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Topophilie: Wo wir uns zu Hause fühlen

Eine emotionale Bindung können wir nicht nur zu anderen Menschen aufbauen, sondern auch zu einem Dorf oder der eigenen Wohnung. Was macht diese Orte zu einem Zuhause?
Junge Frau sitzt auf der Fensterbank und blickt hinaus, ein Hund liegt bei ihr
Ein Ort muss nicht idyllisch sein, um Heimat zu werden. (Symbolbild)

»Es ist nirgends schöner als daheim«, sagt das Mädchen Dorothy in »Der Zauberer von Oz«, bevor sie die Hacken ihrer roten Schuhe zusammenklackern lässt und sich so nach Hause zaubert. Ein Wirbelsturm hatte sie mitsamt ihrem Haus aus ihrer amerikanischen Heimat in eine absurde Welt geweht. Dort erlebt sie fantastische Abenteuer, vergisst aber nie, wo sie herkommt und wohin sie wieder zurück möchte – nach Hause zu ihrer Familie.

Nicht nur Kinder, auch viele Erwachsene vermissen manchmal ihre Heimat: jenen besonders vertrauten Ort, der ein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Gemütlichkeit vermittelt. Der Begriff steht aber für mehr als nur ein beliebiges Zuhause, er umfasst auch eine Landschaft, eine Sprache oder einen Dialekt, Traditionen und Gebräuche sowie Menschen, mit denen man sich verbunden fühlt. Für die meisten ist diese Heimat jenes Stück Land, auf dem sie aufgewachsen sind. Aber längst nicht für alle. Einige finden ihren Platz erst später im Leben in der Ferne, in ihrer Wahlheimat. Anderen ist der liebste Fleck ein Sehnsuchtsort, zu dem sie immer wieder zurückkehren, vielleicht ein Küstenstädtchen im Süden, in dem sie einmal sorgenfreie Wochen verbrachten.

Es scheint Teil der menschlichen Natur zu sein, eine emotionale Bindung zu Orten aufzubauen. Viele verspüren den Wunsch, dort zu bleiben oder zumindest dorthin zurückkehren zu können. Berichte über Migration und Vertreibung zeigen: Die Diaspora steigert diese Verbundenheit. Kaum etwas ist stärker als die Sehnsucht nach einem verlorenen Ort. Als Gegenmittel schaffen sich Menschen, die in der Fremde leben, kleine Inseln ihrer alten Heimat – von Chinatown über Little Italy bis Klein-Istanbul.

Hier gehöre ich hin

Die Umweltpsychologen Leila Scannell und Robert Gifford sind davon überzeugt, dass es ein natürliches Bedürfnis gibt, sich an einem Ort zugehörig zu fühlen. Die beiden forschen danach vielleicht nicht ganz zufällig an der University of Victoria in British Columbia, einer Region Kanadas, die mit schönen Stränden, glasklaren Gletscherseen und endlosen Zedernwäldern aufwartet. In einer 2017 veröffentlichten Studie wollten sie herausfinden, welche Zutaten das Zuhausegefühl speisen. Dafür baten sie knapp 100 Kanadierinnen und Kanadier, einen Ort zu beschreiben, dem sie sich innerlich verbunden fühlten – ob in der Natur, in einem Stadtviertel oder ihrer Wohnung. Am häufigsten schilderten die Befragten Erinnerungen, die sie mit diesem Ort verknüpfen. Gut zwei Drittel empfanden jenes Fleckchen Erde als Brücke zur Vergangenheit, als einen Ort mit Geschichte. So schrieb ein Teilnehmer über seinen Lieblingsplatz: »Ich bin lange nicht mehr dort gewesen, aber als Kind sehr oft. Ich sehe alles genau vor meinem inneren Auge, die Erinnerungen sind sehr lebhaft. Ich habe dort viele Freundschaften geschlossen – und meinen ersten Fisch gefangen.«

Am zweithäufigsten nannten die Befragten ein Gefühl der Zugehörigkeit, das sich dort einstellt. Sie spürten an ihrem Lieblingsort mehr als irgendwo sonst ihre Wurzeln, fühlten sich angenommen und angekommen. Für eine Teilnehmerin ist es das Haus ihrer Tante, in dem sich die Familie regelmäßig trifft: »Ich habe immer den Eindruck, hier gehöre ich hin. Viel mehr als in mein erstes Zuhause, denn ich bin als Kind oft umgezogen.« Den dritten Rang belegte die Ruhe, die die Befragten dort fanden. Für viele war dieser Rückzugsraum die eigene Wohnung, ein sicherer Unterschlupf, wo die Probleme draußen bleiben und wie Regentropfen an der Fensterscheibe abprasseln: »Jeden Tag nach der Arbeit gehe ich nach Hause und entspanne. Ich fühle mich dort am wohlsten. Selbst die übelste Laune verschwindet sofort.«

Die Liebe, die Menschen für einen Ort empfinden, heißt auch »Topophilie«, angelehnt an das griechische Wort »topos« für Platz. Und dieses seelische Band lässt sich nachweisen. Im Auftrag des britischen National Trust, einer Organisation für Kultur- und Naturschutz, machte sich ein Team von der University of Surrey auf die Suche nach den neuronalen Spuren dieser Liebe. Forschende um den Psychologen Bertram Opitz zeigten Versuchspersonen Fotos von Orten, die diesen etwas bedeuteten, darunter Aufnahmen historischer Bauten ihrer Heimatstadt und der Landschaft der Region, in der sie lebten. Die Probandinnen und Probanden lagen dabei in einem Magnetresonanztomografen (MRT), mit dem sich die Hirnaktivität in Echtzeit messen lässt. »Funktionelle MRT-Aufnahmen erlauben einen Blick in das Gehirn und ermöglichen es uns, emotionale Reaktionen zu erkunden, die schwer in Worte zu fassen sind«, erklärt Opitz.

Das Ergebnis: Hirnbereiche, die an der Verarbeitung von Gefühlen beteiligt sind, reagierten messbar stärker auf Orte, die der jeweiligen Person am Herzen lagen, als auf Bilder beliebiger Plätze. Die Amygdala, die die Intensität emotionaler Reaktionen maßgeblich steuert, war beim Anblick der Heimat besonders aktiv. Außerdem regte sich ein bestimmter Teil des Stirnhirns: der mediale präfrontale Kortex. Dieser trägt zur Bewertung eines Reizes und dessen Verknüpfung mit früheren Erfahrungen bei – laut den Forschenden ein Hinweis, dass in diesem Moment nostalgische Erinnerungen ins Bewusstsein drangen. Dazu passt, was die Teilnehmenden in einer anschließenden Befragung berichteten: 86 Prozent gaben an, ihr Lieblingsort fühle sich an wie ein Teil von ihnen. Als das Team den gleichen Versuch mit Bildern von Gegenständen durchführte, die entweder einen sentimentalen Wert trugen oder nicht, zeigte sich kein vergleichbarer Effekt. Das Team folgert daraus, dass bedeutsame Orte emotional stärker aufgeladen sind als wichtige Dinge. Die Studie lieferte damit erste Hinweise auf die neurophysiologische Basis des einzigartigen Gefühls, das Menschen durchströmt, wenn sie sich irgendwo heimisch fühlen.

Das Zuhause als Spiegel der Seele

Auch wenn das Zuhausegefühl sich nicht nur in den eigenen vier Wänden einstellen kann, ist es doch für viele dort am stärksten spürbar. So richtig heimelig wird es oft erst, wenn die Haustür hinter uns ins Schloss fällt – ankommen, aufatmen, ganz man selbst sein. Dass unsere Wohnung sogar etwas über uns verrät, belegte ein Team um Samuel Gosling von der University of Texas. Studierende, die das Wohnheimzimmer fremder Kommilitonen inspizieren durften, wussten deren Persönlichkeit anschließend recht gut einzuschätzen. Zum Beispiel umgaben sich besonders offene Charaktere eher mit unverwechselbaren Möbelstücken und mit Büchern zu verschiedensten Themen. Wer wir sind, drückt sich in einer Vielzahl von Vorlieben aus.

Auch unsere Überzeugungen bestimmen, in welcher Umgebung wir uns heimisch fühlen. Das Sinus-Institut für Markt- und Sozialforschung in Berlin und Heidelberg erforscht seit mehr als vier Jahrzehnten die Lebenswelten der Deutschen. Es unterscheidet verschiedene »Milieus«, deren Vertreter bestimmte Wertvorstellungen teilen – etwa das »konservativ-gehobene«, das »konsum-hedonistische« oder das »bürgerlich-nostalgische« Milieu. Im Jahr 2021 warfen die Sozialwissenschaftler des Sinus-Instituts einen Blick in deutsche Wohnzimmer. Dabei fanden sie einschlägige Wohnmuster. Menschen, die bürgerlich-nostalgische Einstellungen hegen und sich nach einer heilen Welt sehnen, gestalten ihr Heim zum Beispiel gern mit saisonalen Türkränzen, Möbeln im Landhausstil, Plüschsofas, Keramikfigürchen und viel Grün. Urbane »Performer« hingegen fiebern der Zukunft entgegen und holen sie sich schon einmal ins Haus – mit futuristischem Design, mit Glas, Stahl, glänzenden Bildschirmen und Sichtbeton.

Menschen ziehen sich immer dann vermehrt ins Private zurück, wenn die Welt unsicherer wird

Schon der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud riet dazu, es sich zu Hause passend einzurichten. Er verstand allerdings auch den Drang, dort zu bleiben. »Gewollte Vereinsamung, Fernhaltung von den anderen ist der nächstliegende Schutz gegen das Leid, das einem aus menschlichen Beziehungen erwachsen kann«, schreibt er in »Das Unbehagen in der Kultur«. Einige Jahrzehnte nach Freuds pessimistischen Betrachtungen kam der Rückzug in die eigenen vier Wände tatsächlich in Mode. Ende der 1980er Jahre prognostizierte die US-Trendforscherin Faith Popcorn eine vermehrte Flucht in die Häuslichkeit. Dafür prägte sie den Begriff »Cocooning«. Gemeint war, dass sich immer mehr Menschen von der Außenwelt abschirmten. Passend zur kulturgeschichtlichen Epoche des 19. Jahrhunderts heißt der Trend auch »Neo-Biedermeier«. Die psychologische Deutung: Menschen ziehen sich immer dann vermehrt ins Private zurück, wenn die Welt unsicherer wird. Der Kommunikationswissenschaftler Holger Schramm von der Universität Würzburg geht davon aus, dass die weltweiten Krisen der vergangenen Jahre die Sehnsucht nach einem Heimatgefühl gesteigert haben.

Bedürfnis nach Zugehörigkeit

Spätestens seit der Corona-Pandemie ist jedoch klar, dass einsames Stubenhocken der Psyche auf Dauer nicht guttut. Das Zuhausegefühl entsteht schließlich nicht zuletzt durch die Menschen darin. Entwicklungsgeschichtlich gesehen geht es bei der emotionalen Bindung an einen Ort auch darum, Teil einer sozialen Struktur, eines größeren Ganzen zu werden. Für unsere Vorfahren war es schließlich überlebenswichtig, soziale Bande zu knüpfen und zu erhalten. Selbst nomadische Völker, die keinem festen Ort treu bleiben, kennen ein Gefühl der Zugehörigkeit. Es entsteht maßgeblich durch befriedigende Beziehungen, wie Erhebungen zeigen. Gemeinschaft scheint für unser emotionales und körperliches Wohlbefinden fast so wichtig zu sein wie Nahrung und Sicherheit.

Zu ähnlichen Einsichten kamen auch Forschende um die Erziehungswissenschaftlerin Fiona Maine von der University of Cambridge in England. Sie untersuchten, wie Kinder und Jugendliche Heimat und Zugehörigkeit erleben. Für ihre 2021 erschienene Studie werteten sie Aussagen von Schülerinnen und Schülern aus, die zwischen 5 und 15 Jahre alt waren und aus fünf europäischen Ländern stammten. In 56 aufgezeichneten Unterrichtsstunden hatten Lehrkräfte mit der Klasse darüber gesprochen, was ein Zuhause ausmacht. Die Jüngsten brauchten vor allem ihre Familie, um sich daheim zu fühlen. Den älteren Kindern waren Sicherheit und Verlässlichkeit wichtig. Für fast alle aber war das Zuhause ein Raum zum Loslassen. Selbst die Kleinsten sagten, dass sie sich daheim fühlten, wenn sie einfach nur sie selbst sein können. Auf die schönste Formel brachte es wohl der sechsjährige Loukas aus Zypern. Vom Lehrer gefragt, wie sich sein Zuhause für ihn anfühlt, meinte er: »wie eine warme Umarmung.«

Das Zuhausegefühl stärken

  1. Räume gestalten: Die Wohnung ist die dritte Haut des Menschen, sagt der Künstler und Architekt Friedensreich Hundertwasser – sie müsse passen wie angegossen. Dafür könne man sorgen, indem man den eigenen Wohnraum nach den persönlichen Vorstellungen und Vorlieben gestaltet. Hundertwasser forderte gar das »Fensterrecht«: Jeder solle die Möglichkeit haben, sich aus dem Fenster zu lehnen und die Fassade zu bemalen, soweit der Pinsel reicht. Den meisten Mietenden dürfte das zwar nicht erlaubt sein, doch die eigenen vier Wände können sie nach Lust und Laune streichen.
  2. Erinnerungen pflegen: Die Identität offenbart sich auch in Erinnerungsstücken. Das Zuhause darf ein kleines Museum sein, dessen Exponate zeigen, wo wir herkommen und wer wir sind. Selbst in der Ferne kann man sich so mit der Heimat verbinden. Gemälde einer Künstlerin aus dem Geburtsort etwa oder eine Ahnengalerie erinnern an die eigenen Wurzeln. Wer besonders engagiert ist, stöbert in Kisten und auf Dachböden nach persönlichen Andenken wie dem alten Holzlöffel der Uroma und hängt ihn an die Küchenwand.
  3. Gutes tun: »Der einzige Weg, einen Freund zu haben, ist einer zu sein«, schrieb der Schriftsteller Ralph Waldo Emerson. Das bedeutet: Wer sich an einem Ort zuhause fühlen will, kann selbst dazu beitragen, zum Beispiel mit einem Ehrenamt. Um sich zugehörig zu fühlen, hilft es aber schon, anderen kleine Gefallen zu erweisen, etwa ein Paket anzunehmen oder beim Reifenwechsel mit anzupacken. Manchmal genügen bereits ein paar nette Worte: In einer Studie mit mehreren tausend Befragten fühlten sich jene seltener einsam, die sich gelegentlich mit ihren Nachbarn unterhielten.

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