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Tierversuche: Ausmerzen, frei lassen oder umsiedeln

Forschern drohen wegen des Coronavirus harte Entscheidungen: Sollen sie ihre Labortiere leben lassen oder töten? Manch einer nimmt Schildkröten erst einmal mit heim.
Eine Schildkröte kurz nach dem Schlüpfen.

Die Eier standen kurz vor dem Schlüpfen, aber Vivian Páez war sich nicht sicher, ob sie überleben würden. Sie und ihr Mann Brian Bock, beide Herpetologen, bebrüteten in ihrem Labor an der Universität von Antioquia in Medellín, Kolumbien, fast 100 temperatursensible Schildkröten- und Schildkröteneier. Am 17. März 2020 wurde ihnen klar, dass eine Sperrung wegen Covid-19 unmittelbar bevorsteht.

Am nächsten Tag, als die Universität ihre gesamte Forschung und Lehre einstellte, brachten Bock und Páez alle Eier vorsichtig in ihre Garage. Sie legten sie in Plastikbehältern auf die Werkbank, deckten sie mit einer Plane ab und hielten den Atem an.

Überall müssen Wissenschaftler die schwierige Entscheidung treffen, was sie nun mit den Forschungstieren tun sollen. Einige sind in der Lage, sie in ihren üblichen Einrichtungen zu versorgen, wobei die Tierpfleger zusätzliche Vorkehrungen treffen, um Kontakt zu anderen Menschen möglichst gering zu halten. Andere, wie Bock und Páez, haben Tiere mit nach Hause genommen oder wild gefangene Exemplare wieder ausgesetzt. Und viele Lebewesen wurden oder werden getötet, insbesondere Kleintiere wie Mäuse.

Entscheidung über Leben und Tod

Die Wahl fällt Wissenschaftlern, deren Arbeit sich direkt auf Menschen auswirkt, besonders schwer. Maria Eugênia Duarte, Forschungsleiterin am Nationalen Institut für Traumatologie und Orthopädie in Rio de Janeiro, Brasilien, beaufsichtigt beispielsweise Studien über seltene und bösartige Sarkome, meist bei Kindern. Ihr Team betreut etwa 100 immungeschwächte Mäuse, denen Tumoren von Patienten implantiert wurden, um zu untersuchen, wie die Wucherungen wachsen und wie sie sich am besten behandeln lassen.

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Da Rio geschlossen ist, kann nur ein Forscher pro Tag in die Tierklinik gehen. Duarte selbst darf es nicht, weil sie älter als 60 Jahre ist. Ihre Labormitarbeiter verbringen abwechselnd zwölf Stunden im Labor, um die Mäuse zu füttern, die Käfige zu reinigen und zu sterilisieren sowie die Gesundheit der Tiere zu überprüfen. Aber wenn Geräte wie die Maschine zur Sterilisation der Käfige kaputtgehen, kann sie niemand reparieren. »Wir wissen nicht, wie lange das möglich sein wird«, sagt Duarte, »vielleicht müssen wir Prioritäten setzen und (einige) der Tiere opfern.«

Viele Labore haben die harte Entscheidung bereits gefällt. Eine Forscherin an der Oregon Health & Science University musste mehr als zwei Drittel ihrer Mäuse einschläfern. Anderswo in den Vereinigten Staaten berichtet ein Forscher der Carnegie Mellon University von der Keulung von 600 Mäusen; zwei Wissenschaftler in Harvard sagen, dass sie die Hälfte ihrer Forschungsmäuse töten mussten; und ein Team am Memorial Sloan Kettering Cancer Center wurde gebeten, nicht mehr als 60 Prozent der Tiere als essenziell zu bezeichnen.

Das Jackson Laboratory ist ein gemeinnütziges biomedizinisches Forschungsinstitut mit Sitz in Bar Harbor, Maine, und verkauft jährlich Millionen Forschungsmäuse. Das Labor erreichten immer mehr Anfragen, Mäusesperma oder -embryonen einzufrieren, damit später bestimmte Linien wiederhergestellt werden können, sagt Rob Taft, ein leitender Programmmanager bei Jackson. Das Institut hat Lastwagen in verschiedene Städte geschickt, um Mäuse für die Kryokonservierung zu sammeln; weitere Abholungen sind geplant.

Aber für einige Labore, insbesondere solche, die mit wild gefangenen Lebewesen arbeiten, gibt es nur wenige Möglichkeiten, Forschungsprogramme am Laufen zu halten. Solomon David, ein Fischbiologe an der Nicholls State University in Thibodaux, Louisiana, beschloss Ende März, 48 Gefleckte Knochenhechte (Lepisosteus oculatus) wieder frei zu lassen, die sein Team vor Kurzem gesammelt hatte.

15 Eier von Páez’ und Bocks’ Schildkröten sind bisher geschlüpft. Die Tiere sollen bei der Familie leben, bis die Reisebeschränkungen aufgehoben sind und sie in ihre natürlichen Lebensräume zurückkehren können. »Zumindest arbeiten wir nicht mit Jaguaren oder Krokodilen«, sagt Páez.

Dieser Artikel ist im Original unter dem Titel »Tough Choices Loom for Researchers Working with Animals« im Magazin »Nature« erschienen.

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