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Trauerriten: Graböffnungen waren mittelalterlicher Standard

Von wegen Grabräuber: Meist waren es die Angehörigen, die im frühen Mittelalter die Begräbnisstätten ihrer Nächsten öffneten - aus verschiedensten Gründen.
Mittelalterliches Skelett

In einem Zeitraum von über 100 Jahren breitete sich im frühen Mittelalter in Teilen Europas ein Brauch aus, der im späten 7. Jahrhundert wieder stoppte und Archäologen lange in die Irre führte. Sie hatten von England über Mitteleuropa bis nach Transsilvanien hunderte Gräber aus dem 6. und 7. Jahrhundert entdeckt, die nach der Bestattung der Toten wieder geöffnet worden waren. Und da dabei auch Gegenstände daraus entnommen worden waren, vermuteten sie Grabräuber am Werk. Doch wie Alison Klevnäs von der Universität Stockholm und ihr Team in »Antiquity« schreiben, war das eine Fehleinschätzung: Tatsächlich hatten Angehörige selbst die Gräber in einer Art Ritual wieder geöffnet und verändert.

Klevnäs und Co trugen dazu Daten aus großen Teilen Europas zusammen und wiesen mindestens 1000 Graböffnungen auf Dutzenden mittelalterlicher Friedhöfe nach. Der Brauch breitete sich demnach gegen Ende des 6. Jahrhunderts aus und erreichte seinen Höhepunkt im 7. Jahrhundert, bevor er wieder verschwand.

Der Inhalt der untersuchten Gräber deutete dabei auch darauf hin, dass es meist keine Grabräuber gewesen sein können. Denn zumeist wurden nur einzelne Gegenstände entfernt, die wiederum vor allem einen persönlichen Bezug aufwiesen, etwa Broschen von toten Frauen oder Schwerter der Männer. Diese wurden teilweise sogar entnommen, wenn sie schon am Zerfallen waren, was entsprechende Bruchstücke nahelegen. Dagegen blieben oft sehr wertvolle Schmuckstücke bei den Toten zurück, wie goldene oder silberne Halsketten: Geschmeide, die Grabräuber sicher nicht hätten liegen lassen.

Da auch verrostete Dinge entnommen wurden, vermuten Klevnäs und ihre Gruppe, dass diese nicht wiederverwendet oder weiterverkauft werden sollten, sondern als Erinnerung an die Toten dienten. Die meisten dieser Graböffnungen fanden wahrscheinlich statt, bevor die Särge gänzlich zerfallen waren. Die Menschen kehrten also an die Gräber ihrer Eltern oder Großeltern zurück.

Allerdings gab es regionale Unterschiede oder lokale Traditionen: Meist wurden Gegenstände entnommen, bisweilen aber auch Tote umgebettet oder Körperteile entfernt. In einem Fall fand sogar ein Hund neu ins Grab. »Grabraub hört sich negativ an, in diesen Fällen jedoch scheint es sich um eine soziale Handlung gedreht zu haben«, sagt Klevnäs: »Zudem konnten wir feststellen, dass die Friedhöfe mit diesem Brauch länger genutzt wurden als solche, in denen die Totenruhe nie gestört wurde.«

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