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Röntgenkristallografie: Wie der rote Blutfarbstoff entschlüsselt wurde

Ende der 1950er Jahre gelang es dem Chemiker Max Perutz nach jahrzehntelanger Vorarbeit, die Struktur des Blutfarbstoffs Hämoglobin zu bestimmen. Eine Erfolgsgeschichte, die bis heute andauert.
Rote Blutkörperchen in Blutbahn

Als der Chemiker Max Perutz (1914-2002) es sich zum Ziel setzte, den Aufbau des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin zu bestimmen, war er gerade einmal 22 Jahre alt. Manche Kollegen hätten ihn in Anbetracht dieses Vorhabens nur »mitleidig belächelt«, soll Perutz einmal erzählt haben. Wohl nicht ganz ohne Grund. Denn bis dahin waren bloß vergleichsweise einfache Moleküle entschlüsselt worden, etwa Benzol, das rund 5000-mal kleiner ist als Hämoglobin. Damalige Rechenmaschinen hatten Monate gebraucht, um die Anordnung von deren Atomen zu bestimmen. Verständlich also, dass nur wenige an Perutz glaubten. Doch der junge Chemiker bewies Ausdauer und Beharrlichkeit – mit Erfolg: Heute gilt Max Perutz als ein Wissenschaftler, der die Molekularbiologie entscheidend geprägt hat. Für seine Methode bedarf es der Röntgenstrahlung: einer Entdeckung, die 2020 ihren 125. Geburtstag feiert. Aber der Reihe nach.

Im Jahr 1936, Perutz hatte gerade sein Chemiestudium in Wien beendet, wurde er wegen seiner jüdischen Herkunft aus Österreich vertrieben. Im englischen Cambridge fand er eine neue Heimat – und eine Anstellung als wissenschaftlicher Assistent im Cavendish Laboratory, einem der damals führenden Forschungsinstitute der Welt. Wenig später begann er dort seine Doktorarbeit unter der Betreuung von Sir William Lawrence Bragg. Dieser hatte im Jahr 1915 gemeinsam mit seinem Vater William Henry Bragg den Nobelpreis für Physik erhalten. Sie hatten herausgefunden, unter welchen Bedingungen sich elektromagnetische Wellen verstärkend überlagern, wenn sie an einem dreidimensionalen Kristallgitter gebeugt werden. Fachleute sprechen von konstruktiver Interferenz. Das zugehörige Gesetz, die Bragg-Gleichung, ist unter anderem grundlegend für sämtliche Röntgenbeugungsexperimente und findet sich in allen Lehrbüchern der Physik.

Im Gegensatz zu vielen anderen war Bragg von Perutz' Idee angetan. Er unterstützte den Nachwuchswissenschaftler und stellte ihm ein kleines Labor zur Verfügung. Drei Jahre später allerdings, im Jahr 1939, unterbrach der Zweite Weltkrieg jäh alle Arbeiten. Perutz wurde mit vielen anderen Personen deutscher und österreichischer Herkunft nach Kanada abgeschoben. Doch schon bald nach Kriegsende kehrte er nach Cambridge zurück und nahm seine Forschungen wieder auf.

Die erste Hürde war, Hämoglobin zu kristallisieren. Denn nur wenn der Stoff in einem derartig geordneten Zustand vorliegt, lässt sich die Methode der Röntgenkristallografie überhaupt anwenden. Die Röntgenstrahlen müssen auf ein regelmäßiges Gitter aus Molekülen – das Kristallgitter – treffen, damit sich ein sinnvolles Beugungsmuster ergibt, aus dem man auf die Anordnung der Moleküle und ihre Größe rückschließen kann. Bei einfach gebauten chemischen Verbindungen wie Natriumchlorid ist die Kristallisation ein Kinderspiel. Salzkristalle entstehen, sobald ausreichend Wasser aus der salzhaltigen Lösung verdampft ist. Bei Eiweißmolekülen, auch Proteine genannt, ist das Ganze allerdings deutlich komplizierter, da sie aus vielen tausend Atomen bestehen. Dem US-Amerikaner James Batcheller Sumner war es im Jahr 1926 erstmals gelungen, in einem langwierigen Verfahren das Enzym Urease zu kristallisieren, das er aus Riesenbohnen gewonnen hatte. Für die Erfindung der Methode erhielt er 1946 den Nobelpreis für Chemie, den er sich in jenem Jahr mit seinen Landsmännern John Howard Northrop und Wendell Meredith Stanley teilte. Sie hatten in den 1930er Jahren verschiedene Enzyme und Virusproteine kristallisiert.

Wie man Proteine kristallisiert

Auch heute noch tüfteln Kristallografen oft sehr lange daran, die richtigen Kristallisationsbedingungen für »ihr« Protein zu finden. Generell wird der Stoff zunächst aufwändig gereinigt, so dass keine oder zumindest kaum Fremdpartikel mehr enthalten sind. Anschließend muss man eine geeignete so genannte übersättigte Proteinlösung herstellen, in der sich die Proteine selbstständig zu einem Kristallgitter anordnen. Dazu wird in der Regel die Konzentration des Eiweißes langsam erhöht, etwa indem man das Lösungsmittel ganz allmählich und kontrolliert verdampfen lässt. Bei diesem Prozess müssen etliche Parameter mühsam optimiert werden: Ausgangskonzentration, Temperatur, Lösungsmittel und so weiter. Und bei manchen Proteinen gelingt es schlichtweg nicht.

Perutz jedoch hatte Erfolg: Ihm gelang die Kristallisation des Hämoglobins. Nun stand er allerdings schon vor der nächsten Herausforderung. Bei der Beugung ändert sich nämlich eine wichtige Eigenschaft der Röntgenstrahlen: ihre Phase. Um aus dem Beugungsmuster auf dem Röntgenfilm – im Prinzip ein Muster aus schwarzen Flecken – die Lage der Atome im Proteinkristall abzuleiten, benötigt man aber alle drei Eigenschaften einer elektromagnetischen Welle: die Amplitude, die Wellenlänge und eben auch die Phase. Letztere spielt vor allem bei der Überlagerung benachbarter Wellen eine Rolle. Die Phase beschreibt sozusagen ihre Verschiebung gegeneinander. Auch bei kleinen Molekülen tritt das so genannte Phasenproblem auf. Für sie lässt es sich mit Hilfe statistischer Methoden lösen. Nicht so für Riesen wie das Hämoglobin.

Doch auch von diesem Hindernis ließ sich Perutz nicht entmutigen: Er baute einige Atome eines Schwermetalls in seine Proteinkristalle ein, ohne dass sich dadurch die Konformation der Moleküle veränderte. Auf Grund ihrer höheren Elektronenzahl beugen die Schwermetallatome die Röntgenstrahlen stärker, weshalb sie letztlich hellere Flecken auf den Röntgenfilmen erzeugen. Dadurch konnte Perutz die Positionen der Schwermetallatome im Kristallgitter – und auch die Phase der zugehörigen Wellen – bestimmen. Mit Hilfe komplizierter Berechnungen war er nun in der Lage, die Phasen des restlichen Beugungsmusters zu ermitteln.

Mit diesen Informationen ausgestattet, lässt sich prinzipiell der Aufbau der Moleküle aus dem Beugungsmuster rekonstruieren. Allerdings verraten die schwarzen Flecken nicht etwa die genauen Koordinaten aller Atome im Protein. Stattdessen muss mit komplexen Formeln berechnet werden, wie die Elektronen in der so genannten Einheitszelle des Kristalls verteilt sind. Die Einheitszelle ist die kleinstmögliche Einheit, quasi der kleinste der Legosteine, aus denen der Kristall zusammengesetzt ist. Die Größe des Hämoglobins macht dieses Vorgehen aber derart komplex, dass es Perutz zunächst nicht gelang, dessen Struktur tatsächlich zu enträtseln.

Unterstützung kommt

Im Jahr 1947 wurde Perutz Professor und gründete in Cambridge die Unit for Research on the Molecular Structure of Biological Systems. Diese Einrichtung, später umbenannt in Laboratory of Molecular Biology, sollte nicht weniger als 15 Nobelpreisträger hervorbringen. Außerdem bekam er Verstärkung von dem Biochemiker John Kendrew, der an der University of Cambridge studiert hatte. Das Beugungsmuster eines Haares hatte Kendrew bereits in jungen Jahren in den Bann der Röntgenstrukturanalyse gezogen. Er interessierte sich für Myoglobin, den »kleinen Bruder« des Hämoglobins, welches für den Transport von Sauerstoff in Muskelzellen zuständig ist. Es ist zwar schwieriger zu kristallisieren, aber nur ein Viertel so groß wie der rote Blutfarbstoff, der aus vier Eisen bindenden Untereinheiten besteht. Das reduziert die vielen Rechenoperationen, die nötig sind, um den Aufbau eines Proteins zu bestimmen.

Heutzutage nutzt man dazu spezielle Computerprogramme, die aus den Röntgenbeugungsdaten die Elektronendichte eines Proteins berechnen. Sie erzeugen einen wurstartigen Umriss – eine Elektronenwolke, in die man das Protein mit all seinen Atomen hineinmodellieren kann. Zu Perutz' und Kendrews Zeit gab es noch keine solchen technischen Hilfsmittel. Stattdessen zeichneten sie die Elektronendichte jeder Ebene der Einheitszelle in Form von Höhenlinien auf transparente Kunststofffolien. Stapelte man die Folien übereinander, so konnte man, ähnlich wie auf einer Landkarte, dem Verlauf der Höhenlinien folgen und daraus die Atomanordnung des Proteins ableiten. So gelang es Kendrew im Jahr 1958, die Struktur des Myoglobins aufzuklären. Und ein Jahr später war es dann endlich so weit: Perutz entschlüsselte die Struktur des Hämoglobins. Für diese langwierigen Anstrengungen wurden beide Forscher im Jahr 1962 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet.

Heute gibt es eine riesige Proteindatenbank

Heutzutage werden jährlich mehrere tausend Proteinstrukturen durch Röntgenkristallografie bestimmt. In der Protein Data Bank (PDB) sind bereits mehr als 160 000 Datensätze gespeichert. Im Jahr 1992 waren es lediglich rund 1000. Kay Diederichs, Professor für Molekulare Bioinformatik an der Universität Konstanz, erklärt diesen rasanten Anstieg durch eine ganze Reihe von technischen Neuerungen und Verbesserungen. So wurden immer stärkere Röntgenquellen verfügbar, wie zum Beispiel das Deutsche Elektronen-Synchrotron, kurz DESY, in Hamburg oder die Synchrotron Lichtquelle Schweiz (SLS) am Paul Scherrer Institut in Villigen. An solchen Einrichtungen erhalten universitäre Arbeitsgruppen kostenlos Messzeit. Zudem sind die heutigen Detektoren extrem sensitiv. Sie können – im Gegensatz zu den Röntgenfilmen, die Perutz und Kollegen verwendeten – sogar einzelne Photonen zählen. Außerdem werden Computer und Software immer besser und billiger, so dass die riesigen Datenmengen blitzschnell ausgewertet sind. Und auch die PDB hilft beim Entschlüsseln von Proteinstrukturen: Forscher können dort nicht nur ihre Endergebnisse, sondern auch rohe Messdaten kostenlos abspeichern und ihre berechneten Strukturmodelle validieren. »Das erhöht die Verlässlichkeit der Ergebnisse«, sagt Diederichs.

Unter Strukturbiologen und Bioinformatikern habe sich eine Community ausgebildet, die sich über E-Mails austauscht und gegenseitig Hilfestellung leistet. So würden beispielsweise Workshops für Studenten angeboten, berichtet Diederichs. Doch nach wie vor hat die Methode ihre Tücken: Mitunter kostet es immer noch viel Zeit, Kristalle zu züchten, die die Röntgenstrahlen zu genügend hoher Auflösung beugen. Für Proteine, deren Struktur noch gänzlich unbekannt ist, kann man nicht auf bestehende Modelle zurückgreifen; es gilt zunächst, das Phasenproblem zu lösen – wie einst Perutz. Zwar verwendet man heutzutage nicht mehr seine Schwermetallmethode. Dennoch, so erklärt Diederichs, brauche man dazu sehr valide Daten und am besten mehrere unterschiedlich präparierte Kristalle.

Zunehmend wird zur Strukturanalyse der Proteine auch die so genannte Kryo-Elektronenmikroskopie verwendet. Mit dieser Methode ist es möglich, hochauflösende Bilder des Proteins zu schießen. Die herkömmliche Elektronenmikroskopie hatte die Proteine zerstört. Bei der Kryo-Elektronenmikroskopie werden die Proteine sozusagen ultraschnell schockgefroren, wodurch sie ihre Form behalten. Im Jahr 2017 erhielten Jacques Dubochet, Joachim Frank und Richard Henderson für die Entwicklung der Methode den Nobelpreis für Chemie. Die Electron Microscopy Data Bank (EMDB), das Analogon der PDB, verzeichnet im Jahr 2020 bereits mehr als 10 000 Strukturen – nicht nur von Proteinen, sondern auch von ganzen Organellen oder Organismen. Manchen in der Kristallografen-Community bereite diese Entwicklung Sorge, sagt Diederichs. »Sie sehen die neue Methode als Konkurrenz.« Der Bioinformatiker ist sich hingegen sicher, dass die Röntgenstrukturanalyse auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen wird.

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