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Covid-19: »Schulschließungen sind in diesem Stadium sinnlos«

Schweden setzt beim Coronavirus auf Freiwilligkeit statt strenge Kontrollen. Auch weil mehr Menschen als in den Nachbarländern sterben, gibt es Kritik. »Die große Debatte dreht sich derzeit um Pflegeheime«, sagt der an der Strategie beteiligte Anders Tegnell.
Menschen spazieren durch Stockholm.

Der Großteil Europas hat das öffentliche Leben seit März stark eingeschränkt, um die Ausbreitung des Coronavirus Sars-CoV-2 einzudämmen. Ein Land stach dabei heraus.

Schweden schloss sich nicht an und verhängte keine strenge »Social-Distancing«-Politik. Stattdessen führte das Land freiwillige, »vertrauensbasierte« Maßnahmen ein: Die Regierung riet älteren Menschen, soziale Kontakte zu vermeiden, und empfahl, von zu Hause aus zu arbeiten, sich regelmäßig die Hände zu waschen und nicht unbedingt notwendige Reisen zu vermeiden. Doch die Grenzen und Schulen für unter 16-Jährige bleiben offen – ebenso wie viele Unternehmen, darunter Restaurants und Bars.

Der Ansatz wird scharf kritisiert. Unter anderem von 22 hochrangigen Wissenschaftlern, die vergangene Woche in der schwedischen Zeitung »Dagens Nyheter« schrieben, die Gesundheitsbehörden hätten versagt. Sie haben die Politiker aufgefordert, mit strengeren Maßnahmen einzugreifen. Die Autoren verweisen auf die hohe Zahl der Coronavirus-Todesfälle in Altenheimen und auf Schwedens Gesamtsterblichkeitsrate, die höher ist als die seiner nordischen Nachbarn – 131 pro Million Menschen, verglichen mit 55 pro Million in Dänemark und 14 pro Million in Finnland, die Sperren eingeführt haben.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Mit erarbeitet hat die Strategie Anders Tegnell, ein Epidemiologe bei der schwedischen Gesundheitsagentur, deren Expertenempfehlungen die Regierung folgt. Tegnell sprach mit »Nature« über Schwedens Plan.

»Nature«: Wie funktioniert Schwedens Ansatz zur Bekämpfung des neuen Coronavirus?

Anders Tegnell: Es ist übertrieben dargestellt worden, wie einzigartig der Ansatz ist. Wie viele andere Länder streben wir an, die Kurve abzuflachen und die Ausbreitung so weit wie möglich zu verlangsamen – sonst droht dem Gesundheitssystem und der Gesellschaft der Zusammenbruch.

Wie viele Menschen haben sich neu angesteckt? | Die »Sieben-Tage-Inzidenz« gibt an, wie viele Neuinfektionen es in den letzten 7 Tagen pro 100.000 Einwohner gab. Stecken sich zu viele Menschen an, sollen die Landkreise Schutzmaßnahmen ergreifen.

Dies ist keine Krankheit, die gestoppt oder ausgerottet werden kann, zumindest bis ein wirksamer Impfstoff hergestellt ist. Wir müssen langfristige Lösungen finden, die die Verbreitung von Infektionen auf einem vernünftigen Niveau halten. Was jedes Land versucht, ist, die Menschen auseinanderzuhalten, und zwar mit den Maßnahmen und mit den Traditionen, die sie haben, um diese Maßnahmen umzusetzen. Und deshalb haben wir am Ende etwas andere Dinge getan.

»[Die Gesetze in Schweden] besagen eindeutig, dass der Bürger die Verantwortung hat, eine Krankheit nicht zu verbreiten«

Die schwedischen Gesetze zu übertragbaren Krankheiten basieren größtenteils auf freiwilligen Maßnahmen. Auf individueller Verantwortung. Sie besagen eindeutig, dass der Bürger die Verantwortung hat, eine Krankheit nicht zu verbreiten. Das ist der Kern, von dem wir ausgegangen sind, denn es gibt nicht viele rechtliche Möglichkeiten, Städte in Schweden mit den derzeitigen Gesetzen zu schließen. Eine Quarantäne kann für Menschen oder kleine Gebiete in Betracht gezogen werden, eine Schule oder ein Hotel etwa. Aber [rechtlich] können wir ein geografisches Gebiet nicht absperren.

Auf welche Beweise stützt sich das Vorgehen?

Es ist schwierig, im Fall einer Krankheit wie Covid-19 über die wissenschaftliche Grundlage einer Strategie zu sprechen. Wir wissen nicht viel darüber, und wir lernen Tag für Tag. Kontaktsperren, Lockdown, Schließen der Grenzen – nichts hat meiner Ansicht nach eine historisch wissenschaftliche Grundlage. Wir haben eine Reihe von Ländern der Europäischen Union daraufhin untersucht, ob sie eine Analyse der Auswirkungen vor Beginn dieser Maßnahmen veröffentlicht haben, und wir haben fast keine gefunden.

Die Grenzen zu schließen, ist meiner Meinung nach lächerlich, denn Covid-19 gibt es jetzt in jedem europäischen Land. Wir haben mehr Bedenken hinsichtlich der Bewegungen innerhalb Schwedens.

Die Gesellschaft liefert Anstöße: die Menschen ständig daran zu erinnern, Maßnahmen zu ergreifen sowie Maßnahmen zu verbessern, bei denen wir sehen, dass sie angepasst werden müssen. Wir müssen nicht alles komplett schließen. Das wäre kontraproduktiv.

Wie trifft die schwedische Gesundheitsagentur Entscheidungen?

Etwa 15 Mitarbeiter treffen sich jeden Morgen und aktualisieren Entscheidungen und Empfehlungen entsprechend der Datenerhebung und -analyse. Wir sprechen zweimal pro Woche mit den regionalen Behörden.

Die große Debatte, die wir derzeit führen, dreht sich um Pflegeheime für ältere Menschen, in denen wir sehr schwere Ausbrüche des Coronavirus registriert haben. Das erklärt die im Vergleich zu unseren Nachbarn höhere Sterblichkeitsrate Schwedens. Die Untersuchungen laufen, denn wir müssen verstehen, welche Empfehlungen nicht befolgt wurden und warum.

Der Ansatz wurde als zu locker kritisiert. Wie reagieren Sie auf solche Kritik? Glauben Sie, dass dadurch das Leben der Menschen mehr als nötig gefährdet wird?

»Wir befinden uns mitten in der Epidemie, und meiner Ansicht nach zeigt die Wissenschaft, dass die Schließung von Schulen in diesem Stadium keinen Sinn macht«

Ich glaube nicht, dass dieses Risiko besteht. Die Gesundheitsbehörde hat detaillierte Modelle für jede einzelne Region veröffentlicht, die im Hinblick auf Krankenhausaufenthalte und Todesfälle pro 1000 Infektionen zu weitaus weniger pessimistischen Schlussfolgerungen kommen als andere Forscher. Es ist ein Anstieg zu verzeichnen, bisher ist er jedoch nicht enorm. Natürlich treten wir in der Epidemie in eine Phase ein, in der wir in den nächsten Wochen sehr viel mehr Fälle sehen werden – mit mehr Menschen auf Intensivstationen –, aber das ist wie in jedem anderen Land auch. Nirgendwo in Europa ist es gelungen, die Ausbreitung erheblich zu verlangsamen.

Was die Schulen betrifft, so bin ich zuversichtlich, dass sie auf nationaler Ebene offen bleiben werden. Wir befinden uns mitten in der Epidemie, und meiner Ansicht nach zeigt die Wissenschaft, dass Schulschließungen in diesem Stadium sinnlos sind. Man muss Schulen ziemlich früh in der Epidemie schließen, um einen Effekt zu erzielen. In Stockholm, wo die Mehrheit der schwedischen Fälle auftritt, sind wir jetzt nahe an der Spitze der Kurve, so dass es sinnlos wäre, Schulen zu schließen. Darüber hinaus ist es für die psychische und physische Gesundheit von entscheidender Bedeutung, dass die jüngere Generation aktiv bleibt.

Forscher haben die Agentur kritisiert, weil sie die Rolle von Menschen ohne Krankheitsanzeichen nicht vollständig anerkennt. Stellen asymptomatische Überträger ein Problem dar?

Es besteht die Möglichkeit, dass Menschen auch ohne Symptome ansteckend sein könnten. Einige neuere Studien deuten darauf hin. Aber im Vergleich zu Menschen, die Symptome zeigen, ist die Verbreitung wahrscheinlich ziemlich gering. In der Normalverteilung einer Glockenkurve sitzen Asymptomatiker am Rand, während der größte Teil der Kurve von Symptomen besetzt ist, die wir wirklich aufhalten müssen.

Glauben Sie, dass Ihr Ansatz erfolgreich war?

Das ist sehr schwer zu sagen; es ist eigentlich noch zu früh. Jedes Land muss auf die eine oder andere Weise eine Herdenimmunität erreichen [wenn ein hoher Anteil der Bevölkerung gegen eine Infektion immun ist, wodurch die Verbreitung von Menschen, die nicht immun sind, weitgehend eingeschränkt wird], und wir werden das auf unterschiedliche Weise tun.

Es gibt genügend Signale für eine mögliche Herdenimmunität. Weltweit sind bisher nur sehr wenige Fälle von Reinfektionen gemeldet worden. Wie lange die Herdenimmunität anhält, wissen wir nicht, aber es gibt definitiv eine Immunantwort.

Was hätten Sie anders gemacht?

Wir haben die Probleme in den Pflegeheimen unterschätzt und die Art und Weise, wie die Maßnahmen angewendet wurden. Wir hätten dies gründlicher kontrollieren müssen. Im Gegensatz dazu war das Gesundheitssystem, das unter ungewöhnlichem Druck steht, dennoch immer einen Schritt voraus.

Sind Sie mit der Strategie zufrieden?

Ja! Wir wissen, dass Covid-19 für sehr alte Menschen extrem gefährlich ist, was natürlich schlecht ist. Doch wenn man sich Pandemien ansieht, gibt es viel schlimmere Szenarien als dieses. Die meisten Probleme, die wir im Moment haben, sind nicht auf die Krankheit zurückzuführen, sondern auf die Maßnahmen, die in einigen Umgebungen nicht richtig angewendet wurden: Die Todesfälle unter älteren Menschen sind ein riesiges Problem, und wir kämpfen hart.

Darüber hinaus zeigen Daten, dass die Grippeepidemie und das Winter-Norovirus in diesem Jahr kontinuierlich zurückgegangen sind. Unsere soziale Distanzierung und unser Händewaschen funktionieren also. Und mit Hilfe von Google haben wir gesehen, dass die Bewegungen der Schweden dramatisch zurückgegangen sind. Unsere freiwillige Strategie hat eine reale Wirkung gezeigt.

Dieser Artikel ist im Original unter der Überschrift »›Closing borders is ridiculous‹: The epidemiologist behind Sweden's controversial coronavirus strategy« in »Nature« erschienen und wurde für die deutsche Fassung angepasst.

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