen eines Eiswürfels in einem Wasserglas führen zu Gleichungen, die so komplex sind, dass sie sogar viele Fachleute überfordern. Das hat den argentinischen Mathematiker Luis Caffarelli jedoch nicht davon abgehalten, sich während seiner Forscherkarriere genau solchen Problemen zu widmen. Für seine herausragenden Arbeiten hat ihn nun die Norwegische Akademie der Wissenschaften mit dem diesjährigen Abelpreis geehrt, der höchsten Auszeichnung der Mathematik.

Der 1948 in Buenos Aires geborene Caffarelli hatte sich bis zum Ende seiner Promotion an der Universidad de Buenos Aires vorrangig mit den Eigenschaften von Polynomen beschäftigt. Als er 1973 eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der University of Minnesota antrat, entdeckte er einen anderes Fachgebiet der Mathematik für sich: das breit gefächerte Feld der Differenzialgleichungen.

Differenzialgleichungen ermöglichen einen Blick in die Zukunft

Dabei handelt es sich um Formeln, die Ableitungen enthalten. Auch wenn das kompliziert und abstrakt klingt, sind es diese Art von Gleichungen, die alle Geschehnisse um uns herum beschreiben. Denn sie erklären, wie sich gewisse Größen zeitlich und räumlich verändern. Es sind Differenzialgleichungen, die es uns erlauben, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Denn sie sagen voraus, wie sich ein System zeitlich und auch räumlich verändern wird. Angenommen, man wirft einen Ball in die Höhe: Die parabelförmige Bahnkurve, die er zurücklegt, ist die Lösung einer zu Grunde liegenden Differenzialgleichung.

Viele spannende Phänomene wie die Fließgeschwindigkeit eines Flusses oder die Windrichtung hängen sowohl von dem Ort ab, an dem man das System betrachtet, als auch von der Zeit. Das macht die Differenzialgleichungen sehr schwer zu lösen, denn sie enthalten dann sowohl zeitliche als auch räumliche Ableitungen. Zunächst widmete sich Caffarelli daher statischen Problemen – also solchen, die sich zeitlich nicht ändern. Ein Beispiel dafür sind Minimalflächen, die beispielsweise Seifenhäute bilden, wenn man sie über einen Rahmen spannt: Die Fläche der Seife versucht dabei stets, möglichst klein zu sein. Um die Form solcher Minimalflächen zu berechnen, braucht man Differenzialgleichungen. Caffarelli interessierte sich dafür, wie Minimalflächen aussehen, wenn sie auf ein Hindernis stoßen: etwa, wenn man einen Gegenstand gegen eine Seifenhaut drückt oder einen Luftballon (auch eine Minimalfläche) gegen eine Wand presst.

Seifenblasen

Eine der wichtigsten Fragen ist dabei, wie groß die Kontaktfläche zwischen Hindernis und Seifenhaut ist – und welche Form sie hat. Rein intuitiv würde man sagen, dass die Kontaktfläche einen glatten Rand besitzt, man erwartet keine Ecken oder Kanten, sofern das Hindernis auch glatt ist. Doch das mathematisch zu beweisen ist ziemlich schwierig. Denn dafür müsste man für allerlei Hindernisse die sich ergebende Minimalfläche berechnen – also extrem viele, extrem komplizierte Differenzialgleichungen lösen. Indem Caffarelli in den 1970er Jahren aber die Eigenschaften der zu Grunde liegenden Gleichungen an sich untersuchte, konnte er zeigen, dass die Kontaktfläche immer dann glatt ist (also keine Sprünge oder Ecken hat), wenn auch das Hindernis glatt ist.

Wie schmilzt ein Eiswürfel in Wasser?

Das ermöglichte ihm, sich komplizierteren Phänomenen zu widmen, etwa dem Schmelzen eines Eiswürfels in Wasser. Bereits im Jahr 1889 hatte sich der slowenische Physiker Josef Stefan diesem Problem gewidmet. Ihm gelang es damals, zwei Formeln dafür aufzustellen. Die erste beschreibt den Wärmefluss vom Wasser zum Eis, wodurch dieses erhitzt wird und schließlich zu schmelzen beginnt. Die zweite widmet sich der schwindenden Grenzfläche zwischen Wasser und Eis. Beide Gleichungen beeinflussen sich gegenseitig: Von der Oberfläche des Eises hängt die Stärke des Wärmeübertrags ab, während der Wärmefluss bestimmt, wie schnell die Oberfläche schwindet.

Die Stefan-Gleichungen schienen das Problem gut zu beschreiben. Allerdings war bis zu den 1970er Jahren unklar, ob sie in gewissen Situationen unphysikalische Lösungen liefern könnten: Zum Beispiel könnten die Gleichungen eine Eiswürfel-Form vorhersagen, die einem Fraktal ähnelt – was in der Realität nie beobachtet wurde. Dieses Problem war deutlich schwerer zu untersuchen als die Seifenhäute: zum einen, weil das Schmelzen der Eiswürfel eine zeitliche und räumliche Komponente enthält, zum anderen, weil beim Schmelzvorgang durchaus Spitzen, Ecken und Kanten entstehen können – selbst wenn die ursprüngliche Eiswürfel-Form glatt war. Dazu brauchen Sie sich nur einen Eiswürfel in Form einer Sanduhr vorzustellen: Sobald das Verbindungsstück schmilzt, entstehen zumindest kurzzeitig zwei Objekte mit einer ausgeprägten Spitze.

Luis Caffarelli

Wieder einmal nahm Caffarelli die Differenzialgleichungen unter die Lupe – und konnte 1977 nachweisen, dass in der schmelzenden Eisfläche durchaus »Singularitäten« entstehen können: Orte, an denen gewisse Größen unendliche Werte annehmen. Der Mathematiker hat gezeigt, dass es isolierte Eisspitzen geben kann (in diesem Fall wird die Ableitung der Ortskoordinate an diesem Punkt unendlich groß). Doch nicht nur das: Caffarelli fand heraus, dass die Temperatur in der Umgebung solcher Spitzen quadratisch mit dem Abstand anwächst. Das erlaubt es, gezielt nach solchen Singularitäten zu suchen: Man muss nur dem Temperaturprofil des Wassers folgen. Diese Erkenntnis warf viele Fragen auf, denn es widerspricht unserer Erfahrung. Schließlich schneidet man sich nicht an der Oberfläche von Eiswürfeln – sie scheinen immer sehr glatt. 2021 konnten drei Mathematiker das Rätsel klären. Sie haben gezeigt, dass die Singularitäten nur extrem selten auftauchen – tatsächlich beträgt die Wahrscheinlichkeit, eine solche Eisspitze zufällig zu treffen, null.

Der größte Durchbruch bei der Erforschung von Fluiden

Nach all diesen Erfolgen machte Caffarelli auch vor einem der hartnäckigsten Probleme der Physik nicht Halt: den Navier-Stokes-Gleichungen. Dabei handelt es sich um Differenzialgleichungen, die die Strömung von Flüssigkeiten beschreiben. Die Gleichungen werfen seit Jahrhunderten viele Fragen auf. Es ist noch nicht einmal bekannt, ob sie stets eine endliche und glatte Lösung liefern. Das bedeutet: Es ist unklar, ob die Fließgeschwindigkeit von einem Ort (oder einem Zeitpunkt) zum anderen plötzlich ruckartig ansteigen kann – oder sogar unendlich große Werte annehmen kann. Tatsächlich ist diese Frage eines der sieben Millennium-Probleme, für deren Lösung das Clay Mathematics Institute im Jahr 2000 ein Preisgeld von einer Million US-Dollar ausgeschrieben hat.

Während eines Spaziergangs durch Chinatown in New York im Jahr 1980, beschlossen Caffarelli und seine Kollegen Robert Kohn und Louis Nirenberg, sich mit den Navier-Stokes-Gleichungen zu beschäftigen. Zwei Jahre später erzielten sie ein Ergebnis, das bis heute den größten Durchbruch auf dem Gebiet darstellt: Falls es tatsächlich singuläre Lösungen geben sollte (also ruckartige Änderungen oder unendliche Geschwindigkeitswerte), müssten sie sofort wieder verschwinden. Damit ist das Millennium-Problem zwar nicht gelöst, aber es garantiert, dass sich Flüssigkeiten gemäß der Gleichungen – wenn überhaupt – nur kurzfristig seltsam verhalten.

Bis zum heutigen Tag arbeitet der mittlerweile 74-jährige Caffarelli unermüdlich an den spannenden Forschungsthemen weiter und veröffentlicht jährlich mehrere Facharbeiten – insgesamt hat er mehr als 320 Artikel publiziert. Er liebt die Zusammenarbeit mit jüngeren Studierenden, weshalb er nach einem zehnjährigen Aufenthalt an der prestigeträchtigen Princeton University zurück an das Courant Institute of Mathematical Sciences der New York University ging, um dort wieder vermehrt Doktoranden betreuen zu können.

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