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Neurowissenschaft: Der ewige Streit ums Bewusstsein

Gleich mehrere konkurrierende Theorien versuchen zu erklären, was Bewusstsein ist. Nun sollen sie empirisch getestet werden. Doch das erweist sich als ziemlich kompliziert.
Ein Mann leuchtet mit einer Taschenlampe in einen Kopf mit einem Labyrinth darin.
Das Rätsel Bewusstsein beschäftigt Menschen seit Jahrtausenden.

Als die Neurowissenschaftlerin Lucia Melloni 2018 an einem Treffen zur Bewusstseinsforschung teilnahm, hatte sie nicht erwartet, an die Scheidung ihrer Eltern erinnert zu werden. Aber genau wie ihre Mutter und ihr Vater konnten sich die versammelten Hirnforscher und Philosophen auf nichts einigen.

Die Zusammenkunft fand am Allen Institute for Brain Science in Seattle, Washington, USA, statt. Die Fachleute wollten einen Weg finden, wie sich konkurrierende Theorien über das Bewusstsein empirisch testen lassen. Eine solche Kollaboration von Vertretern gegensätzlicher Auffassungen wird auch als kontradiktorische oder adversiale Zusammenarbeit bezeichnet.

Ein »Killer-Experiment« zu entwerfen – also eines, das definitive Antworten liefern würde – gestaltete sich schwierig. »Natürlich schlugen alle Experimente vor, für die sie die zu erwartenden Ergebnisse bereits kannten«, sagt Melloni, die das gemeinschaftliche Projekt leitete und am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main arbeitet. Melloni griff auf die Rolle aus ihrer Kindheit zurück und wurde zur Vermittlerin.

Das Vorhaben von Melloni ist eine von fünf Kollaborationen, die die Templeton World Charity Foundation – eine Wohltätigkeitsorganisation mit Sitz in Nassau auf den Bahamas – ins Leben gerufen hat. 2019 wurden dafür 20 Millionen US-Dollar bereitgestellt. Die Projekte sollen die Bewusstseinsforschung voranbringen, indem wissenschaftliche Beweise für eine Theorie erbracht werden, während andere widerlegt werden. Generell finanziert die philanthropische Organisation Forschung zum Wohlergehen des Menschen, das »Dimensionen des körperlichen, geistigen, sozialen und spirituellen Wohlbefindens umfassen kann«, wie es auf der Internetseite heißt.

Wie hängen Informationsverarbeitung und Bewusstsein zusammen?

Die Aufgabe der Forschenden um Melloni ist es, zwei führende Ideen zur wissenschaftlichen Beschreibung von Bewusstsein zu testen: die integrierte Informationstheorie (IIT) und die globale neuronale Arbeitsraumtheorie (GNWT). Die IIT behauptet, dass das Bewusstsein dem Grad der »integrierten Information« entspricht, die von einem System wie dem menschlichen Gehirn erzeugt wird. Die GNWT wiederum besagt, dass mentale Inhalte wie Wahrnehmungen und Gedanken bewusst werden, wenn die Informationen über ein spezielles Netzwerk oder einen Arbeitsraum im Gehirn übertragen werden. Während Bewusstsein laut der IIT also in Materie entstehen kann, wenn die Information auf hinreichend komplexe Art verarbeitet wird, beruht es bei der GNWT auf dem bloßen Prozess der Informationsverarbeitung (siehe auch Theorien des Bewusstseins weiter unten).

Auf dem Treffen waren wichtige Vertreter dieser beiden Theorien zugegen. Melloni und ihre Koleiter mussten zwischen ihnen vermitteln, nur selten luden sie die Kontrahenten in denselben Raum ein. Ein Problem ist, dass Bewusstsein für verschiedene Personen unterschiedliche Dinge bedeutet. Einige Forscher konzentrieren sich bei ihren Betrachtungen auf die subjektive Erfahrung: Wie ist es, du oder ich zu sein? Andere untersuchen seine Funktion: Welche kognitiven Prozesse und Verhaltensweisen werden durch Bewusstsein ermöglicht? Solche unterschiedlichen Herangehensweisen machen es schwer, verschiedene Ideen miteinander zu vergleichen.

Dann war da noch die Sache mit dem offenen Brief. Im September 2023 unterzeichneten mehr als 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Erklärung, die als Preprint veröffentlicht wurde und in der sie die IIT kritisierten. Die Unterzeichner behaupteten, dass deren Vorhersagen nicht überprüfbar seien, und bezeichneten die Forschung dazu daher als Pseudowissenschaft. Der Brief erschien, kurz nachdem Mellonis Arbeitsgruppe ihre Ergebnisse publiziert hatte.

Das Chaos war vorprogrammiert. Der Angriff rief Reaktionen von weiteren Fachleuten hervor, die fanden, dass er die Meinungsverschiedenheiten verschärfe und der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft schade. Manche Unterzeichner berichteten gar, sie würden E-Mails mit angedeuteten Drohungen erhalten. Forschende auf beiden Seiten des Atlantiks wurden durch anprangernde Tweets um den Schlaf gebracht. Einige zogen sogar in Erwägung, der Wissenschaft ganz den Rücken zu kehren.

Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen machen sich Sorgen über das aggressive Klima. »Sie befürchten, dass ein Fachgebiet, in dem derartig wütende Auseinandersetzungen stattfinden, von außen als festgefahren wahrgenommen werden könnte und sich das auf die Finanzierung auswirkt«, sagt der Mathematiker Johannes Kleiner, der an der Ludwig-Maximilians-Universität München über Bewusstsein forscht.

Ungeachtet solcher Herausforderungen setzen viele große Hoffnung in die Zukunft der Bewusstseinsforschung. Auch die Leiter der adversialen Kollaborationen denken, dass ihre Arbeit das Feld bereits voranbringt – wenn auch nur in kleinen Schritten. Und sie sind längst nicht die Einzigen, die hochwertige empirische Tests von Bewusstseinstheorien durchführen. In den letzten zwei Jahrzehnten gab es Hunderte solcher Experimente. Manche deuten das als Zeichen für die wachsende Reife des Felds.

Inzwischen richten auch andere Wissenschaftsförderer ihr Augenmerk auf das Thema: So veranstalteten im Juni 2023 etwa die US-amerikanischen National Institutes of Health ein dreitägiges Treffen zu den Grenzen der Bewusstseinsforschung. Und eine neue Generation von Forschenden setzt sich für einen sinnvollen Dialog und mehr Aufgeschlossenheit ein. »Anstatt zu konkurrieren, sollten wir verstehen, dass Wissenschaft eine Teamleistung ist«, sagt die Neurowissenschaftlerin Rony Hirschhorn von der Tel Aviv University in Israel. »Es mag naiv sein, aber das ist meine Art von Optimismus: hoffen, dass wir es besser können.«

Die Zeit war reif für einen Angriff auf die neuronalen Grundlagen des Bewusstseins

Es existieren dutzende Theorien darüber, wie unser Gehirn subjektive Erfahrungen erzeugt. Und neben einem philosophischen Interesse gibt es viele weitere gute Gründe, sich mit dem menschlichen Geist zu beschäftigen: Die Erkenntnisse könnten zum Beispiel Mediziner bei der Entscheidung unterstützen, ob ein nicht ansprechbarer Mensch bei Bewusstsein ist oder nicht. In der Forschung zur künstlichen Intelligenz würden sie helfen zu verstehen, ob oder wie Maschinen bewusst werden können.

Gleichwohl behandelte die Wissenschaft das Bewusstsein viele Jahre lang nur stiefmütterlich. »Bis vor rund 30 Jahren war die Erforschung des Bewusstseins ein Tabu, und das aus guten Gründen«, sagt Lenore Blum, theoretische Informatikerin an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh, Pennsylvania, USA. »Damals gab es keine guten Techniken, um das Gehirn auf nicht invasive Weise zu untersuchen«, erzählt Blum, die auch Präsidentin der Association for Mathematical Consciousness Science mit Sitz in München ist, einer internationalen Vereinigung von Wissenschaftlern und Philosophen, die sich mit mathematischen Themen in der Bewusstseinsforschung befasst.

Im Jahr 1990 – etwa zu der Zeit, als die funktionelle Magnetresonanztomografie aufkam – trug ein einflussreicher Artikel dazu bei, den Ruf des Fachgebiets zu verändern. Der Biologe und Nobelpreisträger Francis Crick und der Neurowissenschaftler Christof Koch, der heute am Allen Institute for Brain Science arbeitet, schrieben damals: Die Zeit ist reif für einen Angriff auf die neuronalen Grundlagen des Bewusstseins.

Seitdem haben Philosophen und Neurowissenschaftler zahlreiche Theorien präsentiert, die sowohl die physikalischen Grundlagen des subjektiven Erlebens – das so genannte »harte Problem des Bewusstseins« – erklären sollen als auch die »einfachen Probleme« wie Aufmerksamkeit und Wachsamkeit. Als der Mathematiker Jonathan Mason aus Oxford, Großbritannien, versuchte, alle zusammenzutragen, stieß er auf mehr als 30.

Einige davon war besonders einflussreich (siehe »Theorien des Bewusstseins«). Dazu zählen unter anderem die beiden Theorien, die Melloni zu testen versucht: die IIT, die auf Giulio Tononi zurückgeht, Neurowissenschaftler an der University of Wisconsin-Madison, USA, sowie die GNWT von Stanislas Dehaene, Direktor der Cognitive Neuroimaging Unit am INSERM-CEA in Gif-sur-Yvette, Frankreich.

Bewusstseinstheorien

Angesagt ist auch eine Gruppe an Erklärungsmodellen, die als Theorien höherer Ordnung (HOT) bezeichnet werden. Ihnen zufolge können Inhalte nur dann bewusst erlebt werden, wenn sie in einer Metarepräsentation in Hirnarealen höherer Ordnung zusammengeführt werden. Ein weiteres bekanntes Konzept ist die Theorie der rekurrenten Verarbeitung (RPT). Demnach benötigt Bewusstsein eine Schleife aus Informationsfluss und Rückkopplung. Die Idee wurde vor allem in den visuellen Bereichen des Gehirns untersucht, aber das gleiche Modell sollte ebenfalls für andere Sinne wie Hören oder Riechen gelten.

Empirische Studien, die die Vorhersagen solcher Theorien testen, werden immer gründlicher und ausgefeilter. Doch – wie so oft in der Wissenschaft – in der Regel führen Forschende sie durch, die die jeweilige zu überprüfende Idee befürworten. Sie neigen also bisweilen dazu, Daten so zu ermitteln, auszuwählen und zu interpretieren, dass das Ergebnis ihre Erwartungen erfüllt. Laut Rony Hirschhorn macht das die Experimente anfällig für Bestätigungsfehler, und infolgedessen hätten sich die Theorien isoliert entwickelt.

»In den letzten 30 Jahren gab es einige vorherrschende Theorien. Sobald neue Ergebnisse auftauchten, wurden diese Theorien überarbeitet, um die neuen Erkenntnisse zu berücksichtigen«, sagt Biyu He, Neurowissenschaftlerin an der New York University Grossman School of Medicine in New York City. In diesem Sinn würden die Kollaborationen aus Vertretern gegensätzlicher Standpunkte das Feld nun wachrütteln, denkt He. Sie selbst leitet eine solche Zusammenarbeit, in der RPT und zwei Versionen von HOT getestet werden.

»Eine unserer Hauptaufgaben ist es, eine gemeinsame Sprache zu finden, um sicherzustellen, dass wir über das Gleiche reden«Liad Mudrik, Neurowissenschaftlerin an der Tel Aviv University

Einigen Studienleiterinnen und -leitern zufolge sind manche Vertreter prominenter Theorien dafür verantwortlich, dass die Tests bisweilen eher gegeneinander denn miteinander ausgeführt wurden. »Das gilt nicht für alle Kollaborationen und hängt bis zu einem gewissen Grad davon ab, wie einfach die Theorien miteinander zu vergleichen sind«, weiß He. Einige der teilhabenden Fachleute werden jedoch als Personen mit großem Ego beschrieben. Auffallend ist, dass die meisten Experten männlich sind. »Ich glaube nicht, dass das daran liegt, dass Frauen keine wichtige Forschung betreiben«, so He. »Ich vermute, das liegt eher daran, dass bestimmte Leute eher bereit sind, über große Theorien zu sprechen.«

Ein Crashkurs in Diplomatie

Die Neurowissenschaftlerin Liad Mudrik von der Tel Aviv University erinnert sich, wie aufgeregt sie war, als sie an dem Treffen in Seattle teilnahm, aus dem die Kollaboration zwischen Vertretern der IIT und der GNWT hervorging, genannt »Cogitate«. »Ich habe alles aufgeschrieben, was die Leute gesagt haben, und war total begeistert von dem ganzen Prozess«, erinnert sich Mudrik, die auf dem Treffen zur Koleiterin des Projekts ernannt worden war. Bereits während ihres Rückflugs nach Israel entwarf sie auf der Grundlage der Diskussionen einen Versuchsplan und schickte ihn sogleich an ihre Kollegen. »Damals war ich wirklich naiv«, sagt Mudrik. Es sollte zehn Monate dauern, bis ihr Plan tatsächlich in die Tat umgesetzt wurde.

Zunächst stritten die Forschenden darüber, welche Aspekte des Bewusstseins man mit welchen Methoden untersuchen sollte. Schließlich einigten sie sich auf zwei Experimente: jeweils eines, das von der jeweiligen konkurrierenden Theoretikergruppe präferiert wurde. Nun erstellte das Team eine Liste mit Vorhersagen der beiden Theorien. Die Frage war letztlich, was bei drei verschiedenen Arten von Hirnscans von Probandinnen und Probanden zu sehen sein würde, wenn diese bestimmte kognitive Aufgaben erledigten. Die Forschergruppe einigte sich auch darauf, welches Ergebnis bei den unterschiedlichen Tests dazu führen sollte, dass die jeweilige Theorie »bestanden« hat oder »durchgefallen« ist.

Im ersten Experiment wurden den insgesamt 256 Teilnehmern und Teilnehmerinnen eine Reihe von Bildern und Symbolen gezeigt. Sobald ganz bestimmte Bilder auftauchten, mussten sie sich melden. Gemäß der IIT sollte diese Aufgabe eine anhaltende Aktivierung im hinteren Teil des Gehirns auslösen. Die Daten legen das nahe. Allerdings synchronisierte sich die Aktivität zwischen den Hirnarealen im hinteren Kortex nur vorübergehend und nicht wie angenommenen dauerhaft.

Die GNWT prognostizierte hingegen, dass der präfrontale Kortex während der Aufgabe aktiviert wird – was sich ebenfalls bestätigte. Es gab jedoch keine Hinweise darauf, dass die Region Informationen über die Ausrichtung des gesehenen Objekts enthielt. Dies ist aber Teil der bewussten Erfahrung und wäre gemäß der Theorie zu erwarten gewesen. Das Experiment fand zudem Beweise für die von der GNWT postulierte globalen Signalübertragung – allerdings nur zu Beginn einer Erfahrung und nicht auch am Ende wie vorhergesagt. Die Ergebnisse dieses ersten Experiments wurden im Jahr 2023 in einem Preprint veröffentlicht. Sie würden einige der Vorhersagen der zwei Theorien bestätigen, aber gleichzeitig beide grundlegend in Frage stellen, heißt es in der Publikation.

Im zweiten Experiment mussten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Videospiel spielen. Währenddessen sollten sie Auskunft darüber geben, ob sie bestimmte Bilder im Hintergrund des Bildschirms wahrnehmen. Die zugehörigen Ergebnisse wurden jedoch noch nicht publiziert. Die beiden Experimente waren ein Kompromiss, den das Team eingehen musste, um einen Konsens zwischen den Lagern von Tononi und Dehaene zu finden. »Ich bewundere beide sehr und halte sie für extrem gute Wissenschaftler«, sagt Melloni. Aber sie fügt hinzu: »Die Welt wäre ein besserer Ort, wenn sie sich die Chance geben würden, einander zuzuhören.« Weil das kaum geschah, bestand eine diplomatische Strategie darin, sich mit den beiden Theoretikern in getrennten Gesprächen zu unterhalten und die Ideen des einen in die des anderen zu »übersetzen«. »Eine unserer Hauptaufgaben ist es, eine gemeinsame Sprache zu finden, um sicherzustellen, dass wir über das Gleiche reden«, beschreibt Mudrik das Vorgehen.

Zumindest ein bisschen hat es offenbar funktioniert: So berichtet Tononi auf Anfrage, dass die kontradiktorische Kollaboration es ihm ermöglicht hat, die anderen Theorien klarer zu sehen. Er räumt auch ein, wie schwierig das Projekt war, und lobt die Leiter der Studie – Melloni, Mudrik und Michael Pitts, Psychologe am Reed College in Portland, Oregon – dafür, dass sie es durchgezogen haben. »Sie haben so viel von ihrer Zeit und Leidenschaft investiert, anstatt ihre eigenen Experimente zu machen«, sagt er. Die drei hätten fantastische Arbeit geleistet. Dehaene hat auf die Anfrage von »Nature« nicht geantwortet.

Die Gräben verkleinern

Offenbar sind besonders jüngere Wissenschaftler darauf bedacht, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Johannes Kleiner war während seiner ersten Promotion auf dem Gebiet der mathematischen Quantenfeldtheorie frustriert über die Streitereien unter den älteren Wissenschaftlern. »Von außen wurde das Fachgebiet als nicht sehr fortschrittlich wahrgenommen, weil jeder so lautstark behauptete, dass andere Ansätze falsch seien«, sagt er.

Als er sich entschloss, ein zweites Mal zu promovieren, diesmal in der Bewusstseinsforschung, kannte er die bestehenden Spannungen in diesem Feld. Dennoch hatte er den Eindruck, dass die Leute im Allgemeinen gut miteinander auskamen. »Die Gemeinschaft war zuversichtlich, dass die adversialen Kollaborationen nützliche Daten hervorbringen würden«, sagt er. Der offene Brief zerstörte diese Hoffnungen jedoch. Die heftigen Diskussionen im Internet beunruhigten Kleiner, und er entschloss sich, aktiv zu werden. Er wollte nicht, dass sein neues Arbeitsgebiet genauso wahrgenommen wird wie sein erstes. »Ich weiß, das klingt total naiv, aber wenn man diese Spaltung nicht heilen kann, dann folgen daraus so viele negative Dinge«, befürchtet er.

»Die Ergebnisse sollten nicht als endgültiger Beweis für oder gegen eine bestimmte Theorie gewertet werden«Biyu He, Neurowissenschaftlerin an der New York University Grossman School of Medicine

Nachdem der offene Brief veröffentlicht wurde, half Kleiner ein Online-Event zu organisieren, um die Zukunft der Bewusstseinswissenschaft zu diskutieren. Die Veranstaltung fand unter dem Banner der Association for Mathematical Consciousness Science statt. Kleiner war 2021 Gründungsmitglied der Organisation. Doch die Idee ging nach hinten los. Einige Leute in der Community empfanden das Format der Veranstaltung als zu einseitig. Nach reiflicher Überlegung wurde das Treffen in »einen virtuellen Kaffee und ein offenes Gespräch« geändert, bei dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aufgefordert wurden, den offenen Brief nicht direkt zu erwähnen.

Eine andere Organisation, die den Forschungsbereich dabei unterstützen möchte, die Differenzen zu überwinden, ist die Mediterranean Society for Consciousness Science – eine Vereinigung, die Nachwuchsforscher in den Bewusstseinswissenschaften fördert und tief gehende Gespräche zwischen Gelehrten verschiedener Denkrichtungen anregen möchte. »Ohne einen solchen Austausch gerät man in eine Art Kreislauf, in dem man immer mehr von dem macht, was man bereits weiß«, sagt die Vizepräsidentin der Gesellschaft, Rony Hirschhorn.

Trotz den Schwierigkeiten profitiert die Bewusstseinsforschung

Viele Forschende begrüßen die gegnerschaftliche Zusammenarbeit als eine Möglichkeit, aus diesen wiederkehrenden Abläufen auszubrechen. Aber sie bleiben pragmatisch: »Die Ergebnisse sollten nicht als endgültiger Beweis für oder gegen eine bestimmte Theorie gewertet werden«, sagt zum Beispiel Biyu He. Nichtsdestoweniger liefern die Kollaborationen wertvolle Daten. »Es werden dringend benötigte Ressourcen in das Feld eingebracht, mit denen sich sehr solide, große gemeinschaftliche Studien durchführen lassen«, so He.

Melloni fragt sich, ob die adversialen Kollaborationen teilweise selbst für die jüngsten Turbulenzen verantwortlich sind, weil sie die gegensätzlichen Meinungen zusammenbringen. Als die Ergebnisse des ersten Cogitate-Experiments eintrafen, waren Melloni und ihre Koleiter nicht gerade überrascht, dass sich die Verfechter der beiden Theorien nicht einigen konnten, was die Daten bedeuten.

»Wenn ich eines bedauere, dann, dass ich es nicht geschafft habe, ihnen klarzumachen, dass in beiden Ideen etwas Wertvolles steckt«Lucia Melloni, Neurowissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main

Am Ende stellten neutrale Fachleute die Ergebnisse in einem Preprint vor. Darin beschreiben sie, wie die Experimente beide Theorien auf unterschiedliche Weise in Frage stellen. Die beiden gegnerischen Gruppen schrieben in der Publikation ihre eigenen Diskussionsabschnitte, in denen sie jeweils darlegen, wie die Ergebnisse ihrer Ansicht nach zu ihren Vorhersagen passen.

Melloni gibt zu, dass sie anfangs die falsche Hoffnung hegte, die Theoretiker würden die Ergebnisse einfach akzeptieren und anhand der Daten mögliche Fehler in ihren eigenen Theorien erkennen. »Wenn ich eines bedauere, dann, dass ich es nicht geschafft habe, ihnen klarzumachen, dass in beiden Ideen etwas Wertvolles steckt.« Ihr Mentor, der Nobelpreisträger und Psychologe Daniel Kahneman, der die Idee der kontradiktorischen Zusammenarbeit erstmals vorstellte, hatte sie genau vor diesem Szenario gewarnt: »Er sagte: ›Bereite dich darauf vor, dass sie ihre Meinung nicht ändern werden‹«, erinnert sie sich. Das mache aber nichts, beruhigte er sie. Denn mit der Zeit würden neue Beweise dazu beitragen, die Ansichten anderer Forscher in der Gemeinschaft zu wandeln. Die Vorstellung, dass jemand seine Meinung auf Grund von ein oder zwei Ergebnissen bei einem so komplexen Thema wie dem Bewusstsein ändern würde, war »von Anfang an nicht plausibel«, findet auch Tononi.

Hirschhorn glaubt, dass der Konflikt auf eine gewisse Art und Weise produktiv war. Die Polarisierung gab es zwar schon immer, doch die Menschen haben sie nicht explizit diskutiert – bis die Kollaborationen und der offene Brief sie ans Licht gebracht hätten, sagt sie. »Ich glaube, jetzt müssen wir die Ärmel hochkrempeln und weiter daran arbeiten.«

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