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News: Der Ursprung des Kiefers

Der Speiseplan des Neunauges gestaltet sich nicht sonderlich abwechslungsreich: Mithilfe des Saugmundes und der bezahnten Raspelzunge ist dieses Tier lediglich in der Lage, sich von Blut und Gewebefetzen seines Opfers zu ernähren. Ein gelenkiger Kiefer, mit dem es Beute jagen und greifen könnte, fehlt ihm noch gänzlich - jenen Apparat erfand die Evolution erst wesentlich später. Offenbar machte die Abschaltung eines bestimmten Gens den Weg für diese bahnbrechende Neuerung frei, wodurch der Mundknorpel tiefer in den Kopf vordringen konnte.
Einst zierte eine runde oder schlitzartige Öffnung das Maul der ersten fischähnlichen Meeresbewohner. Diese taugte lediglich zum Raspeln oder Schlammschlucken, an eine aktive Beutejagd war noch lange nicht zu denken. Als Relikt zeugen noch heute noch die Neunaugen (Petromyzoniformes) mit ihrem Saugmund von längst vergangenen Zeiten, in denen die kieferlosen Formen modern waren. Später entpuppte sich aber die Erfindung eines gelenkigen Kieferapparates als ein Meilenstein in der Entwicklung der Wirbeltiere: Die derartig ausgestatteten Organismen vermochten nun zur räuberischen Lebensweise überzugehen und setzten sich schließlich gegenüber den kieferfreien Tieren durch.

Lange Zeit blieb rätselhaft, wie sich diese Neuheit im Laufe der Zeit in einer Welt von kieferlosen Lebewesen (Agnatha) wie den Neunaugen herauskristallisiert hat. Bekannt ist jedoch, dass in den Embryonen der Kiefermünder (Gnathostomata) der Kieferknorpel aus dem Mandibularbogen hervorgeht, wo keines der so genannten Hox-Gene abgelesen wird. Gewöhnlich sind jene Erbanlagen daran beteiligt, das Kopf- und Schwanzende des entstehenden Lebewesens festzulegen. Werden die Hox-Gene jedoch in der Mundregion eingeschaltet, so hält der Kiefer in seiner Entwicklung inne oder ist gar missgebildet.

Als mögliche Kandidaten, die einst an der Kieferentstehung mitwirkten, hatte Martin Cohn von der University of Reading deshalb die Hox-Gene im Verdacht. Um dieser Vermutung nachzugehen, wählte er die kieferlosen Neunaugen als Studienobjekt und untersuchte an sich entwickelnden Embryonen Blaupausen der Erbsubstanz, die RNA-Moleküle. Und tatsächlich: In der Mundregion war mit der Erbanlage Hox6 ein Mitglied aus der Familie der Hox-Gene aktiv. Neunaugen sind damit die bislang einzigen bekannten Wirbeltiere, in deren Mandibularbogen derartige Gene abgelesen werden.

Um auszuschließen, dass sich die Neunaugen nicht einfach zu einer kieferlosen Existenz zurückentwickelt haben, zog Cohn die Genexpression des noch ursprünglicheren Lanzettfischchens (Branchiostoma lanceolatum) zum Vergleich heran. Diese wurmähnlichen Tiere, denen ein richtiges Rückgrat fehlt, gelten als die engsten heute noch lebenden Verwandten der Wirbeltiere. Und siehe da: Beim Lanzettfischchen war eine dem Hox6-Gen des Neunauges entsprechende Erbanlage im Mundbereich aktiv – und zwar wesentlich näher am Kopfende des Tieres als erwartet.

Demnach könnte sich der gelenkige Kiefer herausgebildet haben, als eine Veränderung in der Genregulation die Aktivität des Hox-Gens zum Stillstand gebracht hatte und dem Mundknorpel somit Spielraum verschaffte, tiefer in den Kopf hineinzuwachsen. Die nun veröffentlichte Arbeit fügt sich gut in das Bild, wonach das Schweigen des Hox-Gens in der Nähe des Mundes einen frühen Schritt in der Kieferentstehung darstellt, betont Thomas Schilling von der University of California in Irvine. Doch gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass die Embryonalentwicklung ein äußerst vielschichtiger Prozess ist und die Wissenschaftler noch weit davon entfernt sind, alle Schritte – und Gene – zu kennen, die sich für die Bildung komplexer Strukturen wie dem Kiefer verantwortlich zeichnen.

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