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Freistetters Formelwelt: Das Monster von Loch Ness

Auch in der Mathematik sucht man gelegentlich nach dem Monster von Loch Ness – und braucht viel Fantasie, um es zu finden. Es sei denn, man guckt in der Topologie.
Baumstamm am Strand, der aussieht wie das Monster von Loch Ness.

Das Ungeheuer von Loch Ness ist das langlebigste und bekannteste der »Sommerlochtiere«. Das sind die Problembären, Phantomkatzen oder eben Seemonster, mit denen Boulevardmedien gerne ihre Seiten füllen, wenn keine anderen Themen zur Hand sind.

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Auch als John Harold Loxton im November 1981 über das »Loch Ness Monster« berichtete, war gerade Sommer. Und zwar auf der Südhalbkugel der Erde, in Australien, wo das Department of Mathematics der James Cook University of North Queensland die »James Cook Mathematical Notes« veröffentlicht. In Ausgabe Nummer 27 findet sich ein kurzer Aufsatz mit dem Titel »James Cook and the Loch Ness Monster«.

In dem Erguss behauptet Loxton, der britische Entdecker hätte vor seinen Reisen nach Australien in Schottland erfolglos nach dem schon damals berühmten Seemonster gesucht. Und dann eine Gleichung präsentiert, die »Cook's vision of the Loch Ness Monster« zeigen soll:

Berechnet man die ersten 5000 Terme dieser Exponentialsumme und stellt sie in der komplexen Zahlenebene dar, dann erhält man eine ästhetisch durchaus ansprechende Kette von Spiralen und Wirbeln. Um darin aber das Monster von Loch Ness zu erkennen, braucht man vermutlich ebenso viel Fantasie, wie sie all die Menschen haben, die das mythische Wesen in den Wellen des schottischen Sees gesehen haben wollen.

Der Begriff »Loch Ness Monster« wird in der Mathematik heute dennoch verwendet, allerdings für ein ganz anderes Objekt. Ebenfalls 1981 veröffentlichten die amerikanischen Mathematiker Anthony Phillips und Dennis Sullivan einen Fachartikel mit dem Titel »Geometry of Leaves«. Darin geht es jedoch nicht um Bäume, sondern um den mathematischen Begriff der »Blätterung«. Er stammt aus der Topologie und beschreibt dort die Zerlegung einer Mannigfaltigkeit in spezielle Mengen.

Das Monster im Blätterteig

Ohne mathematische Details zu bemühen, kann man sich das ein wenig wie Blätterteig vorstellen; Phillips und Sullivan ging es aber um etwas ganz anderes. In einer Abbildung ihrer Arbeit zeigen sie eine Struktur, die tatsächlich in etwa so aussieht, wie man sich das Monster von Loch Ness üblicherweise vorstellt. Aus einer Ebene taucht eine Reihe von Buckeln auf und wieder unter; was fehlt, ist nur der dinosaurierartige Kopf des Wesens. Aus mathematischer Sicht erhält man das »Monster«, wenn man eine zweidimensionale Ebene mit einer unendlichen Anzahl von Henkeln verbindet: Man entfernt pro Henkel je zwei kreisförmige Scheiben aus der Ebene und verbindet die Löcher mit einem gebogenen Zylinder.

In populären Darstellungen der Topologie wird meist erklärt, dass es in dieser Disziplin nicht um die eigentliche Form von Objekten geht. Ein Würfel und eine Kugel etwa sind aus Sicht der Topologie identisch, weil sich Erster durch einfache Verformungen in Zweite umwandeln lässt. Doch man kann aus einer Kugel keinen Donut machen, ohne dabei irgendwo ein Loch zu reißen; deswegen sind diese beiden Gebilde topologisch unterschiedlich. Sullivan und Phillips haben sich in ihrer Arbeit nun unter anderem mit der Frage beschäftigt, wie man unendlich große Strukturen auf diese Weise klassifizieren kann. Sie kommen dabei zu dem Ergebnis, dass das »unendliche ›Loch Ness Monster‹« topologisch äquivalent zu einer ganzen Gruppe von anderen unendlich großen Gebilden ist.

Das mathematische Monster ist vielleicht nicht so anschaulich wie sein Namensgeber aus dem schottischen See. Aber im Gegensatz zu ihm hat es den Vorteil zu existieren, wenn auch nur in der abstrakten Welt der Mathematik. Dennis Sullivan hat die Beschäftigung mit dem Ungeheuer von Loch Ness jedenfalls definitiv nicht geschadet. Im Jahr 2022 erhielt er den Abelpreis, eine der höchsten Auszeichnungen in der Welt der Mathematik. Er bekam ihn unter anderem für seine Beiträge zur Topologie.

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