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Hirnforschung: Die erste Karte eines Insektengehirns ist komplett

Die Karte soll helfen, Gehirne besser zu verstehen. Denn selbst bei einer sechs Stunden alten Fliegenlarve ist das Verschaltungsmuster der Neurone bereits unüberschaubar komplex.
Taufliege
Die Taufliege Drosophila melanogaster, auch Fruchtfliege genannt, ist trotz ihrer winzigen Größe zu erstaunlichen Hirnleistungen im Stande. Jetzt hat ein Team erstmals eine Karte der neuronalen Verschaltung ihres Gehirns erstellt.

Ein Forschungsteam hat erstmals eine vollständige Karte des Gehirns eines kleinen Insekts erstellt. Die Karte enthält alle Nervenzellen des Tiers sowie die Verbindungsstellen zwischen ihnen. Diese Art von Karte wird auch als »Konnektom« bezeichnet und liefert eine detaillierte Darstellung der Verdrahtung des Gehirns. In einer unlängst erschienenen Ausgabe der Zeitschrift »Science« stellen die Forscher ihre Arbeit vor. Die Karte zeigt alle 3016 Neurone und 548 000 Synapsen einer noch ganz jungen Taufliege Drosophila melanogaster. Diese sind dicht gepackt in einem Gehirn, das kleiner als ein Mohnsamen ist.

Die Erstellung der Karte stellt einen Meilenstein in der Erforschung von Nervensystemen dar. Insbesondere kann sie helfen, die Frage zu beantworten, wie Gehirne sensorische Informationen verarbeiten und in Handlungen umsetzen. »Jetzt haben wir ein Referenzgehirn«, sagt Marta Zlatic, Neurowissenschaftlerin an der University of Cambridge und Mitautorin der Studie. »Wir können untersuchen, was mit der Konnektivität in Modellen von Alzheimer, Parkinson und anderen degenerativen Krankheiten geschieht.«

Bisher waren Konnektome nur für wenige Tiere wie den Wurm Caenorhabditis elegans, die Larve des Seescheidenwurms Ciona intestinalis oder die Plattwurmart Platynereis dumerilii bekannt. Drosophila war ein ideales Modell für Konnektomstudien, da ihr Genom bereits sequenziert wurde und ihre Larven einen transparenten Körper besitzen. Außerdem zeigen Taufliegen vergleichsweise komplexe Verhaltensweisen wie Lernen, Navigieren in Landschaften, Verarbeiten von Gerüchen und Abwägen der Risiken und Vorteile einer Handlung. »Ihre Größe ist für die heutige Technologie überschaubar«, sagt Chung-Chuang Lo, Neuroinformatiker an der National Tsing Hua University in Hsinchu, Taiwan.

Albert Cardona, Neurowissenschaftler an der University of Cambridge und Mitautor der Studie, sagt rückblickend: »Hätte man mich in den 1980er Jahren, als die Arbeit an C. elegans begann, nach diesem Projekt für die Taufliege gefragt, ich hätte es für unmöglich gehalten«. Die Gruppe benötigten eineinhalb Jahre, um mit einem Elektronenmikroskop mit Nanometer-Auflösung Bilder des Gehirns einer einzigen sechs Stunden alten Drosophila-Larve aufzunehmen. Danach lokalisierten die Forscherinnen und Forscher computergestützt die Neurone und Synapsen und überprüften sie manuell in einem monatelangen Prozess. Insgesamt identifizierten sie 3016 Neurone, von denen 93 Prozent mit einem Partnerneuron in der gegenüberliegenden Hirnhälfte verbunden waren. Die meisten ungepaarten Neurone waren Kenyon-Zellen, die im Lern- und Gedächtniszentrum eine Schlüsselrolle spielen.

Schließlich verfolgte das Team die verschlungenen Verbindungen jedes Neurons und beschrifteten 548 000 Synapsen, die in vier Typen eingeteilt werden konnten. »Das ist sehr zeit- und arbeitsaufwändig«, sagt Kei Ito, Neurowissenschaftler an der Universität zu Köln.

Schematische Darstellung des Konnektoms | Je ähnlicher sich die Verbindungsmuster zweier Neurone sehen, desto enger sind sie hier dargestellt (Punkte). Wo Verknüpfungen zwischen zwei Nervenzellen bestehen, sind sie als Linie dargestellt. Entlang des Rands sind typische Gestalten von Neuronen mit ihren Ausläufern gezeigt.

Verbindungslücke geschlossen

Bisher wurden bei den meisten Arbeiten zum Konnektom nur Verbindungen zwischen dem Axon eines Neurons und den Dendriten eines anderen betrachtet. Die Verbindungen zwischen Axonen oder zwischen Dendriten wurden jedoch vernachlässigt. »Das müssen wir nun überdenken: Wir müssen wahrscheinlich ein neues Rechenmodell des Nervensystems in Betracht ziehen«, sagt Lo.

Das Verdrahtungsdiagramm zeigt, dass das Gehirn des Insekts sehr komplex ist und unterschiedlich lange Bahnen hat, die Eingänge und Ausgänge des Gehirns miteinander verbinden. »Es ist eine schöne, verschachtelte Struktur«, sagt Michael Winding, ebenfalls Neurowissenschaftler an der University of Cambridge und Mitautor der Studie. Einige der Hirnnetzwerke weisen Abkürzungen auf, bei denen Schichten übersprungen werden. Die Autoren vermuten, dass solche Abkürzungen die Rechenkapazität des Gehirns erhöhen und die begrenzte Anzahl von Neuronen kompensieren.

Das Team fand außerdem heraus, dass 41 Prozent der Neurone im Gehirn »rekurrente Schleifen« bilden, die Rückmeldungen an ihre vorgelagerten Partner geben. Diese Abkürzungen und Schleifen ähneln modernen künstlichen neuronalen Netzen, die in der Forschung zur künstlichen Intelligenz eingesetzt werden. »Es ist interessant, dass sich die Informatik dem annähert, was die Evolution entdeckt hat«, sagt Cardona.

Die aktuelle Karte enthält Daten von einem einzigen Tier. Der Forschungsgruppe zufolge sollten technologische Fortschritte die Kartierung von mehr Fliegen und schließlich von anderen Arten ermöglichen. »Man kann sie jetzt nutzen, um maschinelles Lernen zu trainieren, damit es viel schneller geht«, sagt Zlatic. »Die Geschichte ist noch nicht zu Ende«, sagt Lo. Der nächste Schritt wird sein, das Gehirn einer erwachsenen Drosophila zu kartieren. Es ist noch einmal komplexer und hat noch mehr Neurone.

© Johns Hopkins University; University of Cambridge
Wie ein Konnektom entsteht
Die Gruppe zerlegte die Fliegenlarve mit dem Elektronenmikroskop in mehr als 4800 einzelne Scheibchen. Anschließend verfolgten sie die Lage und Verbindungen aller Neurone und ihrer Ausläufer durch den Bilderstapel.

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