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Euclid-Mission: Der Mann, der Licht ins dunkle Universum bringen will

Giuseppe Racca leitet die ESA-Mission Euclid. Mit dem Teleskop wird die größte 3-D-Karte des Kosmos erstellt, um herauszufinden, wie Dunkle Materie und Dunkle Energie die Struktur und den Verlauf des Universums beeinflussen.
Künstlerische Darstellung von Euclid
Mit der Euclid-Mission der ESA sollen zwei große kosmologische Fragen beantwortet werden: »Was sind die grundlegenden physikalischen Gesetze des Universums?« und »Wie ist das Universum entstanden und woraus besteht es?«

Fragt man Giuseppe Racca nach seinen Kindern, zeigt er nicht nur auf die Fotos seiner Tochter und der beiden Söhne an der Wand in seinem Büro. »Die anderen drei haben so seltsame Namen wie SMART-1, LISA Pathfinder und Euclid«, sagt er, lacht und weist auf zahlreiche kleine Modelle aus dem 3-D-Drucker, die seine Regale bevölkern. Seit 36 Jahren ist Racca Ingenieur bei der Europäischen Weltraumorganisation ESA und seit 25 Jahren Projektmanager. Er war schon für die erste europäische Mondsonde SMART-1 verantwortlich und leitete die Entwicklung von LISA Pathfinder zur Erprobung von Techniken für den Nachweis von Gravitationswellen. Nun fiebert er dem Start seines bislang größten Projekts entgegen: Am 1. Juli gegen 17.12 Uhr MESZ soll das Weltraumteleskop Euclid an Bord einer Falcon-9-Rakete vom Raketenstartplatz am Cape Canaveral in Florida abheben.

Genau genommen ist das Teleskop aber nicht nur Raccas »Baby«. In den mehr als zehn Jahren Entwicklungszeit haben fast 5000 Menschen aus 21 Ländern, von 80 Unternehmen und mehr als 300 wissenschaftlichen Instituten zu seiner Entstehung beigetragen. Doch bei Giuseppe Racca laufen die Fäden zusammen. Er trägt die finanzielle Verantwortung und die Kontrolle über den Zeitplan. Er trifft die kniffligen Entscheidungen.

Dafür, dass Euclid nun also in wenigen Tagen flügge wird, wirkt der 65-jährige Italiener erstaunlich entspannt. Aus einer geplanten Gesprächsstunde werden drei – samt Führung über das Gelände des Europäischen Weltraumforschungs- und technologiezentrums (ESTEC) im niederländischen Noordwijk. »Ich kann nun ohnehin nicht mehr viel tun«, sagt er. Der gut vier mal fünf Meter große und knapp zwei Tonnen schwere Satellit ist bereits auf dem Gelände des Kennedy Space Center angekommen. Alle finalen Tests sind abgeschlossen. Entsprechend ruhig ist es auch auf dem Flurabschnitt, in dem Raccas 16-köpfiges Team untergebracht ist. Ab und zu steckt mal ein Kollege aus einer anderen Abteilung den Kopf durch den Türrahmen, um ihm viel Erfolg und starke Nerven zu wünschen.

Giuseppe Racca | Der 65-jährige gebürtige Italiener ist seit 1987 bei der ESA und leitet seit 2012 die Euclid-Mission.

Ziel der insgesamt 1,4 Milliarden Euro teuren Mission ist es, während ihrer geplanten sechsjährigen Laufzeit ein Drittel des Himmels zu durchmustern und die größte und genaueste 3-D-Karte des Universums zu erstellen. Dazu schaut Euclid sich einige Milliarden Galaxien an und scannt gut zehn Milliarden Jahre kosmische Geschichte. 15 000 Quadratgrad in winzigen Rasterschritten. Hochpräzise und extrem detailreich. So soll das Teleskop die dunkelsten Geheimnisse des Universums erforschen: Dunkle Materie und Dunkle Energie. Der Begriff »dunkel« meint dabei nicht nur, dass man sie nicht sehen kann, sondern auch, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach einer mysteriösen Substanz oder einem unbekannten Mechanismus suchen, mit dem sich einige der größten Rätsel des Universums erklären lassen.

Denn das, was sie beim Blick von der Erde ins Weltall beobachten, passt nicht zu dem, was die Theorie sagt. So erkannte etwa der Schweizer Astrophysiker Fritz Zwicky im Jahr 1933, dass der Coma-Haufen, eine riesige Ansammlung von mehr als 1000 Galaxien, nicht durch die Gravitationswirkung seiner sichtbaren Bestandteile allein zusammenhalten kann. Er schätzte, dass das 400-Fache der sichtbaren Masse dafür notwendig wäre. Die US-amerikanische Astronomin Vera Rubin analysierte in den 1960er Jahren die Umlaufgeschwindigkeiten von Sternen in Spiralgalaxien und stellte fest: Die Außenbereiche der Galaxien rotieren viel schneller, als die sichtbare Masse allein erklären kann – eigentlich müssten sie auseinanderfliegen. Eine unsichtbare Dunkle Materie scheint diese Objekte zusammenzuhalten.

Das Universum in Raum und Zeit | Eine unbekannte Dunkle Energie scheint die beschleunigte Expansion des Universums voranzutreiben.

Euclids zweiter Forschungsgegenstand hat genau den entgegengesetzten Effekt – allerdings auf viel größeren Entfernungsskalen. Noch Albert Einstein beschrieb 1917 in seiner allgemeinen Relativitätstheorie ein statisches, immer gleich bleibendes Universum. Er führte dazu eine kosmologische Konstante ein, die der gravitativen Anziehung entgegenwirkt. Im Jahr 1927 dann schloss der belgische Theologe und Astrophysiker Georges Lemaître aus der Fluchtbewegung ferner Galaxien, dass das Universum expandieren muss. In den 1990er Jahren erkannten die Astronomen – und späteren Nobelpreisträger – Saul Perlmutter, Brian P. Schmidt und Adam Riess schließlich, dass diese kosmische Ausdehnung sogar beschleunigt geschieht. Indem sie die Distanzen zwischen explodierenden Weißen Zwergen – Supernovae des Typs Ia – bestimmten, konnten sie diese kosmische Dynamik offenlegen. Eine unbekannte gewaltige Abstoßung müsse dafür verantwortlich sein, postulierten sie: die Dunkle Energie. Sie lässt sich wieder gut mit der kosmologischen Konstanten in Verbindung bringen, die Einstein doch damals noch aus völlig anderen Gründen ins Spiel gebracht hatte – eine Ironie der Geschichte.

Die atemberaubende Konsequenz dieser Entdeckungen: Das uns bekannte, beobachtbare Universum ist kaum mehr als ein dünner Staubfilm aus Materie an der Oberfläche einer immensen verborgenen Welt. Denn unvorstellbare 95 Prozent des Universums sind laut Messungen und anerkannten theoretischen Modellen »dunkel«.

»Giuseppe ist mehr Physiker als Ingenieur. Er brennt wirklich für die Wissenschaft hinter seinen Missionen – das verschafft ihm viel Respekt in der Forschergemeinde«Michael Healy, Leiter der wissenschaftlichen Projekte bei der ESA

»Euclid ist wirklich eine besondere Mission für mich«, sagt Giuseppe Racca. »Seit die Dunkle Energie als Erklärung für die beschleunigte Expansion des Universums vorgeschlagen wurde, hat mich die Suche danach fasziniert.« Als man ihn dann fragte, ob er die Leitung der Mission übernehmen wolle, habe er keine Sekunde gezögert. Diese Begeisterung für die größten Rätsel der modernen Physik sei eine von Raccas herausragenden Qualitäten, sagt Michael Healy, Raccas Chef und Leiter aller wissenschaftlichen Projekte bei der ESA. »Giuseppe ist mehr Physiker als Ingenieur. Er brennt wirklich für die Wissenschaft hinter seinen Missionen – das verschafft ihm viel Respekt in der Forschergemeinde.«

Giuseppe Racca selbst versteht die Verbindung beider Disziplinen als Kernaufgabe seines Teams. »Es hat mal jemand gesagt: Wissenschaft ohne Ingenieurskunst sei nur Philosophie. Man braucht also beides. Wir bei der ESA müssen die Anforderungen, die die Wissenschaftler an die Missionen stellen, in die technischen Spezifikationen für den Satelliten und die Instrumente übersetzen. Dafür brauchen wir tiefes physikalisches Verständnis, aber auch herausragende ingenieurwissenschaftliche Fähigkeiten.«

Euclid ist nicht das einzige Forschungsprojekt, das die Rätsel um Dunkle Materie und Dunkle Energie lösen soll, aber zumindest im Weltraum wird es das raffinierteste sein. Die Planung begann bereits im Jahr 2007. Damals forderte die ESA die Wissenschaftsgemeinde auf, Vorschläge für das Forschungsprogramm »Cosmic Vision 2015 – 2025« einzureichen. Und zunächst gingen zwei Missionskonzepte zur Erforschung der Dunklen Energie ein: Dune, der Dark Universe Explorer, und Space, der Spectroscopic All-Sky Cosmic Explorer. Beide Missionen wurden nach einer Bewertungsphase zu einer gemeinsamen zusammengefasst: Die Idee zu Euclid war geboren. Im Oktober 2011 wählte der Ausschuss für das Wissenschaftsprogramm der ESA das Konzept aus und nahm es im Juni 2012 offiziell an. Da war Giuseppe Racca bereits als Projektleiter vorgesehen.

Kollegen beschreiben ihn als harten Knochen, als einen, der weiß, was er will, und der Entscheidungen nicht lange hinauszögert. »Meine Frau würde das wohl unterschreiben«, sagt Racca und lacht. »Nein, ganz im Ernst: Ich sehe das als Kompliment. Es gehört zu meinem Job, die Dinge zu erledigen. Denn ich bin ja letztlich für etliche hundert Millionen Euro und die Arbeit von mehreren tausend Menschen verantwortlich.« Sich beispielsweise für die eine Forschungsfrage und gegen die andere zu entscheiden, sei hart für die Betroffenen, aber unumgänglich, um mit dem Projekt voranzukommen.

Familienmensch, heimatverbunden, leidenschaftlich neugierig

Geboren und aufgewachsen ist er in einem kleinen Dorf in der Nähe von Turin als zweites von vier Kindern. Schon früh sei er als entschieden und starrsinnig aufgefallen. »Der Arzt hat es nicht rechtzeitig zu meiner Geburt geschafft«, sagt er. »Ich hatte wohl schon früh meinen eigenen Kopf.« Er war ein neugieriges Kind, wusste, dass er eines Tages Wissenschaftler werden wollte. Die Leidenschaft für die Naturwissenschaften habe sein Onkel in ihm geweckt. Auf der weiterführenden Schule schließlich packte ihn vor allem die Physik – allgemeine Relativitätstheorie, Quantenmechanik, Kosmologie. »Da wusste ich, was ich studieren wollte.« Und er ist ein Familienmensch. Heimatverbunden. Wenn er abschalten möchte, fährt er in sein Heimatdorf. Dort geht er in den nahe gelegenen Alpen wandern oder klettern.

Um die Form und die Verteilung von Galaxien präzise zu vermessen sowie die Geschwindigkeit, mit der sie auseinanderdriften, braucht das Teleskop ein großes Sichtfeld und extrem empfindliche Detektoren, es muss ausgesprochen stabil sein und einen großen Bereich des elektromagnetischen Spektrums abdecken. Dazu spaltet ein spezieller Filter das auf den 1,2 Meter messenden Teleskopspiegel auftreffende Licht in zwei Strahlen auf – der eine enthält den sichtbaren, der andere den infraroten Anteil –, die dann zu zwei wissenschaftlichen Instrumenten geleitet werden: VIS und NISP. Die erste Abkürzung steht für »Visible Instrument« und die zweite für »Near Infrared Spectrometer and Photometer«. Zusammen decken sie einen Bereich des elektromagnetischen Spektrums zwischen 550 und 2000 Nanometern ab.

Euclids Anatomie | Das 1,2 Meter große Spiegelteleskop von Euclid sammelt das einfallende Licht ein. Ein spezielles Bauteil (ein so genannter dichroitischer Filter) hinter dem Teleskop spaltet das Licht in sichtbares und infrarotes Licht auf. Dieses wird dann an die beiden Instrumente an Bord weitergeleitet: das Instrument für das sichtbare Licht (VIS) und das Nahinfrarot-Spektrometer und -Photometer (NISP).

Es liegt in der Natur der Sache, dass auch Euclid weder die Dunkle Materie noch die Dunkle Energie direkt beobachten kann. Deshalb greifen die Astrophysikerinnen und -physiker auf indirekte Verfahren wie etwa den schwachen Gravitationslinseneffekt zurück: Große Masseansammlungen krümmen die Wege des Lichts und lassen Objekte hinter sich verzerrt erscheinen – ein Effekt von Einsteins Theorie. Verfolgt man mit statistischen Analysen die Lichtwege zurück zu ihrem Ursprung, erfährt man, wie viel Materie das Licht unterwegs abgelenkt hat. Damit lässt sich Dunkle Materie sichtbar machen.

»Dabei gibt es jedoch zwei Probleme«, sagt Giuseppe Racca. »Zum einen kennen wir die ursprüngliche Form der Galaxien nicht. Daher müssen wir sehr viele Galaxien beobachten und einen Mittelwert bilden.« Auf diese Weise bleibt nur der Effekt in den Daten übrig, der auf die Materieverteilung zurückzuführen ist. Und zum anderen sei die Formverzerrung winzig klein, typischerweise weniger als ein Prozent. »Das Teleskop darf also keine Messfehler produzieren, die dazu führen, dass die Wissenschaftler falsche Schlüsse ziehen«, sagt Racca. »Wir müssen so präzise messen wie noch nie jemand zuvor.«

Der Dunklen Energie wollen die Forscherinnen und Forscher über eine zweite indirekte Beobachtungsmethode auf die Spur kommen: Sie vermessen so genannte baryonische akustische Oszillationen, kurz BAO. Das sind Dichtewellen, die sich in einem urzeitlichen Plasma im sehr frühen Universum ausbildeten – noch bevor Sterne und Galaxien existierten. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit dieser Dichtewellen sowie die Zeit, in der sie sich fortpflanzten, sind bekannt. So liefern sie eine Art Referenzmuster, mit dem man die Wirkung der Dunklen Energie zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte des Universums schätzen kann. Die BAO entstanden einst, weil die Materie schon Sekundenbruchteile nach dem Urknall nicht mehr gleichmäßig verteilt war. In besonders dichten, heißen Regionen trieb der Strahlungsdruck die Teilchen auseinander; in weniger dichten Regionen dagegen überwog die Schwerkraft und zog sie wieder nach innen. Dadurch begann das System zu schwingen.

Als sich das Universum schließlich etwa 380 000 Jahre nach dem Urknall abzukühlen begann, »froren« diese Dichtewellen ein und lassen sich noch heute wie ein Fingerabdruck aus der Verteilung der Galaxien ablesen. Aber die kosmische Expansion dehnte diesen Fingerabdruck. Vergleicht man verschiedene Momentaufnahmen der kosmischen Geschichte miteinander, erfährt man, wie die Dunkle Energie in den jeweiligen Epochen wirkte.

Euclid scannt den Himmel | Euclid wird den Himmel sechs Jahre lang abtasten und die einzelnen Messungen zur größten jemals durchgeführten kosmologischen Durchmusterung im sichtbaren und nahen Infrarot zusammenfassen. Die verschiedenen Grautöne zeigen den Bereich, den Euclid jeweils pro Jahr aufzeichnet. Die überwältigende Helligkeit der Milchstraße verhindert, dass das Teleskop mehr als 35 Prozent des Himmels abdecken kann.

Dazu muss Euclid die Entfernung von Milliarden Galaxien dokumentieren. Die Distanzen folgen indirekt aus einem bekannten Effekt, der kosmologischen Rotverschiebung: Je schneller die Ausdehnung des Universums eine Galaxie fortträgt, umso stärker werden die Lichtwellen gedehnt. Dieser Hubble-Effekt führt dazu, dass sich die charakteristischen Spektrallinien im Emissionsspektrum der sich entfernenden Galaxien zum Roten hin verschieben. Je größer diese Rotverschiebung eines astronomischen Objekts, desto länger war also das von ihm ausgesandte Licht unterwegs. So verrät die Farbe des Lichts die Entfernung. Damit die Wissenschaftler aber überhaupt etwas mit den Daten anfangen können, muss Euclid diesen Effekt bis auf 0,1 Prozent genau erfassen.

Einer, der für diese fast schon übermenschliche Präzision sorgen wird – oder besser: gesorgt hat –, ist Frank Grupp. Der Forscher vom Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching hat mit seinem Team die Linsenoptik für das Instrument NISP entwickelt. Es ist das größte linsenoptische System, das jemals gebaut wurde. Jede der drei Linsen misst im Durchmesser knapp 20 Zentimeter und wiegt rund zwei Kilogramm. Doch die entscheidende Herausforderung ist: Die Einzelteile dürfen sich während des Starts und der gesamten Mission nicht um mehr als 15 Mikrometer gegeneinander verschieben. Das ist ein Zehntel des Durchmessers eines menschlichen Haars. »Anfangs hat keiner geglaubt, dass es überhaupt möglich ist, so etwas zu bauen«, sagt Grupp. Er habe deshalb bei allen anfänglichen Treffen als Erster vortragen müssen, da der Fortschritt seiner Forschungsgruppe gewissermaßen über den gesamten Zeitplan bestimmte. »Ich hatte zwischenzeitlich schon richtig fiese Albträume«, berichtet er. Zwar könne er seit den erfolgreichen Abschlusstests schon wieder ruhig schlafen, doch die gesamte Anspannung weiche erst, wenn Euclid am Zielort angekommen, richtig kalibriert ist und erste Daten sendet.

Linsenoptik des NISP

Das Teleskop soll eine Bildqualität erzielen, die viermal schärfer ist als bei vergleichbaren bodengestützten Himmelsdurchmusterungen. Dabei entstehen an einem einzigen Tag mehr Daten, als das Hubble-Teleskop während seiner gesamten bisherigen Laufzeit zur Erde geschickt hat. Um diese störungsfreien Beobachtungen machen zu können, hat Euclid zum einen keine beweglichen Bauteile und besteht zum anderen aus einer gegen Temperaturschwankungen und sonstige Einflüsse unempfindlichen Spezialkeramik.

Außerdem wird das Teleskop zum 1,5 Millionen Kilometer entfernten Lagrange-Punkt L2 des Sonne – Erde Systems geschickt, von dem aus auch das James Webb Space Telescope das All betrachtet. In jedem Zwei-Körper-System gibt es grundsätzlich fünf Lagrange-Punkte, an denen ein gravitativer Gleichgewichtszustand eintritt, so dass eine Raumsonde an dieser Stelle scheinbar verharrt. Euclid muss lediglich von Zeit zu Zeit leichte Kurskorrekturen vornehmen. Der zusätzliche Vorteil von L2: Euclid hat die Sonne stets im Rücken, die empfindlichen Instrumente auf der Vorderseite liegen dauerhaft im Schatten.

Weg zur Startrampe war steinig

Natürlich hoffen alle Beteiligten, dass Euclids Reise zu L2 glimpflich verläuft, denn der Weg zur Startrampe war steinig genug. »Zu Beginn lief noch alles einigermaßen reibungslos«, sagt Giuseppe Racca. Doch auf der Zielgeraden sei es holprig geworden. »Erst dauerte das gesamte Design des Teleskops etwa zwei Jahre länger als gedacht«, sagt er. Man habe also bereits mit dem Bau verspätet begonnen. Der ursprünglich anvisierte Starttermin im Jahr 2020 sei nicht zu halten gewesen. Dann kam die Corona-Pandemie. Und schließlich marschierte Russland in die Ukraine ein. »Plötzlich standen wir zwar mit einem fertigen Satelliten, aber ohne Rakete da«, sagt Racca. Denn Euclid hätte eigentlich in einer russischen Sojus-Rakete vom europäischen Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guayana die Reise ins All antreten sollen. Dass sich die konservative ESA nun bei einer milliardenschweren Wissenschaftsmission auf ein Privatunternehmen wie SpaceX verlässt, gilt auch unter Eingeweihten als lange Zeit undenkbares Novum. Racca hat es gegen alle Widerstände durchgeboxt.

»Ein Raketenstart scheint im ersten Moment ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Man fragt sich, wie ein so komplexes Unterfangen jemals funktionieren soll. Dann spürt man die ganze Energie, sieht, wie jedes kleine Detail ineinandergreift, und kann nur staunen«Giuseppe Racca, Euclid-Projektleiter bei der ESA

Doch er hatte nichts zu verlieren. Ende des Jahres wird er in den Ruhestand gehen. Euclid ist damit nicht nur seine größte und herausforderndste, sondern auch seine letzte Mission. Und so mischt sich neben Vorfreude, Sorge und Aufregung ein bisschen Wehmut in den Gefühlscocktail vor dem finalen Countdown. »Bislang war jeder Raketenstart ein absolut unvergessliches Erlebnis – vergleichbar mit der Geburt der eigenen Kinder«, sagt Racca. »Es scheint im ersten Moment ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Man fragt sich, wie ein so komplexes Unterfangen jemals funktionieren soll. Dann spürt man die ganze Energie, sieht, wie jedes kleine Detail ineinandergreift, und kann nur staunen. Ich bekomme schon jetzt eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke.« Diesmal sei der Nervenkitzel verständlicherweise besonders groß.

Und welche wissenschaftlichen Erfolge erhofft er sich von der Mission? »Es wäre natürlich fantastisch, wenn wir mit Euclid einen echten Durchbruch erzielen könnten – etwa, indem wir herausfinden, dass sich die Gravitation auf großen Skalen einfach nicht so verhält, wie es Albert Einstein beschrieben hat.« Darauf traue er sich aber kaum zu hoffen. Denn es könnte ebenso passieren, dass Euclid einfach nur all das bestätigt, was das Standardmodell der Kosmologie vorhersagt. »Dann wird die Suche nach der Natur von Dunkler Materie und Dunkler Energie weitergehen.« Giuseppe Racca wird das dann allerdings nur noch aus der Ferne beobachten. »Ich freue mich sehr darauf, mich ein bisschen auszuruhen, mit meiner Frau wieder das Tanzen anzufangen und mehr Zeit für meine Familie zu haben«, sagt er und zeigt ein Bild von seiner Enkeltochter. Sie ist gerade erst wenige Tage alt.

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