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Der erste Kosmologe

Im 6. Jahrhundert v. Chr. spekulierten griechische Philosophen erstmals über stoffliche, nichgöttliche Ursachen des Weltgeschehens. Einer von ihnen war Anaximander von Milet.

Schon die ältesten schriftlichen Zeugnisse aus Babylon, Assyrien und Ägypten besagten, verschiedene Götter hätten die Welt erschaffen, verursachten alle Naturvorgänge und beherrschten die Schicksale der Menschen. So wurde es dann jahrtausendelang weitergegeben. Doch im 6. Jahrhundert vor Christus versuchte sich eine kleine griechische Denkschule, die wir heute die ionischen Naturphilosophen nennen, an einer ganz anderen Erklärung. Ihre Ideen kennen wir zwar nur fragmentarisch und von griechischen und römischen Berichten aus zweiter oder dritter Hand. Falls sie aber richtig überliefert wurden, muten sie selbst aus heutiger Sicht absolut modern an: Was in der Welt vorgeht, so ihre Grundannahme, beruht nicht auf göttlicher Willkür, sondern auf stofflichen Umwandlungen durch Wärme und Kälte, Verdichten und Verdünnen.

Die Erde als schwebender Zylinder

Als Vater dieser Naturphilosophie gilt Thales von Milet (Milet war eine antike Handelsstadt an der Westküste der heutigen Türkei). Von ihm ist der Satz überliefert, das Wasser sei der Ursprung von allem; durch Trocknen und Verfestigen sei daraus die Erde hervorgegangen. Sein Schüler Anaximander postulierte hingegen, die Ursubstanz sei das »Apeiron«, griechisch für »das Unbestimmte, das Unendliche«. Daraus entwickelte Anaximander eine ganze Kosmologie mit teils verblüffenden Details. So nahm er für die Erde nicht mehr – wie in den ältesten Mythen – die Form einer flachen Scheibe an, die von Göttern oder einer mythischen Schildkröte getragen werde, sondern stellte sie sich als runden, vermutlich zylindrischen Körper vor, der frei im Raum schwebe. Auch hielt er das Leben nicht für göttlichen Ursprungs; vielmehr verfocht er die These, es habe sich von selbst im Ozean entwickelt und dann allmählich das Land erobert.

Darum sieht der Autor dieses Buchs, Carlo Rovelli, in Anaximander geradezu den Urvater der modernen Kosmologie. Nicht nur führte der antike Denker, wie schon sein Lehrer Thales, die unendliche Vielfalt der Phänomene auf natürliche Veränderungen einer Ursubstanz zurück. Erstmals setzte er auch voraus, dass Himmel und Erde denselben Regeln gehorchen – ein spekulativer Gedanke, den erst Isaac Newton (1643-1727) gut zwei Jahrtausende später zur wissenschaftlichen Blüte bringen sollte.

Rovelli ist zwar kein Altertumswissenschaftler – und schießt in seiner Begeisterung für die Modernität Anaximanders angesichts unsicherer Quellenlage wohl etwas übers Ziel hinaus. Dafür überzeugt er aber als prominenter Grundlagenphysiker und erfolgreicher Wissenschaftsautor. Zusammen mit Lee Smolin hat er die Theorie der Schleifenquantengravitation entwickelt, die in Konkurrenz zur Stringtheorie beansprucht, eine Grundfrage der heutigen Physik zu beantworten: Wie lassen sich Quantenmechanik und Relativitätstheorie zu einer einheitlichen Theorie namens Quantengravitation vereinen?

Im zweiten Teil seines Buchs befasst sich Rovelli eigentlich mit der Rolle der heutigen Naturforschung. Anaximander dient ihm dabei als historische Parallele: So wie dieser sich von archaischen Mythen zur Erklärung der Natur verabschiedet habe, setze sich die moderne Wissenschaft von autoritären Ideologien und populistischen Ideen ab. Der Autor betont: Wissenschaftliches Denken unterscheidet sich von jedem Dogma durch methodische Skepsis. Nichts gilt als unumstößlich ausgemacht – was allerdings nicht heißt, dass man empirisch begründete Resultate als bloße Meinung abtun darf. Denn durch Experimente gewonnene Messungen liefern objektiv gültige Daten.

Mit seinem Bezug auf die Anfänge des antiken Denkens steht der Theoretiker Rovelli – möglicherweise unbewusst – in einer ehrwürdigen Tradition mit den Begründern der Quantenmechanik. Schon Erwin Schrödinger erinnerte in seiner Schrift »Die Natur und die Griechen« 1956 an die ionischen Naturphilosophen, und Werner Karl Heisenberg zitierte deren Nachfolger Pythagoras als frühen Verfechter einer mathematischen Naturbeschreibung. In dieser Reihe macht Rovellis elegant geschriebenes und – bis auf ein verbocktes Shakespeare-Zitat auf Seite 121 – schön übersetztes Buch eine ausgezeichnete Figur.

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