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Meisenknödel und Co: Körner mit Nebenwirkungen

Das Füttern von Wildvögeln ist ein äußerst beliebtes Wintervergnügen. Aber hilft es den Tieren auch wirklich? Studien zeigen ein differenziertes Bild.
Blaumeise sitzt im Winter auf Meisenknödel
Es gibt Hinweise darauf, dass zusätzliches Winterfutter den Bruterfolg von Blaumeisen im folgenden Frühjahr reduziert.

Eifriges Geflatter und Gepicke, manchmal auch Gezeter und Streit: An Futterhäusern und Meisenknödeln beginnt zum Winteranfang wieder die Hochsaison. Zahlreiche Vögel nutzen einen der großen Vorteile, die ein Leben in Städten und Dörfern bietet. Wo sonst könnte man im Winter so ausgiebig und mit so wenig Aufwand schlemmen wie in Gärten und auf Balkons? Im Gegenzug bieten die gefiederten Gäste ein kostenloses Unterhaltungsprogramm, das bei vielen ihrer zweibeinigen Nachbarn gut ankommt. Das Füttern von Wildvögeln ist deshalb enorm populär.

Welche Dimensionen das annehmen kann, zeigt das Beispiel Großbritannien. Dort kommt im Schnitt eine Futterstelle auf neun Gefiederte. Und die Vogelfans, die sie eingerichtet haben, sind alles andere als geizig. So geben rund 17 Millionen britische Haushalte umgerechnet mehr als 280 Millionen Euro im Jahr aus, um 150 000 Tonnen Erdnüsse, Sonnenblumenkerne und andere Leckereien zu kaufen. Das würde reichen, um die dreifache Anzahl der zehn häufigsten Futterhausbesucher zu ernähren – selbst wenn diese das ganze Jahr über nichts anderes fressen würden.

»In Großbritannien hat das Beobachten und damit auch das Füttern von Vögeln eine besonders lange Tradition«, sagt Angelika Nelson vom Landesbund für Vogel- und Naturschutz in Bayern (LBV). »Aber auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz können sich sehr viele Leute dafür begeistern.« Gerade während der Corona-Pandemie, als die meisten anderen Freizeitaktivitäten nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr möglich waren, sei das Interesse noch einmal deutlich angestiegen.

Dieser Trend lässt sich nicht nur in Europa, Nordamerika und Australien feststellen, die traditionell als Hochburgen des Wildtier-Fütterns gelten. Das verriet kürzlich eine Studie, für die ein Team um Jacqueline Doremus von der California Polytechnic State University die Internetaktivitäten von Personen in aller Welt ausgewertet hat. In 115 Ländern fanden sich dabei Hinweise auf einen Corona-Effekt: Während der Lockdowns wurden Begriffe rund um das Thema Vogelfüttern viel häufiger in eine Suchmaschine eingegeben als zuvor. Zwar wisse niemand, wie viele Menschen weltweit tatsächlich Vögel füttern, so das Resümee. Doch solche Aktivitäten seien offenbar deutlich weiter verbreitet als bisher angenommen.

Mehr fressen, besser leben?

Welche Folgen aber hat das für die Adressaten des kulinarischen Verwöhnprogramms? Diese Frage beschäftigt Fachleute in letzter Zeit immer häufiger. »Wer füttert, will den Tieren ja zweifellos etwas Gutes tun«, sagt Angelika Nelson. Doch klappt das wirklich? Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. »Nicht jeder Vogel reagiert gleich«, erklärt die Ornithologin. »Schließlich haben die einzelnen Arten unterschiedliche Ansprüche und Verhaltensweisen, deshalb spielen sie in den Ökosystemen auch unterschiedliche Rollen.« Entsprechend bunt ist das Bild, das wissenschaftliche Untersuchungen von den Konsequenzen der gut gemeinten Futterspenden zeichnen.

So gibt es Fälle, in denen eine bessere Nahrungsversorgung zur Rettung bedrohter Arten beigetragen hat. Vögel wie der Kalifornische Kondor, die Mauritius-Taube oder der australische Goldbauchsittich hätten ohne gezielte Fütterungen möglicherweise nicht überlebt. Allerdings beruhen solche Erfolge auf Spezialprogrammen, die genau auf die Ansprüche der jeweiligen Kandidaten zugeschnitten sind. »Von Futterstellen im Garten kann man dagegen keinen großen Beitrag zum Artenschutz erwarten«, betont Nelson. »Denn die Besucher sind normalerweise eher häufige Arten.«

»Von Futterstellen im Garten kann man keinen großen Beitrag zum Artenschutz erwarten«Angelika Nelson, Ornithologin

Dazu gehören vor allem flexible Anpassungskünstler wie Finken, Meisen und Amseln, Rotkehlchen, Kleiber und Buntspechte, die sich zumindest im Winter von Samen ernähren. Auch Haussperlinge nehmen das Futterangebot in Gärten und auf Balkons dankbar an. Diese geselligen Vögel sind in Deutschland in den letzten Jahren zwar massiv zurückgegangen, doch ob Meisenknödel und Co daran etwas ändern können, ist zumindest zweifelhaft. Denn was den Tieren fehlt, sind vor allem Brutplätze und Verstecke. So bieten moderne Hausfassaden kaum noch Spalten und Nischen, die als Kinderstube in Frage kämen. Und es gibt auch immer weniger Hecken, in die ein Spatzentrupp auf Nahrungssuche bei Gefahr flüchten könnte.

Andere Arten scheinen dagegen durchaus von den Schlemmerbüfetts zu profitieren. Etliche Studien bescheinigen den gefütterten Tieren einen besseren Gesundheitszustand, eine höhere Überlebensrate und mehr Nachwuchs als Artgenossen, die sich mit dem natürlichen Nahrungsangebot begnügen müssen.

So hat ein Team um Travis Wilcoxen von der Millikin University im US-Bundesstaat Illinois die Gesundheit von Vögeln in Waldstücken mit und ohne Futterstellen verglichen. Erstere waren dabei generell in einem besseren körperlichen Zustand. Sie zeigten weniger Stresssymptome, ihre Federn wuchsen schneller und ihr Blut enthielt mehr gesundheitsfördernde Antioxidanzien. Zehn Monate nach dem Ende der Fütterungen waren diese Unterschiede jedoch wieder verschwunden. Offenbar waren sie also tatsächlich durch das zusätzliche Nahrungsangebot zu Stande gekommen.

Gefahren im Schlaraffenland

Allerdings zeigte die gleiche Studie auch eine Schattenseite solcher Wildtier-Restaurants: Bei den Besuchern traten deutlich mehr Infektionskrankheiten auf. Dieser Effekt ist anderenorts ebenfalls nachgewiesen. Wo mehr Vögel zusammenkommen als üblich, steigt das Ansteckungsrisiko. Und da sich an den Futterstellen auch Arten treffen, die sonst wenig miteinander zu tun haben, können die Erreger besonders leicht die Artgrenzen überwinden.

Welche fatalen Folgen das haben kann, haben Fachleute um Robert Robinson vom British Trust for Ornithology dokumentiert. 2005 war in Großbritannien ein einzelliger Parasit namens Trichomonas gallinae von Tauben auf Grünfinken übergesprungen. Schon ein Jahr später hatte er sich explosionsartig unter diesen häufigen Futterstellen-Besuchern ausgebreitet. Zwischen 2006 und 2016 dezimierte der tödliche Erreger die Population der Finken um 66 Prozent – das bedeutet einen Verlust von durchschnittlich 280 000 Tieren pro Jahr.

In Deutschland trat die Infektion 2009 zum ersten Mal in größeren Regionen auf. Seither stecken sich jedes Jahr Grünfinken mit Trichomonas gallinae an. Und es besteht der Verdacht, dass der Erreger die hiesigen Bestände ebenfalls deutlich dezimiert hat.

»Es ist sehr wichtig, in den Futterstellen auf Hygiene zu achten«Angelika Nelson, Ornithologin

Andere Krankheitserreger wie etwa Salmonellen treten an Futterstellen ebenfalls häufig auf. »Deshalb ist es sehr wichtig, dort auf Hygiene zu achten«, betont Angelika Nelson. Der LBV hat noch eine ganze Reihe weiterer Tipps zusammengestellt, um der gefiederten Kundschaft einen möglichst sicheren Besuch der Vogel-Restaurants zu ermöglichen. Schließlich sollen die Tiere dort weder Katzen zum Opfer fallen noch mit Glasscheiben kollidieren oder sich ungesund ernähren.

Es gibt allerdings Probleme, die sich gar nicht so leicht erklären und daher kaum verhindern lassen. Bei einer Untersuchung in Cornwall hat eine Forschungsgruppe um Kate Plummer von der University of Exeter zum Beispiel festgestellt, dass zusätzliches Winterfutter den Bruterfolg von Blaumeisen im folgenden Frühjahr reduziert. Hatten sich die Eltern regelmäßig den Bauch an Futterstellen vollgeschlagen, war ihr Nachwuchs nicht nur kleiner und leichter als der von Artgenossen ohne Zusatzversorgung, er hatte zudem schlechtere Überlebenschancen. Das galt sowohl, wenn nur Fettfutter angeboten wurde, als auch bei zusätzlicher Gabe von Vitamin E.

Die Forscherinnen und Forscher sehen drei mögliche Erklärungen für dieses überraschende Phänomen. Es könnte beispielsweise sein, dass durch die Fütterung auch weniger fitte Eltern überleben und Eier legen können – was sich dann im Zustand des Nachwuchses niederschlägt. Oder die Tiere nehmen fälschlicherweise an, dass der reich gedeckte Tisch im Winter auch ein üppiges Nahrungsangebot zur Brutzeit bedeutet. Dann setzen sie womöglich mehr Nachwuchs in die Welt, als sie versorgen können. Vielleicht liegt das Problem auch einfach darin, dass fettreiches Fastfood keine ausgewogene Mahlzeit bietet.

Auswirkungen auf die biologische Vielfalt

Klar ist jedenfalls, dass Besuche am Futterhaus für Vögel durchaus negative Folgen haben können. Sie müssen es aber nicht. Schließlich haben sich gerade Blaumeisen in anderen Studien als ausgesprochene Profiteure der Winterfütterung erwiesen. In Großbritannien hat der Bestand dieser Art seit den 1960er Jahren um 24 Prozent, der von Kohlmeisen sogar um 89 Prozent zugenommen. Im gleichen Zeitraum ist nicht nur das Vogelfüttern, sondern auch das Aufhängen von Nistkästen auf der Insel immer populärer geworden. Kein Wunder, dass Fachleute da einen Zusammenhang sehen. Denn beide Meisenarten sind begeisterte Futterhaus-Besucher.

Was aber bedeutet deren Boom für andere Vögel, die von den kulinarischen Zusatzangeboten nicht profitieren können? Verschieben sich die Konkurrenzverhältnisse oder die Beziehungen zwischen Räubern und ihrer Beute? Über solche Fragen werde bisher viel zu wenig nachgedacht, finden Jack Shutt und Alexander Lees von der Manchester Metropolitan University.

Sie halten es für sehr wahrscheinlich, dass die gut gemeinten Futterspenden die Spielregeln und damit auch die Lebensgemeinschaften in den Ökosystemen verändern. In einigen Fällen könne das bedenkliche Folgen für bedrohte Arten und damit für die biologische Vielfalt haben, warnen die beiden Forscher. Eine ihrer Veröffentlichungen zu diesem Problem trägt denn auch den bezeichnenden Titel »Killing with Kindness« – Töten durch Freundlichkeit.

Ihre Befürchtungen illustrieren die Experten am Beispiel von zwei Arten, die eher selten an Futterstellen auftauchen und denen es in Großbritannien alles andere als gut geht. Seit den 1970er Jahren sind die Bestände der Sumpfmeisen dort um 78 Prozent geschrumpft, die Weidenmeisen verzeichnen sogar einen Verlust von 92 Prozent. Und dieser Trend erfasst sogar Wälder und Feuchtgebiete, in denen sich die Lebensbedingungen für die Tiere nicht verschlechtert haben. Woran also liegt das? Bewiesen ist bisher nichts. Doch die Wissenschaftler haben einen Verdacht.

Im Streit ums Fressen und um Nistplätze ziehen nämlich beide Arten gegen die dominanten Kohl- und Blaumeisen den Kürzeren. Diesen Nachteil versuchen sie durch verschiedene Tricks auszugleichen. So sind Sumpfmeisen besonders sesshaft und kennen sich in ihrem Territorium sehr gut aus. Deshalb sind sie oft die Ersten, die neue Futterquellen entdecken. Weidenmeisen dagegen können sich ihre eigenen Nisthöhlen bauen. Während andere Meisen auf die Vorarbeit von Spechten angewiesen sind, können sie deshalb auch junge Wälder besiedeln. Zudem legen beide Arten Vorräte für schlechte Zeiten an.

Futterstellen und Nistkästen aber machen all diese Vorteile zunichte – und lassen die Konkurrenz immer stärker werden. Die hochgepäppelten Bestände der Blau- und Kohlmeisen breiten sich daher zunehmend in jungen Wäldern aus. Die Zeiten, in denen Weidenmeisen dort meist ihre Ruhe hatten, sind vorbei.

Die kleinen Höhlenbauer können eine Woche damit zubringen, eine Kinderstube in einen Stamm zu hämmern – nur, um dann von einem aggressiven Blaumeisen-Paar aus ihrer Unterkunft geworfen zu werden. Oft passiert das sogar mehrfach in einer Saison. Und zu allem Überfluss werden die Nester oft noch von Buntspechten ausgeräumt, die ebenfalls von der Fütterung profitieren. Kein Wunder also, dass britische Weidenmeisen-Paare immer häufiger kinderlos bleiben.

Ob es in Deutschland ähnliche Entwicklungen gibt, weiß bisher niemand. »Solche indirekten Effekte der Winterfütterung sind schwer zu untersuchen«, sagt LBV-Expertin Angelika Nelson. Doch dass Blau- und Kohlmeisen anderen Arten das Brüten schwer machen, sei durchaus bekannt. Das Nachsehen haben oft Zugvögel wie der Trauerschnäpper. Wenn die aus den Winterquartieren zurückkommen, müssen sie häufig feststellen, dass potenzielle Kinderstuben schon von der durchsetzungsfähigeren Konkurrenz besetzt sind.

Hinschauen und entspannen

Sollte man aus ökologischen Gründen also lieber keine Vögel füttern? Jack Shutt und seine Kollegen plädieren dafür, die Vor- und Nachteile zumindest besser abzuwägen. In wichtigen Refugien von Sumpf- und Weidenmeisen sei es sinnvoll, die Futterspenden zu reduzieren oder ganz darauf zu verzichten. Ein allgemeines Verbot sei aber weder nötig noch realistisch, betonen die Forscher. Schließlich habe das Füttern von Wildvögeln nachweislich auch positive Folgen – vor allem für jene Menschen, die dieses Wintervergnügen praktizieren.

Angelika Nelson sieht das ähnlich. »Viele Leute kennen die Vogelarten vor ihrer Haustür gar nicht mehr«, weiß sie aus eigener Erfahrung. Das Beobachten der Tiere am Futterhaus sei da ein guter Einstieg, um Interesse an Wildtieren, an der Natur und ihrem Schutz zu wecken. Doch das ist noch nicht alles. »Vögel zu beobachten, tut einfach gut«, sagt die Ornithologin, die zusammen mit ihrer US-amerikanischen Kollegin Holly Merker ein Buch zu diesem Thema geschrieben hat.

Tatsächlich berichten Menschen oft, dass der Kontakt zu den geflügelten Besuchern ihnen kleine Auszeiten vom Alltag verschafft. Er hilft, abzuschalten und Stress abzubauen, oder macht einfach Freude. Solche psychologischen Effekte nutzt das Projekt »Alle Vögel sind schon da«, in dem der LBV mit stationären Pflegeheimen kooperiert.

»Viele Leute kennen die Vogelarten vor ihrer Haustür gar nicht mehr«Angelika Nelson, Ornithologin

Vor einem Aufenthaltsraum mit einem großen Fenster stellen die beteiligten Einrichtungen eine Futterstation auf, zusätzlich gibt es spezielles Informations- und Anschauungsmaterial rund um die heimische Vogelwelt. Ziel des Ganzen ist es, den Bewohnerinnen und Bewohnern positive Erlebnisse und Anregungen zu bieten und ihnen so zu mehr Lebensqualität zu verhelfen. »Es ist toll, was wir da an Feedback bekommen«, sagt Nelson. »Die Vögel zu sehen, weckt bei vielen Menschen Erinnerungen.« Und das ist nicht nur ihr persönlicher Eindruck.

Psychologen um Patricia Zieris von der Katholischen Universität Eichstätt haben das Projekt wissenschaftlich ausgewertet. Demnach wirkt sich das Angebot tatsächlich positiv auf das Wohlbefinden der Menschen in stationären Pflegeheimen aus. Ermutigt durch diesen Erfolg will der LBV nun ein ähnliches Programm für Schulen starten. Geflatter, Streit und andere Action am Futterhaus kann schließlich für alle Altersklassen spannend sein.

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