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Medizin: Viel Lärm aus dem Nichts

Bei manchen ist es ein hohes Pfeifen, andere hören ein unbestimmtes Rauschen, und wieder andere quält ein ständiges Klopfen. Jeder sechste Deutsche kennt Ohrgeräusche. Während allerdings bei den meisten die lautstarke "Erinnerung" an die kreischenden Gitarren der Lieblingsband nach Minuten oder Stunden wieder verschwindet, leiden Tinnitus-Patienten über Monate oder Jahre unter der ständigen Geräuschkulisse.
Tinnitus
"Nur meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort, ich kann sagen, ich bringe mein Leben elend zu", klagte schon Ludwig van Beethoven seinem Arzt Franz Gerhard Wegeler sein Leid über das "Klingeln der Ohren". Heute leben in Deutschland schätzungsweise drei Millionen Menschen, bei denen das Symptom Tinnitus aurium diagnostiziert wurde. Wie der Heidelberger Hals-Nasen-Ohrenarzt Florian Heimlich vermutet, sind davon fünf bis sieben Prozent durch den Lärm im Kopf in ihrer Lebensweise so stark beeinträchtigt, dass sie teilweise ihren Beruf nicht mehr ausüben können.

Das Innenohr | Während normalerweise der Schall von außen durch das Innenohr zum Gehirn weitergeleitet wird, scheinen beim Tinnitus das Ohr oder das Gehirn selbst Töne zu produzieren. Die Meinungen über die anatomische Ursache der Ohrgeräusche ist aber noch nicht geklärt.
Nicht existierende Töne zu hören, stellt somit bei weitem keine Spinnerei oder ein Einzelfall dar, sondern ein ernst zu nehmendes Problem. Fängt das Ohr an zu lärmen, sollte man sich so schnell wie möglich fachlichen Rat holen. Denn die Medizin unterscheidet drei Stadien dieses Symptoms, die sich unterschiedlich gut heilen lassen: Bleibt der Ton im Ohr weniger als drei Monate, bezeichnet man ihn als akuten oder plötzlichen Tinnitus, und seine Heilungschancen schätzt man als relativ gut ein. Dauert ein Ohrgeräusch dagegen bis zu einem Jahr oder länger, sprechen die Ärzte von einem subakuten oder chronischen Tinnitus, der nur schwer zu behandeln ist.

Warum die Ohren klingeln

Weil Tinnitus ähnlich wie Schmerz ein Symptom und keine Krankheit darstellt, beschäftigen sich Mediziner, Psychologen, Hirnforscher und Therapeuten gleichermaßen mit der Suche nach den eigentlichen Ursachen. So vielfältig wie deren Ergebnisse sehen deshalb auch die möglichen Gründe für den "Lärm aus dem Nichts" aus: Stress, hohe Lärmbelastung, Durchblutungsstörungen in Innenohrgefäßen, zu hoher oder zu niedriger Blutdruck, Schwerhörigkeit, Mittelohrentzündung oder fehlender Druckausgleich im Ohr zählen dabei zu den häufigsten. Krankheiten wie der Drehschwindel Morbus Menière, bei dem Patienten unter starken Schwindelanfällen mit Erbrechen und Übelkeit leiden oder ein kurzzeitiger Hörverlust in Form eines Hörsturzes können ebenfalls ein Ohrgeräusch auslösen.

Auch in den Tiefen unseres Hörorgans suchten Forscher nach der Herkunft des Tones. Während der französische Arzt Joseph-Guichard du Verney im 17. Jahrhundert noch Probleme im Innenohr als einzige anatomische Gründe für den Tinnitus annahm, sehen einige Wissenschaftler heute die Ursachen im Gehirn, in den dorsalen Cochlear nuclei. Diese Region im Hirnstamm dient als erste Anlaufstelle für Geräuschsignale, die aus dem Ohr über den Hörnerv ins Gehirn gelangen. Hier verarbeiten hochsensible Nervenzellen die unterschiedlichen sensorischen Signale aus verschiedenen Bereichen des Denkorgans.

Nervenableitung an Meerschweinchen | Die Forscher um Susan Shore bestimmten in ihren Versuchen die Aktivität des trigeminalen Nervs und der Cochlear nuclei an betäubten und tauben Meerschweinchen. Die Tiere hatten durch starken Lärm ihr Gehör verloren, während die Kontrolltiere gesund waren.
Susan Shore und ihr Team von der Universität von Michigan in Ann Arbor untersuchten nun diese Hirnregion im Zusammenhang mit einem interessanten Phänomen bei Tinnitus: Manche Patienten berichten, dass sie durch Drücken an bestimmten Bereichen des Kopfes den Ton abschwächen konnten.

Da das Symptom Tinnitus häufig mit Hörschäden zusammenhängt, arbeiteten die Forscher aus Michigan mit hörgeschädigten Meerschweinchen, von denen sie die Nervenzellaktivität in den Cochlear nuclei bestimmten. Dabei konnten sie feststellen, dass sich im Vergleich zu den gesunden Kontrollnagern bei den tauben Tieren die Neuronen in den Cochlear nuclei, die Berührungsreize im Gehirn verarbeiten, stärker regten. Auch der trigeminale Nerv, über den Tastinformationen aus dem Gesicht zur Cochlear kommen, feuerte verstärkt. Demnach scheinen auch Nervenzellen, die Tastreize verarbeiten, bei Hörschäden und Tinnitus eine Rolle zu spielen [1|. Hilfe gegen den Lärm im Kopf

Bei dem Musiker Martin H. begann der Lärm im Kopf mit einem von vier Hörstürzen. "Ich war in der Zeit mit viel Stress und Lärm konfrontiert, weil ich häufig mit meinem Orchester unterwegs war." Dazu kam noch eine chronische Entzündung der Nebenhöhlen – das Ergebnis: ein teilweiser Hörverlust.
"Nur meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort"
(Ludwig van Beethoven)
Viele Betroffene von Tinnitus oder Hörsturz warten häufig zu lange, bevor sie sich einem Arzt anvertrauen. Dabei ist gerade die Behandlung im frühen Stadium am wirksamsten. Um die Durchblutung im Innenohr zu fördern, setzt die klassische Medizin auf Infusionen mit Blutverdünnern, gefäßerweiternden Mitteln und Kortison. Auch Martin bekam zehn Tage lang Infusionen und konnte damit sein Hörvermögen wiederherstellen – das Rauschen im Ohr aber blieb.

So vielfältig wie die Ursachen sehen auch die Therapieansätze aus. Stößt die Schulmedizin an ihre Grenzen, dann wählen Betroffene häufig alternative Heilmethoden wie zum Beispiel die Akupunktur. "Dabei sollte man aber auf alle Fälle darauf achten, dass ein geschulter Arzt die Behandlung durchführt", meint der Mediziner Florian Heimlich, der selbst Akupunktur gegen Tinnitus anwendet. Mit dünnen Nadeln, die abhängig von der jeweiligen Schule in Ohr, Körper oder Schädel einige Millimeter tief angesetzt werden, soll wieder ins Gleichgewicht kommen, was aus selbigem geraten ist.

Der Komponist Bedřich Smetana setzte dagegen bei der Heilung seiner Ohrgeräusche auf die Musik und komponierte das Streichquartett "Aus meinem Leben". Darin ertönt häufiger ein lautes viergestrichenes E – Smetanas Tinnituston. Die "Tinnitus-Maskierung" funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip. Durch Einspielen eines Gegentons über den Masker, eine Art Hörgerät, wird versucht, den Tinnitus zu "übertönen".

Maskierung | Wenn Probanden ein anderen Ton hören (Maskierung), reduziert sich ihr Tinnitus in seiner Lautheit. Diese reduzierte Lautstärke hält nach Ende des dargebotenen Tones für einige (Milli-)Sekunden an (Residual Inhibition). Die Probanden berichten, wie sich die Lautheit des Tons verändert hat. Gleichzeitig wird während dieser kurzen Zeit die korrespondierende Hirnaktivität im Magnetoenzephalogramm (MEG) aufgenommen.
"Das Problem beim Tinnitus ist, dass das Gehirn den Ton nicht zuordnen und damit bewerten kann", erklärt der Hildesheimer Hörakustikmeister Sven Bielenberg die Methode. "Für den Patient ist es deshalb sehr schwierig, den Tinnitus auszublenden. Mit Hilfe des Maskers liefern wir dem Gehirn gleichzeitig mit dem Tinnitus-Ton ein Geräusch, das es zuordnen kann." Das Geräusch, eine Art "Meeresrauschen", wird dabei in Bezug auf Lautstärke und Tonhöhe ähnlich wie der Tinnitus eingestellt. Diese akustische Ablenkung von dem ständigen Quälgeist kann vor allem beim Einschlafen für viele Patienten eine Erlösung sein.

Wissenschaftliche Versuche zeigten, dass Patienten häufig auch noch wenige Sekunden nach Ende des Maskierungsgeräusches ihren eigenen Tinnitus leiser wahrnahmen. Nina Kahlbrock von der Universität Düsseldorf und ihr Team suchten nun diesen Resthemmungs-Effekt (residual inhibition, RI) in den Aktivitätsmustern des Gehirns.

Residual Inhibition | Die Grafik zeigt die durchschnittliche Tinnitus-Lautheit (rote Linie) und die Delta-Hirnaktivität (blaue Linie) während einer Phase vor der Maskierung (normale Lautheit) und in der Zeit kurz nach der Maskierung. Nach der Behandlung mit einem Masker reduziert sich sowohl die Delta-Hirnaktivität als auch die Tinnitus-Lautheit (residual inhibition).
Bei früheren Messungen an Denkorganen von Patienten mit dem unerwünschten Begleiter hatten sie eine Veränderung in der Hirnaktivität festgestellt: Im Vergleich mit gesunden Kontrollpersonen zeigten Tinnitus-Betroffene verstärkte Delta-Wellen auf der Hirnrinde. Als sie nun von Patienten in den wenigen Sekunden nach der "Tinnitus-Maskierung" die Hirnströme maßen, hatte sich die vorher hohe Delta-Wellen-Aktivität reduziert. Möglicherweise scheinen kortikale Hirnströme für das Symptom eine wichtige Rolle zu spielen [2].

Lärm frisst Seele auf

Wenn das Gehör nie abschalten kann, fällt das auch Betroffenen schwer. Vielen Patienten geht die ständige Geräuschkulisse im wahrsten Sinne des Wortes auf die Nerven. Nicht selten stellen sich deshalb quälende Depressionen, Angstzustände und innere Unruhe als Folge eines Tinnitus ein. Weil aber gerade psychischer Stress und seelische Belastung Ohrgeräusche verstärken oder auslösen können, droht ein Teufelskreis: Je stärker die Sehnsucht nach der Stille wird, umso mehr konzentrieren sich die Patienten auf den Lärm im Ohr.

Deshalb bauen viele Therapiekonzepte ganz bewusst auf Entspannung. Weil vor allem Stress einen wichtigen Faktor bei Tinnitus-Patienten darstellt, können Meditation, autogenes Training oder andere Entspannungsmethoden die Ruhe liefern, die im Alltag fehlt. Andere Konzepte versuchen, dem Patienten eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber dem Ohrgeräusch zu geben und ihm das "Überhören" und "Weghören" zu ermöglichen.

Häufig kann auch schon ein motivierendes "Kopf hoch!" eines Leidensgenossen den Druck und die Angst lindern. Internet-Foren oder Selbsthilfegruppen liefern hilfreiche Plattformen, in denen sich Betroffene über Behandlungen und den Umgang mit dem Tinnitus austauschen können – oder einfach nur Mut machen. "Man darf sich nicht auf den Ton konzentrieren. Das ist leichter gesagt als getan, aber es hilft", meint Martin.

Nach Jahren der Forschung beginnen Ärzte langsam zu verstehen, was hinter dem Phänomen Tinnitus steckt und wie man ihn heilen kann. Den Patienten bleibt bis dahin nur der tägliche Kampf um ein bisschen mehr Ruhe im Leben – und die Hoffnung, dass der Quälgeist eines Morgens das Weite gesucht hat.

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