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Mathematische Unterhaltungen: Die Welt ist klein

Einerlei, wie groß sie ist. Eine neue Untersuchung findet für das »Kleine-Welt-Phänomen« eine überraschende Ursache – im Eigeninteresse der Angehörigen des Netzes.
Stilisierte Beschreibung eines Beziehungsnetzes zwischen Menschen, mit abstrakten Menschensymbolen an den Knotenpunkten, von denen eins rot ist.
Die Welt ist ein Dorf: Dass jeder jeden über höchstens sechs Ecken kennt, lässt sich mathematisch untermauern.

Zwei beliebige Menschen auf der Welt sind durch eine Kette von durchschnittlich nur sechs Gliedern miteinander verbunden. Dabei besteht jedes Kettenglied in einer persönlichen Bekanntschaft. So lautet das – leicht übertriebene – Fazit diverser Untersuchungen. Die befassen sich allerdings nicht mit der gesamten Menschheit, was rein technisch unmöglich wäre, sondern mit den Teilmengen, die vergleichsweise leicht zu beobachten und zu erforschen sind: soziale Netze aller Art auf Basis des Internets. Interessanterweise findet sich die Anzahl sechs der Kettenglieder für Netze verschiedenster Art und Größe.

Die erste wissenschaftliche Untersuchung des Phänomens stammt aus dem Jahr 1967 und basierte noch auf einem gänzlich unelektronischen Kommunikationsweg: der klassischen Briefpost. Der Psychologe Stanley Milgram (1933–1985), besser bekannt durch sein berüchtigt gewordenes Experiment zum Gehorsam gegenüber Autoritäten, verteilte an zufällig ausgewählte Einwohner von Omaha, Nebraska, Briefe mit der Aufforderung, diese an eine namentlich und mit einigen Eigenschaften benannte, aber im Übrigen völlig unbekannte Person in Sharon, Massachusetts, weiterzuleiten, und zwar nur auf dem Weg über persönlich gut Bekannte. Jede weitere Person in der Kette vom Absender zum Empfänger sollte denselben Regeln folgen. In der Tat erreichten die »Kettenbriefe«, die überhaupt ankamen – immerhin ein Viertel aller Versuche –, ihren Endempfänger in durchschnittlich sechs Schritten, das heißt mit nur fünf Zwischenstationen.

Man kann mit einiger Berechtigung argumentieren, dass die von Milgram ausgewählten Absender der Briefe eine Zufallsstichprobe aus der Grundgesamtheit der damals 200 Millionen US-Amerikaner darstellten. Mit der gebotenen Vorsicht lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass die Einwohner der USA eine kleine Welt bildeten in dem Sinn, dass sich zwischen zwei beliebigen ihrer Mitglieder eine Bekanntschaftskette aus durchschnittlich sechs Gliedern findet.

Anscheinend ist sechs nicht nur der Durchschnitt, sondern eine Maximalzahl

Merkwürdigerweise sind es in den modernen, Milliarden Menschen umspannenden Netzen nicht wesentlich mehr Glieder. Mehr noch: Anscheinend ist sechs nicht nur der Durchschnitt, sondern eine Maximalzahl. Das ist sicherlich auch dadurch zu erklären, dass Eremiten in der Regel kein Facebook-Konto haben. Aber es passt überhaupt nicht zu den gängigen Vorstellungen darüber, wie solche Netze entstehen und anwachsen.

Wohlgemerkt: Es geht nicht nur um die Netze von Beziehungen, die Menschen untereinander knüpfen – leibhaftig oder über das Internet. An die Stelle der Einzelpersonen können Schaltstationen im Strom- oder Telefonnetz treten; deren Beziehungen bestehen dann in den elektrischen Leitungen zwischen ihnen. Oder man betrachtet biologische Netze aus chemischen Substanzen, die beispielsweise in einer Zelle vorkommen, und deren Wechselwirkungen.

Eine netzwerktheoretische Untersuchung der kleinen Welt

Der gemeinsame theoretische Apparat ist ein Teilgebiet der Graphentheorie. Jedes Netz ist ein Graph, das heißt, es besteht aus einzelnen Elementen, den »Knoten«, die miteinander durch »Kanten« verbunden sind oder auch nicht. Wo im Raum die Knoten liegen, ist dabei vollkommen irrelevant. Zwei Knoten heißen benachbart, wenn es zwischen ihnen eine Kante gibt.

In der Netztheorie sind die Graphen typischerweise sehr groß – Millionen oder gar Milliarden Knoten –, und man interessiert sich nicht für einzelne Kanten, sondern für statistische Aussagen: Wie groß ist der durchschnittliche Grad eines Knotens (das ist die Anzahl der Kanten, die in ihm enden)? Für das Kleine-Welt-Phänomen: Wie lang ist – im Durchschnitt oder auch maximal – der kürzeste Weg zwischen zwei beliebigen Knoten A und B des Netzes, also die Anzahl der Kanten, die man von A bis B durchlaufen muss? Gegeben ein Graph in einem Urzustand, beispielsweise eine Menge von Knoten ohne jegliche Kanten. Nach welchem Muster werden sich Verbindungen zwischen ihnen etablieren?

Wenn ich in einer fremden Stadt ankomme, wo ich bisher niemanden kenne, dann wird die Entscheidung, mit wem ich Bekanntschaften knüpfe, zweifellos gewissen Regeln folgen; aber für die summarische Betrachtungsweise der Netztheorie kommt es auf meine persönlichen Vorlieben nicht an. Es ist sinnvoller, sich vorzustellen, die Kanten regneten vom Himmel und lagerten sich nach dem Zufallsprinzip an irgendwelche Knotenpaare an. In diesem Fall gibt es einen durchschnittlichen Knotengrad, der auch am häufigsten vorkommt. Für eine feste Knotenanzahl N wächst dieser Durchschnittsgrad langsam an, solange es Kanten regnet.

»Wer hat, dem wird gegeben«

Oder eine Kante dockt umso lieber an einem Knoten an, je mehr Kanten dieser schon hat. Wenn das Netz das World Wide Web ist und jeder Verweis von einer Website auf eine andere eine Kante, dann ist das sogar äußerst plausibel. Wer seine Website mit Links versehen will, wählt in erster Linie solche, die leicht zu finden sind, weil viele Links auf sie verweisen. Nach dem Bibelvers »Wer hat, dem wird gegeben« (Matthäus 25, Vers 29) trägt dieser Mechanismus den Namen Matthäuseffekt. In der Folge bilden sich einige sehr kantenreiche Knoten heraus. Der durchschnittliche Knotengrad ist nicht mehr der häufigste, es gibt keine Standardanzahl für die Kanten eines Knotens, und Netze dieser Art werden als skalenfrei (scale-free networks) bezeichnet.

Ob es aber nach dem Zufallsprinzip oder nach dem Matthäuseffekt Kanten regnet: Die so entstehende Welt ist nicht wirklich klein. Schon richtig, in einem Land mit etlichen verkehrsreichen Großstädten, die zudem über Direktverbindungen untereinander verfügen, ist die Zahl der Haltestellen auf dem Weg von Dorf A nach Dorf B im Allgemeinen kürzer, als wenn es nur Nahverkehr gibt. Entsprechend ist der Durchmesser, sprich die maximale Anzahl der Kanten auf einem kürzesten Weg von A nach B, eines skalenfreien Netzes zwar kleiner als der eines rein zufälligen. Aber er hört nicht bei der Zahl 6 auf! Vielmehr wächst er proportional zum Logarithmus der Netzgröße N; das ist zwar langsam, aber eben doch unbegrenzt.

Wie stellen es also die Knoten an, sich ihre Kanten derart zuzulegen, dass eine kleine Welt dabei herauskommt?

Eine im Mai 2023 erschienene Arbeit betrachtet die Knoten des Netzes nicht als passive Empfänger, sondern als aktive Gestalter. Jeder Knoten entscheidet für sich selbst, mit welchen Kollegen er sich verbinden will. Doch nach welchen Kriterien? An dieser Stelle machen die Autoren eine Anleihe bei der Wirtschaftswissenschaft. Wie der klassische »Homo oeconomicus« handelt ein Knoten so, dass er in jeder Situation seinen Nutzen maximiert. Insbesondere stellt er genau dann eine Verbindung zu einem anderen Knoten her, wenn deren Nutzen für ihn größer ist als die Kosten. Und damit beide überhaupt vergleichbar sind, werden sie in derselben Maßeinheit ausgedrückt, üblicherweise Dollar.

Über die Kosten gibt es dabei wenig zu sagen. Der Aufwand, eine neue Verbindung zu knüpfen, ist im Wesentlichen konstant. Aus bestimmten Gründen ist es sinnvoll, bei Netzen mit variabler Gesamtgröße N die Kosten proportional zum Logarithmus von N anzusetzen. Aber der Nutzen! Was hat ein Knoten davon, dass er über viele Beziehungen verfügt?

Die Antwort wirkt durchaus menschlich: Bedeutung. Knoten A ist bedeutend, wenn der einzige kürzeste Weg zwischen – zum Beispiel – B und C über A verläuft. Diese Bedeutung ist umso größer, je kürzer diese Verbindung ist. Andersherum formuliert: Wenn A Station eines langen kürzesten Wegs von B nach C ist, muss er sich das Renommee – oder vielleicht eine Art Wegezoll – mit den Kollegen entlang des Wegs teilen. Ebenso mindert es den Nutzen für A, wenn es mehrere kürzeste Wege von B nach C gibt, von denen nicht alle über A verlaufen. (Weglängen sind als Anzahlen von Kanten stets ganze Zahlen. Deswegen ist es nicht ein exotischer Grenzfall, sondern kommt häufig vor, dass es mehrere Wege gleicher kürzester Länge zwischen zwei Knoten gibt.)

All diese Bedingungen kann man zu einer so genannten Nutzenfunktion zusammenfassen. Die Bedeutung eines Knotens A, oder im Sprachgebrauch der Ökonomie sein Nutzen, ist eine große Summe. Jedes Paar (BC) von Knoten mit einer kürzesten Verbindung, die über A verläuft, trägt dazu einen Summanden bei. Der wiederum ist die Anzahl der kürzesten Verbindungen zwischen B und C, an denen A beteiligt ist, geteilt durch die Gesamtanzahl solcher Verbindungen, mal einen Faktor f, der nur von der Länge dieser Verbindung abhängt und mit zunehmender Länge immer kleiner wird. Ein plausibles Beispiel ist f(l) = 1l, wobei l die Länge der Verbindung bezeichnet.

Homo oeconomicus und das Netzwerk-Spiel

Nun spielen die Knoten des Netzes ein Spiel miteinander, und zwar im Sinn der Spieltheorie. Anfangs befindet sich das Netz in irgendeinem Urzustand. Vielleicht hat es ein paar Kanten geregnet, und die haben sich nach dem Zufalls- oder dem Matthäusprinzip an gewissen Knoten angelagert; oder es gibt zunächst gar keine Kanten.

Ein Spielzug besteht darin, dass jeder Knoten unabhängig von allen anderen entscheidet, zu welchen seinesgleichen er neue Verbindungen knüpft. Das wird er immer dann tun, wenn der Nutzen aller neu gelegten Kanten, das heißt die Nutzenfunktion des Knotens für das Netz mit neuen Kanten minus dieselbe Nutzenfunktion für das Netz ohne neue Kanten, deren Kosten übersteigt. Damit die Situation nicht zu kompliziert wird, hat der Knoten am Ende der neuen Kante kein Mitspracherecht; insbesondere kann er die Kante nicht ablehnen, solange der Kollege zahlt.

Beim nächsten Spielzug finden alle Knoten das Netz mit den neu hinzugekommenen Kanten vor, berechnen auf dieser Basis, welche neuen Verbindungen anzulegen sich lohnen würde, und wieder endet der Spielzug damit, dass das Netz um diese Kanten erweitert wird. So geht das Spiel über eine unbestimmte Anzahl von Zügen weiter. Es endet, wenn kein Knoten mehr einen Anlass sieht, eine neue Verbindung zu knüpfen. Jede Kante, die es noch nicht gibt, würde gegenüber dem bisherigen Zustand weniger Mehrwert einbringen, als sie kostet.

Ein solches Spiel auf dem Computer zu simulieren ist nicht schwer. Die Autorinnen und Autoren der neuen Arbeit haben das für diverse Welten von etlichen tausend Einwohnern jeweils 10 000-mal durchgespielt. In der Tat endete das Spiel in jedem Einzelfall in einer kleinen Welt. Der kürzeste Weg von A nach B war nicht nur im Durchschnitt, sondern sogar in jedem Fall höchstens sechs Schritte lang.

Verschiedene Welten | Die Autoren haben für zahlreiche Netze verschiedener Größe den Durchmesser D bestimmt, das heißt die maximale Länge des kürzesten Weges zwischen zwei Knoten. In dem Diagramm ist der Durchschnittswert dieses Durchmessers aus vielen Simulationsläufen über der Netzgröße N aufgetragen. Die blaue Linie zeigt die Werte für den »Urzustand« des jeweiligen Netzes, der seinerseits nach dem Matthäusprinzip ausgewürfelt wurde. Die grüne Linie zeigt die entsprechenden Werte, nachdem das im Text beschriebene Spiel Kanten hinzugefügt hat, bis es in einem Gleichgewichtszustand endete. Wenn man dem Netz nicht nach den Spielregeln, sondern nach dem Zufall ebenso viele Kanten hinzufügt, ergibt sich die rote Linie. Während das Spiel praktisch unabhängig von der Netzgröße bei einem Durchmesser von 6 endet, wächst dieser Wert in den beiden anderen Fällen proportional zum Logarithmus von N. Das verdeutlicht die kleine Grafik, in der für N eine logarithmische Skala gewählt wurde.

Bei einem derart überraschenden Ergebnis neigt man unweigerlich dazu, nach Schwächen in der Argumentation zu suchen. Der erste Einwand: Die Anzahl der Kanten, die sich ein Knoten in jedem Spielzug zulegen kann, ist unbegrenzt, was in der Realität kaum zutreffen dürfte. Und wenn man einem Netz viele Kanten hinzufügt, einerlei wie, dann sinkt bereits dadurch der Durchmesser des Netzes; so nennt man die Länge des längsten kürzesten Wegs zwischen zwei Knoten. Ist also die Kleine-Welt-Eigenschaft nichts weiter als ein Nebenprodukt einer massiven Kantenvermehrung?

Das konnten die Autoren widerlegen, wiederum durch Computersimulation. Sie versetzten ihr jeweiliges Netz in den Urzustand zurück und beregneten es mit so vielen Kanten, wie die Knoten im Spiel durch ihre Einzelentscheidungen dem Netz hinzugefügt hatten, aber nach dem Zufalls- oder dem Matthäusprinzip. Dabei kam keine richtig kleine Welt hinaus, sondern Durchmesser im Bereich acht bis zwölf; und die waren obendrein nicht unabhängig von der Netzgröße N, sondern proportional dem Logarithmus von N, wie es der allgemeinen Theorie entspricht.

Und wenn man die Anzahl der neuen Kanten pro Knoten und Spielzug begrenzt, tut das dem Endzustand keinen Abbruch. In einer weiteren Simulation genehmigten sie jedem Knoten eine einzige neue Kante in jedem Spielzug, vorausgesetzt, sein Grad k war hoch genug. Die genaue Bedingung war 0,3k ≥ c, wobei c der konstante Preis für eine neue Kante ist. Der Knoten musste auch nicht bestimmen, ob sich diese spezielle Anfügung lohnt, was für große Netze auf einen ungeheuren Aufwand für die Berechnung der Nutzenfunktionen hinauslaufen würde. Er durfte sich einfach irgendeinen anderen Knoten für seine Beziehung heraussuchen, unter der einzigen Voraussetzung, dass der bisher mindestens drei Schritte von ihm entfernt war. Die Ungleichung garantiert dann, dass sich durch die Anfügung seine Nutzenfunktion erhöht.

Die neue, vereinfachte Vorschrift begünstigt offensichtlicher als die alte die kontaktreichen Knoten (die mit höherem Grad k) gegenüber den kontaktarmen. Das leuchtet ein, denn durch seine zahlreichen Kanten hat ein kontaktreicher Knoten mehr Gelegenheiten, Wege zu verkürzen und damit seiner eigenen Bedeutung aufzuhelfen, als sein menschenscheuer Kollege.

Wenn der Preis c so hoch ist, dass selbst der Knoten mit dem größten k die obige Ungleichung nicht erfüllen kann, passiert gar nichts. Sobald aber wenigstens ein Knoten eine Gelegenheit für ein Geschäft sieht, kommt der Prozess, der die Welt klein macht, in Gang. Denn die neu etablierten Kanten heben andere Knoten über die Schwelle, ab der sie mitspielen können.

Nach all den Computersimulationen will die Behauptung von der kleinen Welt auch mathematisch sauber bewiesen werden. Das tun die Fachleute; allerdings ist der Beweis keine leicht verdauliche Kost. Deswegen bieten sie zur Illustration der Beweisidee ein vereinfachtes Szenario an.

Die Welt ist ein Dorf – oder zwei

In der Welt, so wie sie nach irgendeinem Spielzug vorliegt, gibt es – mindestens – einen Knoten maximalen Grades, denn da die Einwohnerzahl N endlich ist, kann die Zahl der Kanten, die von einem Knoten ausgehen, nicht unendlich sein. Nennen wir diesen maximalen Grad k. Nun teilen wir die Welt auf vollkommen willkürliche Weise in Dörfer ein. Und zwar ernennen wir einen zufällig ausgewählten Knoten zum Dorfoberhaupt. Das zugehörige Dorf besteht dann aus ihm selbst, seinen unmittelbaren Nachbarn und deren unmittelbaren Nachbarn. Vom Dorfoberhaupt bis zu jedem Dorfbewohner sind es also höchstens zwei Schritte. Und jedes Dorf hat höchstens k2 + 1 Einwohner: das Oberhaupt selbst, dessen höchstens k Nachbarn und zu jedem von ihnen höchstens k−1 Nachbarn, denn einer der Nachbarn ist das Dorfoberhaupt selbst und darf nicht noch einmal gezählt werden. Das macht zusammen 1 + k + k(k−1) = k2 + 1 Knoten.

Aus der Welt nehmen wir das Dorf und alle an dessen Bewohner anschließenden Kanten weg, suchen uns in der Restwelt, wieder willkürlich, ein neues Dorfoberhaupt, versammeln dieses und seine Nachbarn erster und zweiter Ordnung zu einem weiteren Dorf und so weiter. Am Ende haben wir die Welt in Dörfer eingeteilt, und zwar in mindestens N/(k2 + 1) Stück.

Jetzt kommt der große Rundumschlag: Eines der Dorfoberhäupter, nennen wir es António (wie Guterres, den gegenwärtigen Generalsekretär der Vereinten Nationen), beschließt, zu sämtlichen anderen Dorfoberhäuptern Kanten zu legen. Dadurch ist die Welt mit einem Schlag klein geworden. Denn jeder Knoten ist nur drei Schritte von António entfernt, zwei bis zu seinem eigenen Dorfoberhaupt und noch einen über die neu etablierte Verbindung. Da das für jeden Knoten gilt, sind es von einer beliebigen Ecke der Welt zu einer beliebigen anderen nur sechs Schritte. Höchstens, denn es könnte auch vorher schon einen kürzeren Weg gegeben haben. So willkürlich, wie wir die Dörfer definiert haben, ist damit zu rechnen, dass ein Knoten nicht nur Kanten zu den Angehörigen des eigenen Dorfs hat.

Der Lohn, den António für seinen Kraftakt einfährt, ist gigantisch. Denn wie eine Spinne im selbst geknüpften Netz ist er zum Bestandteil ungeheuer vieler kürzester Wege geworden. Von Dorfoberhaupt zu Dorfoberhaupt gibt es keinen kürzeren Weg als den über António; so sind die Dörfer definiert. Für die restlichen Bewohner zweier verschiedener Dörfer gilt das nicht unbedingt; aber da jeder von ihnen höchstens k−1 Kanten nach außerhalb des eigenen Dorfs hat, ist der Nutzen, der António dadurch entgeht, dass es im Einzelfall einen kürzesten Weg an ihm vorbei gibt, begrenzt.

Natürlich gibt es unter realen Bedingungen keinen António, der alle anderen Netzmitglieder mit seinem Rundumschlag überrascht und davon steinreich wird. Wenn er, wie üblich, nur lokale Informationen zur Verfügung hat, wird er schon an der Aufgabe scheitern, die anderen Dorfoberhäupter ausfindig zu machen. Dieses völlig unrealistische Szenario gibt jedoch eine Abschätzung dafür, welche Verdienstmöglichkeiten ein löchrig geknüpftes Netz bietet. Für die Theorie kommt es dann nicht darauf an, wer diese Möglichkeiten realisiert.

Selbst wenn man sich von der Korrektheit des Beweises überzeugt hat, bleibt ein gewisses Stirnrunzeln

Es könnte nur vorkommen, dass eine bereits gelegte Kante dem Projekt eines anderen Knotens, eine weitere Kante zu legen, »das Wasser abgräbt«, indem die neue Kante wegen der alten nicht genug Zusatznutzen einbringt. Das passiert aber erst, wenn die Welt bereits auf Durchmesser sechs geschrumpft ist. Das zu beweisen, erfordert noch einige Anstrengungen.

Selbst wenn man sich von der Korrektheit des Beweises überzeugt hat, bleibt allerdings ein gewisses Stirnrunzeln. Irgendwie scheint zu viel Willkür in der Argumentation zu stecken. Dass die Knoten auf eine Art zufällig, ohne jede Rücksicht auf die Struktur des Netzes, zu Dörfern zusammengefasst wurden, mag ja noch angehen. Aber die Größe eines Dorfs ist gerade so bemessen, dass genau die kleine Welt mit Durchmesser 6 herauskommt. Das erweckt Misstrauen. Was ist, wenn man ein Dorf so definiert, dass es außer dem Oberhaupt nicht nur die Nachbarn erster und zweiter Ordnung, sondern auch die dritter, vierter … Ordnung umfasst? Oder nur die Nachbarn erster Ordnung?

Für größere Dörfer funktioniert die Argumentation der Autoren so wie bisher. Also führt das Bestreben der Knoten nach möglichst großer Bedeutung zu einer kleinen Welt mit Durchmesser acht, zehn, zwölf …, wohlgemerkt bei unveränderten Voraussetzungen. Denn die Einteilung des Netzes in Dörfer ist nicht auf eine Eigenschaft des Netzes zurückzuführen, sondern sie wurde dem Netz als Beweishilfsmittel aufgeprägt. Nur bleiben Welten mit größeren Durchmessern nicht so groß, weil es nach wie vor das Bestreben gibt, das auf einen Durchmesser 6 hinausläuft. Das wirkt auch dann noch, wenn zum Beispiel der Durchmesser 8 längst erreicht ist. Nur bei den ganz kleinen Dörfern – ein Oberhaupt und seine unmittelbaren Nachbarn – bricht die Abschätzung zusammen, die so viele neue Kanten als lohnend deklariert. Deswegen haben kleine Welten im Allgemeinen nicht den Durchmesser 4.

In einem anderen wesentlichen Punkt ist das zu Grunde liegende Modell allerdings unrealistisch. Dass eine Kante beim Einrichten etwas kostet und dann nie wieder, kommt in echten Netzen eigentlich nicht vor. Beziehungen wollen nicht nur angebahnt, sondern auch aufrechterhalten werden, was Aufwand erfordert. Entsprechend sollte in dem Modell die Möglichkeit enthalten sein, eine Verbindung auch wieder stillzulegen. Die Autoren gestehen offen, dass sie dieses erweiterte Modell (noch) nicht rechnen können. Deswegen steht der Beweis aus, dass es sich bei dem Endzustand, dem das Netz im Modell zustrebt, um ein Nash-Gleichgewicht handelt, das heißt einen Zustand, von dem keiner der Teilnehmer zu seinem Vorteil einseitig abweichen kann.

Dass die Welt klein ist, zeigt die Veröffentlichung nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch durch die Liste der Autorinnen und Autoren

Man kann sich auch fragen, ob die Motive der Netzteilnehmer tatsächlich durch das unterstellte Streben nach Bedeutung hinreichend gut erfasst werden. In Netzen wie Facebook oder Twitter mag das noch plausibel sein; aber den Nervenzellen in einem (echten) neuronalen Netz wie dem Gehirn ein Geltungsbedürfnis zuzuschreiben erscheint doch einigermaßen absurd. Nichts da! Eine synaptische Verbindung festigt sich, wenn sie viel gebraucht wird, das heißt, wenn viele Verbindungen zwischen fernen Neuronen über sie verlaufen. So kann der Auf- und Abbau von Synapsen in Abhängigkeit vom Datenverkehr zu demselben Ergebnis führen, wie wenn die Knoten gewisse Eigeninteressen verfolgt hätten.

Dass die Welt klein ist, zeigt die hier besprochene Arbeit nicht nur in ihrem Inhalt. Überdies verweist darauf die Liste der Autoren und Autorinnen. Federführend sind Ivan Samoylenko, der an zwei Moskauer Universitäten arbeitet, und David Alejo, der sowohl an der Universidad Rey Juan Carlos in Madrid als auch an der University of Michigan in Ann Arbor eine Adresse hat. Die übrigen zwölf Autorinnen und Autoren sind nicht nur in Russland, Spanien und den USA angesiedelt, sondern außerdem in Italien, Slowenien, Taiwan, Österreich, Südkorea, Israel und Indien. In einer Zeit, in welcher der Ukrainekrieg in Netze aller Art große Löcher reißt, ist ein solches Beispiel weltumfassender Zusammenarbeit geradezu tröstlich.

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