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Anthropozän: Keine Epoche für die Menschheit

Verändern wir Menschen die Erde so massiv, dass eine neue Erdepoche angebrochen ist? Darüber streiten Geologen seit Jahren. Doch der Vorschlag ist nun überraschend gescheitert.
Ein Kraftwerk von oben
Wir Menschen begradigen Flüsse, verändern das Klima, verschmutzen die Böden und rotten Arten aus. Damit verändern wir unseren Planeten tief greifend. Doch offenbar reicht das nicht, um ein neues Erdzeitalter zu markieren.

Das Anthropozän ist geplatzt. Der Vorschlag, ein neues Menschenzeitalter auszurufen, ist erst mal vom Tisch. Dabei hatte über 15 Jahre hinweg ein großes Team von Wissenschaftlern intensiv die Frage untersucht, ob die Menschheit die Erde so einschneidend und langfristig verändert, dass eine neue Erdepoche angebrochen ist. Doch aus alldem wird nun bis auf Weiteres nichts. Denn die Gegner einer neuen Zeitrechnung für die Erde haben den Vorschlag unbefristet auf Eis gelegt.

Eigentlich war geplant gewesen, das Anthropozän im Sommer auf dem internationalen Geologenkongress im südkoreanischen Busan formal auszurufen. Die eigens dafür einberufene Anthropocene Working Group (AWG) hatte sich nach mehrjährigen Beratungen eindeutig für eine solche Erdepoche des Menschen ausgesprochen. Der Beginn wurde vor allem wegen der langfristigen messbaren radioaktiven Spuren von Atombombenexplosionen auf die Mitte des 20. Jahrhunderts datiert. Mit dem Crawford Lake in Kanada war auch schon ein Referenzort für die weitere geologische Forschung gefunden. Die Gruppe war von der Internationalen Kommission für Stratigrafie (ICS) mit der Aufgabe betraut worden. Diese wacht über die wissenschaftliche Einteilung der Erdgeschichte in Kapitel und Unterkapitel und gibt die offizielle »Geologische Zeittafel« heraus.

Doch nun hat ein übergeordnetes Gremium in der ICS mit einer überraschend deutlichen Mehrheit den Anthropozän-Vorschlag abgelehnt. Die »New York Times« berichtete am Dienstag als Erste über das Ergebnis der schriftlichen Abstimmung, die sich über einen Monat hingezogen hatte. 12 der insgesamt 22 Mitglieder des Gremiums stimmten mit Nein, vier mit Ja, zwei enthielten sich, vier weitere meldeten sich nicht zurück. Allerdings gab es im Vorfeld der Abstimmung Kritik an dem Prozess: So sei übereilt eine Frist gesetzt worden, ohne dass es ausreichend intensive wissenschaftliche Erörterungen gegeben habe. Der Vorsitzende der AWG, der Geologe Colin Waters von der University of Leicester in Großbritannien, zeigte sich gegenüber »Spektrum« enttäuscht über das Abstimmungsergebnis. Auch er äußerte Kritik am Verfahren und gab bekannt, dass die AWG das Abstimmungsergebnis möglicherweise anfechten werde. Waters kündigte zudem an, die Gruppe werde die wissenschaftliche Arbeit an der neuen Epoche fortsetzen.

Unbestritten, dass die Menschheit die Erde drastisch verändert

Den Anstoß für die Beratungen hatte ursprünglich der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen im Jahr 2000 gegeben, als er forderte, das aktuelle Holozän offiziell zu beenden und durch ein neues »Anthropozän« zu ersetzen. Eine ganze Reihe von Fachleuten schloss sich dem Vorschlag an, und die ICS setzte die Anthropocene Working Group ein, um über die neue Epoche zu beraten. Jedoch bezweifeln auch die Gegner des Anthropozän-Vorschlags nicht, wie umfassend die Menschheit die Erde verändert. In den Naturwissenschaften herrscht weitgehend Einigkeit, dass der menschengemachte Klimawandel, der rapide Verlust von Arten, Veränderungen in den Landschaften und Meeren der Erde sowie neuartige Chemikalien zusammengenommen zu einer tief greifenden Umweltkrise führen, die auch die menschliche Zivilisation bedroht.

Die Kritiker störten sich aber an zwei Hauptpunkten des Vorschlags der AWG. Zum einen widerstrebt es ihnen, die aktuellen Veränderungen in den Rang einer Erdepoche zu erheben. Erdepochen stehen für große Einschnitte in der Erdgeschichte, etwa das Pleistozän, das vor etwa 2,6 Millionen Jahren begann und vor 11 700 Jahren endete, was den Start des aktuell gültigen Holozäns markiert. Und zum anderen sind sie schlicht nicht davon überzeugt, dass die Mitte des 20. Jahrhunderts einen derart gewaltigen Einschnitt darstellt.

Damit begründet zum Beispiel einer der Wortführer der Anthropozän-Gegner in dem Entscheidungsgremium, Mike Walker vom Department of Geography and Earth Sciences an der Aberystwyth University in Wales, seine Ablehnung. Der menschliche Einfluss auf die Erde reiche viel weiter zurück als in die Mitte des 20. Jahrhunderts. In einem Positionspapier, das 2022 im »Journal of Quartenary Science« erschienen ist, schlug Walker zusammen mit einigen Kollegen vor, von einem »geologischen Ereignis« zu sprechen. Als Ereignis gelten in der Geologie verschiedene größere erdverändernde Geschehnisse wie etwa Vulkanausbrüche oder die massive Anreicherung von Sauerstoff in der Atmosphäre vor rund zwei Milliarden Jahren. Diese Einstufung unterhalb einer Epoche spiegele »die Realität sowohl historischer als auch aktueller Mensch-Umwelt-Interaktionen besser wider«, schrieb Walker in dem Papier.

Die Fürsprecher eines so genannten »frühen Anthropozäns« führen zudem an, dass Menschen mit Reisanbau und Viehzucht sogar schon vor Jahrtausenden den Methangehalt der Atmosphäre erhöht hätten. Die »New York Times« zitierte den Geologen Jan A. Pietrowiski von der Universität Aarhus in Dänemark mit den Worten, ein Startdatum im 20. Jahrhundert würde die Bedeutung des Anthropozäns einengen: »Was ist mit dem Beginn der Landwirtschaft, der industriellen Revolution, der Kolonisierung Amerikas und von Australien?«

Crawfordsee | Der kleine See in Kanada ist eine eingestürzte Karsthöhle. Dadurch haben sich auf seinem Boden nahezu perfekte Jahresringe abgelagert, die Stoffe aus der Umwelt unter einer dünnen hellen Schicht einschließen. Sie bilden so ein natürliches Archiv der Veränderungen.

Zu den Kritikern der Anthropozän-Hypothese zählt schon seit Längerem Philip Gibbard von der University of Cambridge, der derzeit auch als Generalsekretär der ICS fungiert und damit einen erheblichen Einfluss auf den Entscheidungsprozess hat. Er hält den radioaktiven Fallout aus Atombombentests, den die AWG als eines der weltweit und dauerhaft messbaren Signale für den Beginn des Anthropozäns Anfang der 1950er Jahre benennt, für unzureichend. Es sei derzeit unmöglich, eine weltweit gültige genaue Abgrenzung vorzunehmen, sagt Gibbard. Er schlug in früheren Stellungnahmen vor, das Anthropozän als »kulturellen Begriff« und als »Label« zu verwenden statt als formale Epoche, ähnlich wie etwa das Mittelalter. Später schloss er sich dem Vorstoß an, nur ein geologisches Ereignis zu definieren.

In einer Erwiderung im Journal »Episodes« hatten Mitglieder der Anthropocene Working Group im Jahr 2023 betont, moderne Umbrüche wie der Klimawandel, der Schwund von Biodiversität, der weltweite Bergbau oder die Massenproduktion neuartiger Mineralien und Stoffe wie etwa von Plastik summierten sich zu einer Erdepoche. Die Wissenschaft beobachte »abrupte und noch nie da gewesene planetarische Veränderungen, die sich deutlich in den Gesteinsschichten abzeichnen«, schrieb die Befürworter-Gruppe um den Geologen Jan Zalasiewicz. Sie warnte sogar davor, dass ohne eine formale Anerkennung des Anthropozäns die wichtigste Grundlage der gesamten Geologie, die vom ICS kuratierte Geologische Zeittafel, »die Erdgeschichte nicht mehr genau widerspiegeln würde, was die Bedeutung der geologischen Wissenschaft für die Analyse der laufenden planetarischen Veränderungen schmälern würde«.

»Die Veränderungen des Erdsystems, die das Anthropozän kennzeichnen, sind unumkehrbar: Eine Rückkehr zu den stabilen Bedingungen des Holozäns ist nicht mehr möglich«Colin Waters, Vorsitzender der AWG

Der AWG-Vorsitzende Colin Waters betonte, die Gruppe stehe ungeachtet des Abstimmungsergebnisses »voll und ganz hinter ihrem Vorschlag«. Es sei zweifelsfrei belegt, dass sich die Erde außerhalb der relativen stabilen Umweltbedingungen des Holozäns befinde. »Die Veränderungen des Erdsystems, die das Anthropozän kennzeichnen, sind insgesamt unumkehrbar, was bedeutet, dass eine Rückkehr zu den stabilen Bedingungen des Holozäns nicht mehr möglich ist«, betonte Waters. Es gebe zudem mehr als 100 langlebige Spuren menschlichen Handelns in den Sedimenten, »darunter anthropogene Radionuklide, Mikroplastik, Flugasche und Pestizidrückstände«. Die meisten nähmen in der Mitte des 20. Jahrhunderts stark zu.

Die Anthropocene Working Group will weitermachen

Waters kündigte an, die »vielen herausragenden Forscher« in der AWG wollten »als Gruppe weitermachen, wenn nötig in informeller Funktion«. Man werde »weiterhin dafür plädieren, dass die Beweise für das Anthropozän als Epoche formalisiert werden sollten, da sie mit den wissenschaftlichen Daten in unserer Vorlage übereinstimmen«. Der deutsche Geologe Reinhold Leinfelder, ebenfalls Mitglied der AWG, sagte: »Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.« Es gelte nun, das Abstimmungsergebnis »genau zu reflektieren und dann nach vorne zu schauen«.

»Wir leben im Anthropozän, unabhängig davon, ob es auf der geologischen Zeitskala einen Strich gibt oder nicht«Francine McCarthy, Geologin

Francine McCarthy von der Brock University im kanadischen Ontario hielt gegenüber der »New York Times« ebenfalls an dem Vorschlag fest: »Wir leben im Anthropozän, unabhängig davon, ob es auf der geologischen Zeitskala einen Strich gibt oder nicht.« McCarthy hatte die Forschungsarbeiten am Crawford Lake geleitet, der als Referenzort für das Anthropozän gelten sollte. Auf dem Grund des Sees schließen jährliche Kalkablagerung Stoffe aus der Umwelt unter einer dünnen hellen Schicht ein und bilden so ein natürliches Archiv der Veränderungen. In diesen Schichten können die radioaktiven Stoffe aus Atombombentests ebenso nachgewiesen werden wie Schwermetalle aus der Industrie.

Mit dem überraschenden Nein der so genannten »Unterkommission für das Quartär« der ICS münden mehr als 15 Jahre umfangreicher Aktivitäten zum Anthropozän vorläufig in einer Sackgasse. Nachdem der Atmosphärenforscher und Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen im Jahr 2000 den Vorschlag einer neuen »Menschenzeit« gemacht hatte, setzte zuerst in der Wissenschaft, später auch in Kultur und Politik eine intensive Debatte ein. Der Deutsche Bundestag stellte Fördermittel bereit, um den Vorschlag Crutzens intensiv zu ergründen, und finanzierte dabei auch teilweise die Arbeit der AWG. Die Max-Planck-Gesellschaft arbeitete eng mit der AWG zusammen – auch weil der 1933 in Amsterdam geborene und 2021 verstorbene Crutzen bis zu seinem Ruhestand als Direktor an ihrem Institut für Chemie in Mainz tätig gewesen ist. 2023 gründete die Max-Planck-Gesellschaft in Jena ein neues Institut für Geoanthropologie, an dem Natur- und Geisteswissenschaftler kooperieren.

Crutzen selbst hatte in fortgeschrittenem Alter die Versuche, das Anthropozän formal anzuerkennen, mit Interesse begleitet und anfangs auch in der AWG mitgearbeitet. Die Idee zu dem Vorschlag war ihm gekommen, nachdem er in seiner Forschung mit Kollegen aufgedeckt hatte, dass vom Menschen verursachte Chemikalien die schützende Ozonschicht des Planeten angreifen und in ihrer Existenz gefährden. Für diese Leistung bekam Crutzen mit den Kollegen Frank Sherwood Rowland und Mario Molina 1995 den Chemie-Nobelpreis. Der Wissenschaftler betonte aber, dass er an seinem Vorschlag am wichtigsten findet, welche intensiven Debatten über das Verhältnis von Mensch und Erde dieser auslösen kann. Als Risiko einer formalen Anerkennung des Anthropozäns empfand er, dass die Debatte erlahmt und die Menschheit sich an ihren massiven Einfluss auf die Biosphäre und das Klima gewöhnt.

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