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Ökologie der Meeressäuger: Ohrenschmalz archiviert die Leiden der Wale

Wenn man Walen ins Ohr schaut, erfährt man einiges über das Leben der Tiere - und über den Umgang des Menschen mit ihnen im letzten Jahrhundert.
Ein Buckelwal-Kalb

Wer einen Finnwal in eleganter Anmut schwimmen sieht oder das Unterwasserballett eines Buckelwals bestaunt, der wird sich im Normalfall nicht als Erstes fragen: Haben die Tiere da eigentlich Ohrenschmalz? Und so ergeht einem dann vielleicht einiges, wie ein auf Walohrenschmalzanalysen spezialisiertes Forscherteam immer wieder bestätigt. Stephen Trumble von der Baylor University und der Luft- und Umweltchemiker Sascha Usenko – ein Tierphysiologe und ein Umweltchemiker – machen bereits seit einigen Jahren darauf aufmerksam, wie wertvoll die Schmalzpfropfen im Ohr von Meeressäugern als biochemische und ökologische Datensammlung für den Schutz der Wale sein können.

Seit den 1950er Jahren wissen Biologen, dass sich das aus Lipiden, Wachsen und Keratin bestehende Ohrpfropfengemisch der Bartenwale wie in Sedimentschichten ablagert. Abfließen kann es nicht: Der Gehörgang der Tiere ist nach außen verschlossen, damit kein Wasser in das empfindliche Innenohr mit dem Hör- und Schweresinn eindringt. So können sich im Inneren des Walohrs allmählich recht eindrucksvolle Schmalzsedimente bilden, wie Trumble und Usenko 2013 belegten. Bei einem gut 20 Meter langen Blauwal wuchs der Propf im Ohr zum Beispiel auf immerhin 25 Zentimeter Länge. Solche Ohrpfropfen bilden sich übrigens nur bei Bartenwalen, zu denen fast alle Großwale gehören: Bei Pottwalen und anderen Zahnwalen fehlt sedimentierender Ohrschmalz, ihr Gehör ist anders aufgebaut.

In den Lipiden und Keratinen des Bartenwahl-Schmalzpropfs lassen sich helle und dunkle Bänder ausmachen – wobei dickere, hellere Schichten einem vergleichsweise gutem Nahrungsangebot zum Zeitpunkt der Ablagerung entsprechen und schmalere, dunklere Schichten einem schlechteren. Auch sonst ähneln die Schichten den Wachstumsringen eines Baums: Jeweils eine helle mit einer dunklen Schicht stehen für ein Lebensjahr; und somit lässt sich das individuelle Alter eines Wals durch Abzählen genau bestimmen. Zudem stecken in den Schichten weitere Informationen über endogene (vom Körper selbst abgegebene, etwa hormonelle) und exogene (von außen eingetragene, etwa durch Schadstoffe bedingte toxische) Einflüsse, die auf den Walorganismus eingewirkt haben, als die jeweilige Schicht abgelagert wurde

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In ihrer jüngsten Studie für das Fachmagazin »Nature Communications« haben Trumble, Usenko und ihre Mitarbeiter nun einiges an Datenmaterial aus 20 Ohrenschmalzpfropfen von Blauwalen (Balaenoptera musculus), Finnwalen (Balaenoptera physalus) und Buckelwalen (Megaptera novaeangliae) aus dem Nordatlantik sowie acht von Walen aus dem Nordpazifik gewonnen.

Im Zentrum der Untersuchung stand dabei Stress – und damit das Stresshormon Kortisol. Es wird bei Säugetieren wie Menschen oder Walen von den Nebennieren vermehrt produziert, wenn die Hypothalamus-Hypophysen- Nebennieren-Achse unter Druck hochreguliert wird. Wie alle Hormone lagert sich auch Kortisol in verschiedenen Körpergeweben und -organen sowie Ausscheidungen ab, in Blut, Urin, im ausgeatmeten Lungeninhalt, Haaren und Fett oder Blubber. Und im Ohrenschmalz. Anders als in anderen Körpergeweben zerfällt Kortisol im verfestigten Ohrenschmalzpfropf nicht schnell, sondern bleibt über die gesamte Lebenszeit des Wals und sogar darüber hinaus sicher archiviert.

Blauwal | Auch der längste Wal der Welt, der Blauwal, zählt zu den Bartenwalen.

Stress gab es für Bartenwale seit Beginn der Industrialisierung mehr als genug: Menschen haben die Ozeane bis in die entlegensten Gebiete wie nie zuvor ausgebeutet, und die Ohrenschmalzproben mit Hormonprofilen über einen Zeitraum von insgesamt 146 Jahren belegen das deutlich. Die ältesten Ohrenschmalzschichten aus den Jahren ab 1870 geben den Wissenschaftlern dabei erstmals eine wertvolle Baseline: Der dort abgelagerte Kortisolgehalt entspricht dem Hormonniveau ohne durch Menschen verursachte Stressfaktoren. Jahrzehnte später erst, besonders dann aber in den 1960er und 1970er Jahren steigt das Stresshormonniveau deutlich an. Damals hatte die industrialisierte Fischerei auf Wale die Bestände der Meeresriesen kaum gebremst mit schnellen Fangschiffen und Harpunengranaten weltweit abgeschlachtet. Trauriger Höhepunkt waren damals die so genannten Whaling Olympics der 1960er Jahre, wo in jeder Fangsaison so viele Wale wie möglich getötet wurden. Diese beständige Bedrohung ist in den hohen Kortisolspiegeln in den Ohrpfropfen überlebender Wale eindeutig nachweisbar.

Bereits Ende der 1960er Jahre waren die Großwalbestände dann so weit dezimiert, dass die Fangaktivitäten sich nicht mehr lohnten und abnahmen. Dementsprechend sanken auch die nachweisbaren Stresshormone wieder auf den Stand vor der Ära des industrialisierten Walfangs. Mit dem Beginn des Walfang-Moratoriums Anfang der 1980er Jahre war die große Zeit des kommerziellen Walfangs dann beendet. Allerdings hat auch nichttödlicher Stress bei den Meeressäugern signifikante Spuren hinterlassen: So stiegen ab den 1970er Jahren die Kortisolausschläge wieder an. Erklärungen dafür sind, so schreiben Trumble und seine Kollegen, der zunehmende Schiffsverkehr in den Ozeanen, die steigende Meeresverschmutzung und möglicherweise sogar die gestiegenen Temperaturen in den Ozeanen. Explosionsartige Geräusche von geologischen Surveys, Schiffsgeschützen oder Sonarlauten stören die empfindlichen Meeressäugerohren offenbar schmerzhaft – und sorgen dafür, dass sie oft befahrene Schifffahrtsrouten eher meiden.

Das ausgehärtete Ohrenschmalz liefert aber nicht nur Informationen über den Stress im Leben eines Bartenwals: Neben seinem Lebensalter sind im physiologischen Tagebuch des Ohrs weitere hormonelle Schwankungen notiert. Die Wissenschaftler können das absolute Alter, den Eintritt in die Pubertät – am Testosteronpegel – sowie bei weiblichen Walen auch Zeiten des Eisprungs und Geburten herauslesen – und herausfinden, welche Ozeane er wann durchquerte. Das Stresshormon-Archiv verstorbener Bartenwale aus den vergangenen Jahrzehnten könnte den heutigen und zukünftigen Artgenossen vielleicht helfen, zumindest in ausgewiesenen Schutzgebieten Störquellen und Stressfaktoren weiter zu reduzieren. Ein niedriger Stresslevel dürfte sich – ähnlich wie bei Menschen – auch bei Walen positiv auf die Gesamtgesundheit und den Fortpflanzungserfolg einer Population auswirken.

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