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Retten Nerds die Welt?

Eine Milliarde Euro verteilt eine Agentur für Technik-Innovationen. In ihrem Buch schreiben die Autoren, wie die Welt dadurch besser wird. Nur Frauen sind noch nicht dabei.

Eine Milliarde Euro kann Rafael Laguna de la Vera in zehn Jahren ausgeben, um revolutionäre Ideen voranzubringen. Er ist Gründungsdirektor der Bundesagentur für Sprunginnovationen und fördert so für die Bundesregierung bahnbrechende Erfindungen. Zusammen mit dem Technikjournalisten Thomas Ramge beschreibt er, welche Voraussetzungen große Ideen brauchen, welche Persönlichkeiten Erfinder sind und wie der Staat seine Förderinstrumente besser einsetzen sollte.

Die Welt verändern

Sie starten mit einer kurzen Reise durch die Innovationsgeschichte der Menschheit und mit dem experimentierfreudigen ersten Bauern – einem »jungsteinzeitlichen Genie«, der das erste Samenkorn in die Erde steckte und so die Landwirtschaft erfand. Eine echte Sprunginnovation verändere die Welt, man könne sie auf Fotos sehen, sie verändere die Marktwirtschaft, Industrien entstünden oder alte würden zerstört, so wie das Smartphone, die Pharmaindustrie, das Wasserklosett oder die Raketentechnik. »Eine Sprunginnovation verändert unser Leben grundlegend zum Besseren«, postulieren die Autoren, auf deren Liste auch das Schießpulver steht. Innovationen, die Kriegen helfen? Die Entwicklung von Erfindungen lasse sich kaum abschätzen, böse Überraschungen seien inklusive. Helfen könne eine Verstaatlichung der Rüstungsindustrie, »diese wäre dann nicht mehr gewinnorientiert«.

Die letzte wirkliche Innovation sei allerdings schon lange her. Das, was wir in den letzten Jahren mit Apps wie TikTok, Uber und Airbnb erleben, gaukele uns nur vor, in einem Zeitalter der Innovationen zu leben. Das sei nur Theater.

Wie müssten die Menschen gestrickt sein, die das Potenzial zu großen technischen Ideen haben? Die Autoren suchen nach HiPos (High Potenzials), Nerds, die für eine Idee brennen und einen Drang nach Wirkung haben – von »Einstein über Jobs bis Musk«. Personen wie Akira Endo, der ein Mittel gegen Cholesterin aus Pilzen identifizierte. Doch wo sind die Frauen?

Bei den »klugen Besessenen« merken die Autoren an, seien es »fast immer Männer, die im Rampenlicht stehen, wenn eine Sprunginnovation erreicht wurde«. Die einzige historische Ausnahme sei Marie Curie. Mehr noch, sie spekulieren, dass vielleicht sogar Einstein versucht hätte, ihren Nobelpreis zu verhindern. Vielleicht hätte hier an Stelle von Vermutungen ein Blick in historische Aufzeichnungen geholfen, denn Einstein brachte deutlich zum Ausdruck, wie sehr er die Intelligenz von Curie bewunderte. Und sie ist bei Weitem nicht die einzige Frau, die im Rampenlicht stand und brillant war. Gerade erst haben zwei Frauen einen Nobelpreis erhalten: Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna. Vielleicht liegt die Äußerung der Autoren daran, dass Laguna de la Vera eher »den Ingenieur-Tüftler« im Sinn hat, jemanden mit Begeisterung für Sciencefiction, wie er im Interview mit dem Deutschlandfunk immer wieder betont.

So führen die Autoren als Beispiel den Biologen Ingmar Hoerr von CureVac an – und nicht die Immunologin Katalin Karikó, deren Entdeckung die Grundlage für die Entwicklung mRNA-basierter Covid-19-Impfstoffe lieferte. Ohne ihre Forschung hätte es die Biontech-Impfstoffe nicht gegeben. Um geniale Frauen zu finden, hätte vielleicht auch ein Blick in das (sehr empfehlenswerte) von den Autoren zitierte Buch von Sibylle Berg »Nerds retten die Welt« geholfen. Fast die Hälfte der von Berg vorgestellten HiPos sind Frauen.

Dennoch schreiben die Autoren, Frauen seien notwendig. Sie bedauern, dass sich so viel weniger Frauen, als sie sich wünschen, um das Geld aus dem Ein-Milliarden-Euro-Topf bewerben. Ihnen dränge sich der Gedanke auf, »dass keine männliche Verdrängungslogik am Werk ist«. Vielmehr mehrten sich ihnen zufolge die empirischen Anzeichen, wonach es Gründerinnen erheblich schwerer haben, Gelder zu akquirieren. Die Agentur von Laguna de la Vera fördert bislang nur elf Männer für technische Revolutionen. Darunter sind Projekte wie ein analog betriebener Rechner, ein Windrad, das in 300 Meter Höhe Wind erntet, ein Alzheimermedikament, ein System, um Wasser von Mikroplastik zu befreien, und eine Art Holo-Deck, das mit einer Brille sterile Videokonferenzen in virtuelle Chaträume verwandeln soll.

Auch wollen sich die Autoren in ihrem Technikoptimismus keine Fesseln anlegen. Sie selbst haben schon Favoriten unter den großen disruptiven Ideen; darunter Kernenergie (»ob wir es in Deutschland wollen oder nicht«), Urlaubsreisen mit antigravitationsgetriebenen Fluggeräten oder einen Rechner, den man »direkt an das Gehirn« anschließen kann. Und zum Schluss: Wirklich voranbringen könne uns eine »Kontaktaufnahme oder Besuch von Außerirdischen«.

Vielleicht gibt es aber etwas anderes als strotzenden Technikoptimismus, um »das Überleben der Menschheit zu sichern«. Vielleicht ist die wirklich revolutionäre Idee gar keine technische, sondern eine soziale Veränderung: eine disruptive neue Art des Zusammenlebens, eine Gesellschaft, die dem Klimawandel oder der Corona-Pandemie mit Besserem als immer neuer Technik die Stirn bietet. Aber dafür braucht es ein anderes Buch.

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