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Covid-19: Wie sich die Infektion in Deutschland ausbreiten könnte

In einem offiziellen Planspiel aus dem Jahr 2012 hat ein eingeschlepptes Sars-Virus verheerende Folgen. Doch die Situation im Jahr 2020 ist anders und deutlich weniger dramatisch.
Berlin

Das neue Coronavirus ist wieder in Deutschland, und womöglich ist es diesmal gekommen, um zu bleiben. Die Berichte aus Iran, Italien und anderen Ländern zeigen jedenfalls: Die bisherige Strategie, die neue, grippeähnliche Krankheit Covid-19 auf China zu beschränken, kommt an ihre Grenzen. Das Virus breitet sich derzeit in einigen Teilen der Welt unkontrolliert aus. Dadurch wird es immer schwerer, eingeschleppte Fälle in anderen Regionen rechtzeitig aufzuspüren und Ansteckungsketten abzubrechen. Auch in Deutschland.

Deswegen markieren die Entdeckungen aus den letzten Tagen einen Wendepunkt, den die nun in Deutschland aufgetauchten Fälle noch unterstreichen. Bisher versuchte man, das neue Virus aus anderen Ländern fernzuhalten. Nun bewegt sich der Fokus langsam weg vom Prinzip Brandmauer, hin zu Strategien, die Folgen der Epidemien in den einzelnen Ländern einzudämmen. Doch was wären die Folgen, wenn sich Covid-19 unkontrolliert in Deutschland ausbreiten würde?

Fachleute haben sich diese Frage tatsächlich schon lange vor dem Auftauchen des neuen Coronavirus gestellt. Denn Covid-19 wäre eine Pandemie mit Ansage. Bereits während die Sars-Epidemie 2003 langsam abflaute, war klar: Ein solches Virus kommt wieder. Mit etwas anderen Eigenschaften, vielleicht ansteckender, vielleicht tödlicher, vielleicht beides. Vielleicht keines davon.

Planspiel mit erstaunlicher Aktualität

2012 versuchten deutsche Behörden herauszufinden, was passiert, wenn eine unbekannte sarsähnliche Seuche durch Deutschland rollt, ohne dass es einen Impfstoff oder Medikamente gibt. Mit einem erschreckenden Ergebnis: In drei Wellen über drei Jahre infiziert ihr »Modi-Sars« einen großen Teil der Bevölkerung, das Gesundheitssystem bricht zusammen, insgesamt sterben in Deutschland 7,5 Millionen Menschen durch das Virus, bevor nach drei Jahren ein Impfstoff zur Verfügung steht.

Die »Risikoanalyse ›Pandemie durch Virus Modi-SARS‹« war Teil des Berichts zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012 der Bundesregierung. In dem unter der Federführung des Robert Koch-Instituts entwickelten Szenario gelangt ein neues, mit Sars verwandtes Coronavirus nach Deutschland und breitet sich nach einem vereinfachten Modell in der Bevölkerung aus.

Einige der Annahmen hinter dem Modell sind erstaunlich aktuell. Ein Virus, das aus Asien nach Deutschland kommt, trockener Husten, Fieber als wichtigste Symptome und eine Sterblichkeit, die bei alten Menschen um ein Vielfaches höher ist als bei Kindern und Jugendlichen.

Das Virus ist eng an das Sars-Coronavirus von 2003 angelehnt, mit einer Abweichung: »Mit Auftreten der ersten Symptome sind die infizierten Personen ansteckend. Dies ist der einzige Unterschied in der Übertragbarkeit zwischen dem hypothetischen Modi-Sars und dem Sars-CoV [von 2003] – der natürlich vorkommende Erreger kann erst von Mensch zu Mensch übertragen werden, wenn eine Person bereits deutliche Krankheitssymptome zeigt«, heißt es in dem Bericht.

Allerdings: Neben den vielen Parallelen zwischen dem Planspiel und dem realen Sars-CoV-2 von heute gibt es auch dramatische Unterschiede. Der offensichtlichste: An der neuen Seuche sterben viel weniger Menschen als an Modi-Sars, das in dem Modell zehn Prozent der Infizierten tötet. Entsprechend werden auch die Konsequenzen von Covid-19 weit geringer sein – womöglich kaum schlimmer als eine saisonale Grippewelle.

Vorsicht ist aber geboten. Wie tödlich das real existierende Sars-CoV-2 wirklich ist und wie hoch der Anteil der schweren Verläufe sein wird, wissen wir noch nicht so genau. Einige Indizien deuten darauf hin, dass sehr viele Fälle mild verlaufen und nicht entdeckt werden – im besten Fall wäre Covid-19 nur ein Fünfzigstel so tödlich wie Sars. Andererseits berichtete am Dienstag Bruce Aylward, der für die Weltgesundheitsorganisation in China das Virus und seine Bekämpfung in Augenschein nahm, es gebe die vermutete Dunkelziffer eher nicht.

Der bisherige Ansatz, das Virus in China einzugrenzen, ist keineswegs gescheitert

Damit wäre das Virus deutlich gefährlicher, die berichteten Sterblichkeitszahlen aus China näher an der Wirklichkeit. Je nach Stichprobe und Gewichtung würden dann etwa 0,5 oder 2,3 Prozent der Infizierten sterben – in dieser Region bewegen sich die meisten Schätzungen. Allerdings hätte es auch einen großen Vorteil: Dann nämlich wäre auch die bekannte Zahl der Infizierten nahe an der Wirklichkeit – und die unerkannte Ausbreitung zumindest in Europa viel geringer als gedacht. Das würde die Bekämpfung der Seuche dramatisch erleichtern.

Derzeit isolieren die Behörden weiterhin die einzelnen Infizierten, während sie ihre Kontaktpersonen aufspüren und auf Krankheitssymptome kontrollieren. Doch wenn das Virus weltweit außer Kontrolle ist, stößt dieses »contact tracing« irgendwann an seine Grenzen. Zu vielfältig sind die Reisemöglichkeiten.

Zeit gewinnen als vorrangiges Ziel

Diese Entwicklung jedoch hatten Fachleute schon lange als reale Möglichkeit eingestuft. »Die globale Entwicklung legt nahe, dass es zu einer weltweiten Ausbreitung des Virus im Sinn einer Pandemie kommen kann«, berichtete bereits am 13. Februar das Robert Koch-Institut im »Epidemiologischen Bulletin«.

Das bedeutet aber keineswegs, dass der bisherige Ansatz, das Virus in China einzugrenzen, gescheitert ist – im Gegenteil. »Ziel dieser Strategie ist es, Zeit zu gewinnen, um sich bestmöglich vorzubereiten«, schrieb das RKI am 13. Februar. Dass das gelungen ist, zeigt der zweite große Unterschied zwischen Planspiel und Realität. In der Risikoanalyse des Bundes ist die Pandemie in Deutschland, noch bevor die offizielle Warnung der Weltgesundheitsorganisation eintrifft: »Die antiepidemischen Maßnahmen beginnen, nachdem zehn Patienten in Deutschland an der Infektion verstorben sind.«

Das entspricht grob der Situation in China, die danach schnell außer Kontrolle geriet – so wie im Deutschland des Planspiels von 2012. Erst am Tag 48 der simulierten Epidemie beginnen dort die Maßnahmen gegen die Epidemie zu greifen, was die Ausbreitungsrate immerhin um knapp die Hälfte reduziert.

Das reale Sars-CoV-2 dagegen stößt vom Tag seines Eintreffens an auf Widerstand – und vermutlich sogar auf deutlich drastischere Maßnahmen, als sie das Modell voraussetzt. Die Risikoanalyse nennt Schulschließungen als mögliche Option – Bundesgesundheitsminister Jens Spahn dagegen schloss nicht aus, im Ernstfall ganze Städte abzuriegeln. Fachleute rufen die Bevölkerung derweil dazu auf, sich vor Ansteckung zu schützen und auf Hygiene zu achten.

Warten auf den Sommer und einen Impfstoff

Denn: Je langsamer sich die Krankheit verbreitet, desto besser. Je größer der Zeitraum ist, über den Krankheitsfälle auftreten, desto besser lassen sich die Auswirkungen auf Gesundheitssystem und Wirtschaft abfangen – und jene bösen Überraschungen, auf die man bei neuen Seuchen immer gefasst sein muss. Und: Je weiter sich der Höhepunkt der Epidemie nach hinten verschiebt, desto geringer ist die Zahl anderer Atemwegsinfektionen wie Grippe, die gleichzeitig umgehen und das Gesundheitssystem belasten – sie werden mit dem Ende des Winters drastisch weniger.

Womöglich gilt Letzteres auch für das Coronavirus. Deswegen ist das Ziel der Gegenmaßnahmen weiterhin: Zeit schinden, bis die Grippesaison vorbei ist, bis der Sommer kommt, bis ein Impfstoff da ist. Bisher sind die Fachleute beim Robert Koch-Institut anscheinend zuversichtlich, dass das gut gelingen wird. »Die Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung wird in Deutschland aktuell als gering bis mäßig eingeschätzt«, schreiben sie in ihrer Stellungnahme nach der Entdeckung der neuen deutschen Fälle.

Mehr zum Thema Coronavirus und Covid-19 lesen Sie hier in unseren FAQ oder auf unserer Schwerpunktseite.

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