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Coronavirus-Pandemie: »Kinder sollen wieder miteinander spielen können«

Die Corona-Einschränkungen würden sie besonders treffen, schreiben 500 Forscher zwischen 25 und 50. Kitas langfristig zu schließen, mache wenig Sinn, sagt Mitautorin Sara Leonhardt. Daran würden auch die jüngst veröffentlichten Daten des Virologen Christian Drosten nichts ändern.
Kinder sollen trotz der Corona-Pandemie in kleinen Gruppen wieder spielen können, fordern Forscher in einem offenen Brief.

Mehr als 500 Wissenschaftler protestieren gegen eine Benachteiligung von Nachwuchsforschern in der aktuellen Debatte und von Menschen mit Kindern während der Corona-Krise. Der Aspekt der Kinderbetreuung werde in der Debatte zu wenig berücksichtigt, schreiben sie in einem offenen Brief an die Bundesregierung. Die Lasten der Krise seien ungerecht verteilt. Die Ökologin Sara Leonhardt von der TU München hat den Brief mit unterzeichnet. Warum gewisse Entscheidungen vor allem für ihre Generation problematisch sind und warum es trotz neuer Daten des Virologen Christian Drosten zur Virenlast bei Kindern unverhältnismäßig sei, Kitas und Kindergärten noch länger zu schließen, erklärt sie im Interview.

»Spektrum.de«: In einem offenen Brief an die Bundesregierung fordern Sie, »einen demokratischen Weg aus der aktuellen Corona-Krise mitgestalten« zu können. Wie kommen Sie darauf, bislang nicht ausreichend gehört zu werden?

Sara Leonhardt: Die Gruppe der jungen Wissenschaftler, zu denen ich gehöre, hat den Eindruck, dass die jüngsten Entscheidungen zu kurz gedacht sind. Deren langfristige Folgen muss außerdem vor allem unsere Generation tragen. Sicher, alle müssen gegen das neue Coronavirus mitkämpfen, und jeder hat sich zurückzunehmen. Das haben wir wochenlang voller Verständnis getan. Doch dann hieß es: Die Kitas und Kindergärten sollen bis zum Ende des Sommers geschlossen bleiben und die Eltern die Kinder daheim betreuen. Gleichzeitig sollen wir im Homeoffice zu 100 Prozent arbeiten. Wie soll das gehen? Die Empörung darüber war Auslöser, uns zu fragen, ob das wirklich die beste Lösung für alle ist.

Hat jemand aus der Regierung schon auf den Brief reagiert?

Es gab bislang die Bestätigung, dass der Brief eingegangen ist, sowie eine Nachfrage zu den Unterzeichnern. Sonst nichts!

Sara Leonhardt | Die Professorin für Pflanzen-Insekten-Interaktionen an der TU München hat ein besonderes Interesse an der Bedeutung von Biodiversität für Wildbienen in tropischen und gemäßigten Regionen – und zwei kleine Kinder. Sie ist Mitverfasserin des offenen Briefs und Sprachrohr unserer Initiative.

Die Bundesregierung hat sich früh mit diversen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beraten. So manche Forscher haben gerade in den Anfängen der Krise unter anderem den Gesundheitsminister dafür gelobt. Gänzlich ungehört blieben Sie und Ihre Kollegen also nicht …

Es ist eine Krise, bei der Politiker endlich mal wieder auf die Wissenschaft hören. Aber wenn Sie sich die Medienberichte anschauen, finden sich dort eher die Stimmen älterer, männlicher Wissenschaftler. Oder nehmen Sie das grundsätzlich gute Empfehlungsschreiben der Leopoldina-Gruppe: Die Autoren erwähnen zwar das Thema Kinderbetreuung, aber sie halten es für okay, Kinder noch länger zu Hause zu isolieren. Das sehen wir, die zwischen 25 und 50 Jahre alt sind, anders. Wir sind in einer sensiblen Phase unserer Karriere und stehen so schon unter enormer Belastung.

Wir wollen aber nicht nur jammern, sondern uns einbringen. Derzeit ist eine Art Plattform geplant, um den Austausch zwischen Nachwuchsforschern, gestandenen Wissenschaftlern und Politikern zu erleichtern.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Was genau läuft derzeit schief?

Die Zukunftsplanung. Wir müssen einen gesunden Weg aus der Krise finden. Eltern sollen wieder ordentlich arbeiten und Kinder miteinander spielen können. Es gab ja auch schon Stimmen von Pädagoginnen und Psychologen, die davor gewarnt haben, Kinder noch lange weiter zu isolieren. Aktuell scheint auch deshalb ein Umdenken stattzufinden.

»Eine Schließung von Kitas macht im Zuge eines kompletten Lockdowns bei drohender Überlastung unserer Krankenhäuser Sinn«

Die Eltern unter uns kennen die Krankheit Hand-Mund-Fuß aus der Kita. Da sind ebenfalls 50 Prozent der Kinder asymptomatisch, aber ansteckend. Das Robert Koch-Institut sieht es in diesem Fall dennoch nicht als zielführend, den Kita-Betrieb zu beschränken, weil dem Virus so nicht beizukommen ist. Das trifft auch auf Corona zu. Wir halten es für sehr schwierig, die Infektionsketten bei Kindern zu verfolgen. Eine Schließung von Kitas macht im Zuge eines kompletten Lockdowns bei drohender Überlastung unserer Krankenhäuser Sinn. Im aktuellen Modus des Social Distancing eher weniger.

Sie haben konkret vorgeschlagen, man könnte das Kontaktverbot von Kindergruppen aufheben. Bis zu fünf Kinder sollten sich sehen können. Worauf stützen Sie diese Aussage?

Seit sechs Wochen leben viele in strenger Isolation. Selbst wenn die Kinder und ihre Familien sich zwischenzeitlich mit dem Coronavirus angesteckt haben, sollten sie nun nichts mehr haben. Kontakt wieder aufzunehmen, ist deshalb sinnvoll und medizinisch nach jetziger Kenntnis kein Risiko. Das größte Problem ist, dass es bislang keine Studie gibt, die wissenschaftlich zweifelsfrei belegt, dass Kinder das Virus kaum weitertragen. Fest steht bloß, dass Kinder deutlich seltener schwer an dem Virus erkranken als ältere.

Eine Studie aus Island hat gezeigt, dass sich die unter 10-Jährigen deutlich seltener anstecken als Jugendliche und Erwachsene. Laut einer Studie aus China wiederum gibt es kaum einen Unterschied zwischen den Altersgruppen. Nun hat eine Arbeitsgruppe um den Virologen Christian Drosten Daten von 3712 Covid-19-Patienten veröffentlicht. Das Fazit: »Insbesondere deuten diese Daten darauf hin, dass sich die Viruslast bei sehr jungen Menschen nicht signifikant von derjenigen der Erwachsenen unterscheidet.« Was ändert das an Ihrer Haltung?

Es handelt sich um eine vorveröffentlichte Studie. Das heißt, noch keine unabhängige Forschergruppe hat die Arbeit offiziell geprüft. Daher sollte die Studie mit Vorsicht betrachtet werden. Auch sind die Stichprobengrößen für positiv getestete Kindergartenkinder sehr viel geringer (49) als die für Erwachsene, die älter als 40 Jahre sind (mehr als 1000). Es ist fraglich, wie aussagekräftig die Gruppenvergleiche sind. Letzteres kann man beispielsweise mit einer Poweranalyse abschätzen. Diese wurde aber nicht gemacht. Auch wird mir nicht ganz klar, wie viele der getesteten Kinder symptomatisch, wie viele asymptomatisch waren. Dennoch zeigt der genutzte Test (Kruskal-Wallis Anova) klare signifikante Unterschiede zwischen allen Gruppen. Das macht auch Sinn, denn die Virusbelastung von Kindergartenkindern beispielsweise liegt mit im Schnitt 4,4 plus/minus 1,6 doch um einiges unter der von Erwachsenen (5,2 plus/minus 1,9). Der einzige von dem Team durchgeführte Test zwischen Gruppen, welcher das Datenformat etwas beachtet, ist der »Dunn's Test«. Und dieser findet signifikante Unterschiede zwischen Kindergartenkindern und Erwachsenen!

Das bedeutet was?

Es widerspricht klar der Aussage, »dass sich die Viruslast bei sehr jungen Menschen nicht signifikant von derjenigen der Erwachsenen (älter als 45) unterscheidet«. Warum tun die Autoren dieses Ergebnis mit der schiefen Datenverteilung ab? Das ergibt keinen Sinn und gibt die Werte weder korrekt noch objektiv wieder. Hinzu kommt, dass die Virusbelastung nicht gleichzusetzen ist mit der Ansteckungsgefahr, wie die Autoren selbst anmerken. Ohne weitere Studien, die tatsächliche Ansteckungsraten messen und zwischen Gruppen vergleichen, überzeugen mich diese Ergebnisse nicht, zumal ich der verwendeten Statistik nur bedingt traue. Ich wäre sehr vorsichtig, auf deren Basis eindeutige Empfehlungen abzuleiten.

»Schon jetzt zeichnen sich negative Folgen der Isolation ab. Es reicht vielen«

Momentan untersuchen zudem unter anderem vier baden-württembergische Unikliniken, welche Rolle Kinder bei der Verbreitung von Sars-Cov-2 spielen …

Die Ankündigung kam mehr oder weniger gleichzeitig mit unserem Brief. Es ist erst mal eine Studie zur Datenerhebung. Es ist etwas merkwürdig aus meiner Sicht, dass nur ein Kind pro Familie getestet wird – warum nicht alle Geschwister, um Kind-Kind-Übertragung mit abzudecken? Das Problem ist, dass die Daten wahrscheinlich zu spät kommen werden, um effektiv Entscheidungen zu treffen, und dann wahrscheinlich immer noch mit Unsicherheit behaftet sind. Das lässt sich nicht vermeiden.

Der mögliche Schaden, der entsteht, weil Eltern nicht arbeiten können, überwiegt derzeit also das Risiko, sich anzustecken?

Genau. Es geht hier zum einen um die finanzielle Existenz von Familien. Unsere Generation hat deutlich weniger Eigentum und weniger Rücklagen. Auch die Beschäftigung ist unsicherer als die der älteren Generationen. Zum anderen geht es um die psychische Gesundheit aller Beteiligten. Schon jetzt zeichnen sich negative Folgen der Isolation ab. Es reicht vielen. Aber klar: Wenn die Infektionsraten wieder steigen, müssen wir zurück. Da gibt es nichts zu diskutieren.

Wie viele Menschen haben sich neu angesteckt? | Die »Sieben-Tage-Inzidenz« gibt an, wie viele Neuinfektionen es in den letzten 7 Tagen pro 100.000 Einwohner gab. Stecken sich zu viele Menschen an, sollen die Landkreise Schutzmaßnahmen ergreifen.

Sie stimmen also zu, dass die strikten Maßnahmen nötig waren? Dass ohne sie mehr Menschen gestorben wären?

Ja. Wir sagen nicht, dass die Maßnahmen nicht sinnvoll sind. Die Isolation für eine bestimmte Zeit war entscheidend, um die Infektionsrate zu senken. Wir fragen bloß: Wie geht man nun weiter vor, um die zu entlasten, die die meiste Arbeit leisten, ohne medizinisches Personal und Ältere zu gefährden? Die Antworten gibt es noch nicht, aber wir sollten ernsthaft darüber mitdiskutieren.

Väter und Mütter sind gleichermaßen von den Maßnahmen betroffen. Warum sagen Sie dennoch, Mütter seien in dieser Zeit mehr gefordert?

Frauen sind in sehr vielen Fällen zu Hause weiterhin die Projektmanager. Sie leisten trotz Job daheim im Schnitt 70 Prozent der Carearbeit, wie viele Studien zeigen. Nun sind die Kinder daheim, Kitas und Putzhilfen fallen weg, also übernehmen zumeist Frauen diese Aufgaben zusätzlich. Das ist ein Punkt. Ein anderer, und da kann ich aus persönlicher Erfahrung sprechen: Bei manchen Frauen – auch bei mir – scheint die Bereitschaft größer, die Arbeitszeit zu opfern, um die Kinder zu versorgen, als bei Männern. Es ist ein wenig erschreckend, wie schnell ich in diese Rolle gefallen bin.

Im Brief heißt es: »Die Folgen für die Karriereentwicklung, insbesondere von Frauen, werden aller Voraussicht nach ebenfalls verheerend sein.« Woran machen Sie das fest?

Es gab eine Umfrage unter den Herausgebern diverser Journals, ob gleich, mehr oder weniger Frauen auf Papern auftauchen. Erste Daten deuten darauf hin, dass Covid-19 die Produktivität der Frauen in der Forschung beeinträchtigt. Sicher, das ist kein statistischer Beweis. Aber wenn Herausgeber schreiben, sie hätten noch nie Vergleichbares gesehen, ist das zumindest bedenklich. Sicherlich betrifft das ganz viele Bereiche, nicht nur die Wissenschaft. Es ist ein Trend, den wir uns nicht nur bewusst machen, sondern aufhalten sollten.

»Wir fahren wieder die Strategie aus der Finanzkrise 2008«

In Ihrem Brief warnen Sie nicht nur vor für Familien bedenklichen Maßnahmen, sondern auch vor folgenschweren Entscheidungen für die Wirtschaft. Was genau halten Sie für problematisch?

Wir fahren wieder die Strategie aus der Finanzkrise 2008. Es gibt kurzfristig greifende Maßnahmen, um Firmen zu helfen – vor allem großen –, aber keine langfristige Strategie. Schon jetzt kommen viele nicht klar, weil sie in Kurzarbeit geraten sind. Und künftig werden mehr Menschen nicht mehr genug verdienen können. Zudem wird der Klimaschutz momentan nicht mehr ausreichend berücksichtigt. Es fehlt an Nachhaltigkeit.

Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?

Ein Beispiel wäre der gestiegene Verbrauch von Plastikverpackungen, über den zum Beispiel der BR im Radio berichtet hat. Plastikverpackungen werden laut dem Bericht als hygienischer wahrgenommen. Die Eindämmungsversuche der Politik ruhen daher. Es gibt auch Forderungen, den CO2-Preis nicht schon 2021 einzuführen, oder wenn, dann zumindest sehr niedrig. Auf »Spiegel Online« ist ein Beitrag erschienen, der den Zusammenhang von Feinstaub sowie Stickoxiden mit Pkw-Verkehr in Frage stellt. Wenn Sie in die sozialen Medien blicken, dann gibt es virale Posts, in denen die Krise genutzt wird, um die Klimaproblematik als »Luxusproblem von Ökohopsern« herunterzuspielen, während der Diesel-Lkw das Volk mit Nahrung versorgt.

Nehmen wir an, Sie dürften jetzt sofort bezüglich der Coronavirus-Maßnahmen eine Entscheidung treffen – welche wäre das?

Rein egoistisch würde ich sagen: Erlaubt, dass Kinder wieder mehr miteinander spielen dürfen. Wenn ich meinem Öko-Herzen folge, möchte ich, dass bei allen wirtschaftlichen Hilfen der Klimaschutz und der nachhaltige Umgang mit unserem Planeten bedacht werden. Sonst stehen wir gleich vor der nächsten Krisen oder dem nächsten Virus. Im Wesentlichen geht es aber nicht darum, jetzt sofort Entscheidungen zu treffen. Wir wollen ja schließlich, dass sinnvolle Entscheidungen getroffen werden. Wenn es gute Argumente dafür gibt, die Kitas und Schulen weiterhin geschlossen zu halten, würden wir uns nicht sperren. Wir bitten bloß: Lasst uns gemeinsam überlegen, denn wenn es eine Generation gibt, welche die langfristigen Folgen der aktuellen Krise schultern muss, dann ist es vorwiegend unsere.

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