Corona und Psyche: »Mir hilft es, mich zu erinnern, wofür wir das alles machen«
Vor mehr als einem Jahr hat sich der erste Mensch in Deutschland mit dem neuen Coronavirus infiziert. Seitdem begleiten uns Einschränkungen durch den Alltag. Auf einen Lockdown folgt der nächste, die Impfungen laufen nur schleppend an. Wie wirkt sich das auf unsere Psyche aus? Und wie schaffen wir es, weiter durchzuhalten? Ein Interview mit der Psychotherapeutin Lena Jelinek vom Zentrum für Psychosoziale Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE).
»Spektrum.de«: Homeoffice, Homeschooling, Kontaktbeschränkungen: Viele Menschen stoßen im zweiten Lockdown gerade an ihre Grenzen. Was hat die Forschung bislang über die psychischen Folgen der Pandemie herausgefunden, Frau Jelinek?
Lena Jelinek: Die meisten Menschen scheinen mit der Krise gut umzugehen. Zu Beginn der Pandemie nahmen psychische Belastungen in Form von Ängsten und Depressionen zwar im Vergleich zum Vorjahr stark zu. Dem folgte jedoch eine Phase der Adaptierung, also der Gewöhnung. Ein Muster, das wir auch von anderen Pandemien wie etwa der Sars-Pandemie kennen. Insgesamt sind die Studien zu den psychischen Folgen der Covid-19-Pandemie durchaus heterogen. Die Forschung findet in vielen unterschiedlichen Ländern mit vielen unterschiedlichen Methoden statt. Entsprechend wird von unterschiedlichen Ergebnissen berichtet. Bisher bezieht sich die Datenlage zudem lediglich auf das erste Halbjahr der Pandemie. Über langfristige Trends lässt sich daher noch gar nichts sagen.
Frauen und junge Menschen scheinen in Deutschland durch die Pandemie besonders stark belastet zu sein. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Hier zu Lande sind es nach wie vor meist Frauen, die sich vorrangig um die Familie kümmern. Während der Pandemie führt das zu einer starken Mehrfachbelastung. Von finanziellen Konsequenzen wie Kurzarbeit sind sie ebenfalls oft stärker betroffen. Das könnte dazu führen, dass sie eher Ängste oder eine Depression entwickeln. Jugendliche befinden sich hingegen in einer Phase des Aufbruchs und Neuanfangs. Sie wollen eine Ausbildung machen, studieren, das Elternhaus verlassen. Nun sind sie auf ungewisse Zeit ausgebremst, sitzen vielleicht sogar in einer neuen Stadt, in der sie niemanden kennen, und können Vorlesungen nur am Bildschirm verfolgen. Das ist belastend.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Studie von Wissenschaftlern um Eva-Maria Skoda vom LVR-Klinikum Essen. Die Angst, sich mit dem Virus anzustecken und daran zu sterben, scheint zwar nach wie vor dieselbe zu sein – mit der Gewöhnung an die »neue Normalität«, wie Skoda und ihre Kollegen es nennen, schätzen die Menschen das Risiko, sich persönlich zu infizieren, jedoch geringer ein. Wer mehr Angst vor dem Virus hat, hält sich eher an die Maßnahmen. Dass das Einhalten von Kontaktbeschränkungen gerade jungen Erwachsenen schwerfällt, könnte also daran liegen, dass sie sich weniger verletzlich fühlen. Das größte Risiko trägt immerhin die ältere Generation.
Der erste Lockdown fand in Deutschland im Frühling statt. Der zweite spielt sich nun im Winter ab – in einer Zeit, in der der Mangel an Licht und Vitamin D vielen Menschen ohnehin schon zusetzt. Sind wir in diesem zweiten Lockdown stärker gefordert als im ersten?
Eindeutige Daten gibt es hierzu meines Wissens noch nicht. Meine persönliche Erfahrung spricht jedoch für ein klares Ja. Nicht zu wissen, wie lange der Lockdown noch anhalten wird, zehrt an den Kräften und macht müde. Besonders, wenn man bedenkt, wie lange das nun schon geht. Monatelanges Homeoffice, Verantwortung für Mitarbeitende in der Pandemie und die Herausforderung, gleichzeitig drei Kinder zu versorgen, sind auch für mich anstrengend. Besonders, da wir durch die Kälte, die frühe Dunkelheit oder durch die Quarantäneanordnungen weniger rausgehen können. Dabei befinde ich mich in einer privilegierten Situation, für die ich sehr dankbar bin: Ich habe einen Partner, mit dem ich in der aktuellen Situation gemeinsam versuche, alle Bälle oben zu halten, und wir sind finanziell gut aufgestellt. Alleinerziehende oder Menschen, die durch die Pandemie ihren Job verloren haben, haben es noch deutlich schwerer.
Wie ist die Situationen bei Ihnen in der Klinik?
Die Kollegen berichten, dass die Menschen inzwischen tendenziell erst dann kommen, wenn es nicht mehr anders geht, wenn sie sich also schon in einer akuten Krise befinden. Das hängt damit zusammen, dass im Zuge der Schutzmaßnahmen derzeit auch Kliniken und psychiatrische Einrichtungen gemieden werden. Verständlicherweise. Ein frühes Gegensteuern wäre natürlich besser. Ich hoffe, dass sich die Benachteiligung innerhalb der Bevölkerung dadurch nicht verstärkt.
Was meinen Sie damit?
Die Zunahme von Online-Angeboten wie Video-Sprechstunden oder virtuellen Selbsthilfegruppen ist aktuell eine enorme Erleichterung. Auch zukünftig könnten sie dabei helfen, zum Beispiel die ländliche Bevölkerung besser zu versorgen. Solche Angebote schließen aber viele Menschen aus: Wer zu Hause kein Internet hat, ist aufgeschmissen. Gleiches gilt für Familien, die nur einen oder gar keinen Laptop besitzen. Mit Blick auf die Schule hat die Politik dieses Problem bereits erkannt. Manche Städte statten Kinder einkommensschwacher Familien deshalb mit iPads aus. Im medizinischen Bereich wird hierüber noch viel zu wenig gesprochen. Zudem gilt: So toll, zeitsparend und virusfrei viele Online-Angebote auch sind, sie können die Sprechstunde vor Ort und menschlichen Kontakt langfristig nicht ersetzen.
Einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen befürchten, dass es nach dem Lockdown zu einer Rezession kommen könnte, die für Menschen eine noch viel größere psychische Belastung darstellen wird. Sind Sie der gleichen Ansicht?
Finanzielle Unsicherheit, generell der Verlust an Selbstwirksamkeit, erhöht das Risiko, eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Das ist bekannt. An dieser Stelle stimme ich den Kollegen zu. Ich bin jedoch keine Wirtschaftsexpertin. Ich kann nicht voraussehen, wie die Politik mit der Situation umgehen wird – schon jetzt gibt es zahlreiche Hilfsangebote etwa für freischaffende Künstler und Selbstständige. Und diese Unterstützungen werden hoffentlich weiter ausgebaut – auch in Bezug auf Menschen mit psychischen Belastungen.
Selbsttests und Hilfe für Familien
Unter der Schirmherrschaft der Bundesfamilienministerin Franziska Giffey haben Kinderpsychologinnen der Ruhr-Universität Bochum und der Philipps-Universität Marburg die Initiative »Familien unter Druck« gestartet. Mit kurzen Erklärvideos helfen sie Eltern und ihren Kindern, mit der psychischen Belastung durch die Pandemie umzugehen.
Nützliche Selbsttests zu Angst, Depression und Trinkgewohnheiten gibt es auf dem Portal »psychenet.de«. Das Projekt wird vom Institut und der Poliklinik für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf koordiniert und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.
Wie erkennen wir, wenn wir durch Dinge wie Homeoffice, Homeschooling und persönliche Isolation kurz vor einem Burnout oder einer anderen psychischen Erkrankung stehen? Was sind die Warnsignale?
Die häufigsten Anzeichen sind in der Regel Schlafstörungen, veränderter Appetit, Gereiztheit, Hoffnungslosigkeit oder lang anhaltende Erschöpfung. Wem es so geht, der sollte sich Hilfe holen. Etwa beim Hausarzt oder bei einem ausgebildeten Psychotherapeuten. Im Internet gibt es auch seriöse Selbsttests. Sie können Menschen helfen, die sich unsicher sind und ihre Stimmung selbst nicht einordnen können.
Wie schaffen es Menschen, die bereits jetzt am Limit sind, durchzuhalten?
Indem sie ihren Alltag strukturieren. So hilft es etwa, regelmäßig zur gleichen Zeit ins Bett zu gehen und aufzustehen, sich ausgewogen zu ernähren und übermäßigen Alkohol- oder Nikotinkonsum zu vermeiden. Wichtig sind zudem Bewegung und Aktivitäten, die einem persönlich Spaß machen und guttun. Etwa Lesen, Spazierengehen oder virtuelles Stadt-Land-Fluss-Spielen mit Freunden. Gibt es zu Hause Konflikte, sollte man schauen, woher diese kommen, und versuchen, den Druck rauszunehmen. Das heißt beispielsweise, mit dem Partner oder der Mitbewohnerin feste Zeiten zu vereinbaren, in denen man Küche oder Wohnzimmer auch mal für sich allein hat. Manchen Paaren können auch feste Stunden bewusster Zweisamkeit helfen. Nur weil zwei Menschen gemeinsam im Homeoffice sind, bedeutet dies schließlich nicht, dass sie wirklich gemeinsam Zeit miteinander verbringen.
Warum ist Struktur so wichtig?
Wenn ich einen festen Plan habe, muss ich mir nicht überlegen, was ich als Nächstes tue. Wann stehe ich auf? Wann mache ich einen Spaziergang? Soll ich heute Abend wirklich kochen? All diese Fragen fallen weg – das ist ressourcenschonend und spart Kräfte. Seinen Alltag zu strukturieren, steigert außerdem die Selbstwirksamkeit und gibt uns ein Stück jener Autonomie zurück, die uns durch Maßnahmen wie Lockdown und Kontaktbeschränkung teilweise genommen wurde. Ein Pauschalrezept zum Durchhalten gibt es allerdings nicht. Die Bedürfnisse der Menschen sind schließlich sehr unterschiedlich.
Haben Sie einen persönlichen Tipp?
Mir hilft es, mich daran zu erinnern, wofür ich und meine Familie das alles machen: zum Schutz der Älteren und derjenigen, die auf Grund einer Vorerkrankung wie Krebs oder Diabetes besonders gefährdet sind. Eine Botschaft, die nicht häufig genug wiederholt werden kann.
Wege aus der Not
Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Situation ausweglos? Haben Sie keine Hoffnung mehr? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen helfen können: Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten oder Psychiater oder die Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116117.
Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: per Telefon unter den bundesweit gültigen Nummern 08001110111 und 08001110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden auch Hilfe unter der Nummer 08001110333 und können sich auf der Seite www.u25-deutschland.de per Mail von einem Peer beraten lassen.
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