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Extremtourismus: Urlaubstraum Tschernobyl

Vor 33 Jahren passierte in Tschernobyl der verheerende Unfall im Reaktor, der dazu führte, dass zehntausende Menschen evakuiert werden mussten. Doch wer glaubt, Tschernobyl und Umgebung seien jetzt Geisterstädte, irrt sich. An Spitzentagen schaffen es mehr als 1000 Touristen in die verseuchte Zone. Das Video von »Radio Bremen TV« begleitet einen Touristen auf seiner zweitägigen Reise mit dem Geigerzähler, erläutert Motive für eine solche Unternehmung, steht der touristischen Nutzung des Gebietes aber auch kritisch gegenüber.
http://www.youtube.com/watch?v=kYuUZ6_dI2o
© Buten un binnen
Urlaubstraum Tschernobyl

Videotext: Veröffentlicht am: 23.04.2019

Laufzeit: 0:11:55

Sprache: deutsch

Das ukrainische Prypjat war eine Kleinstadt, die erst 1970 gegründet wurde, hauptsächlich für die Arbeiter des nur vier Kilometer entfernten Atomkraftwerks in Tschernobyl. Heute ist sie das Highlight für viele Besucher des verseuchten Gebiets. Verlassene Wohnungen, von denen der Putz bröckelt, ein verrosteter Autoscooter – Überbleibsel eines Vergnügungsparks, der vier Tage nach dem Unfall hätte eröffnet werden sollen. Ein leerer Pool, eine Turnhalle, Glassplitter und Gasmasken zeugen von den Menschen, die hier einst gelebt, geliebt und gelacht haben. Doch zum Nachdenklichwerden ist kaum Zeit, die nächsten Touristen warten schon. Auch den Ort des Unfalls – heute mit einem Sarkophag aus Stahlbeton abgedeckt – kann man besichtigen und natürlich überall fleißig Bilder machen. Wer mag, kann mit dem Geigerzähler nachmessen, wie die Radioaktivität in der Nähe des Sarkophags, aber auch an anderen »Hotspots« um Tschernobyl plötzlich in die Höhe schießt – laut Video liegt der Wert »über dem 100-Fachen von normal«. Was genau damit gemeint ist, wird nicht näher erklärt. Bei den 33 Mikrosievert, die der Geigerzähler am Hotspot anzeigt, handelt es sich bei genauem Hinsehen um einen Wert pro Stunde. Bei einem Flug in die Dominikanische Republik nimmt man mindestens die gleiche Dosis auf – jedoch über einen Zeitraum von zehn Stunden verteilt. Zehn Stunden am Hotspot würden hingegen eine Dosis von 330 Mikrosievert bedeuten. Für Einzelpersonen der Bevölkerung beträgt laut Strahlenschutzgesetz der Grenzwert der Summe der effektiven Dosen 1 000 Mikrosievert im Kalenderjahr – oder 30 Stunden am Hotspot. Die berufliche Maximalexposition liegt sogar bei 20 000 Mikrosievert pro Jahr. Astronauten, die gern in die Karibik fliegen, leben also besonders ungesund. Dass dem Urlauber nahe des Reaktors »heiß wird«, ist hingegen vermutlich eher eine subjektive, dramatische Wahrnehmung.

Das japanische Fukushima, das seit einem Seebeben mit Tsunami und dem darauf folgenden Störfall geschlossen ist, sowie die umliegenden, evakuierten Orte dürfen derzeit nur Anwohner, Botschaftsvertreter und Schüler betreten. Doch auch das soll sich zukünftig ändern. Derzeit finden Dekontaminierungsarbeiten statt, bei den Olympischen Sommerspielen 2020 in Tokio sollen in Fukushima Wettbewerbe ausgetragen werden.

Die University of Bristol hat kürzlich zehn Tage lang Drohnen über ein 2600 Quadratkilometer großes Gebiet um Tschernobyl fliegen lassen. Diese haben sowohl mit dem Lasersystem »LIDAR« die Landschaft vermessen als auch Strahlungswerte gemessen. Vor allem der rote Wald toter Pinienbäume um den Reaktor hat sie interessiert, wo man auch heute noch einige der meistverstrahlten Plätze der Erde findet. Diesen Messungen zufolge soll die radioaktive Belastung um den Schrottplatz von Prypjat bereits nach ein paar Stunden die jährliche Maximaldosis übersteigen. Die Erkenntnisse, welche Bereiche relativ sicher sind, sollen auch dabei helfen, die Gegend um Tschernobyl zukünftig zu nützen – zum Beispiel für ein Sonnenkraftwerk. Prypjat wird aber laut ukrainischen Behörden noch ein paar zehntausend Jahre lang unbewohnt bleiben müssen – bis auf einige geduldete Einwohner samt singendem Chihuahua, die die Besucher mit Wodka versorgen. Wer sich trotz Wodka und Hund nicht der Extrastrahlendosis aussetzen will, kann sich auch das Musikvideo zu »Life is golden« von der Britpop-Band Suede ansehen, in dem eine Drohne über die ehemalige Arbeiterstadt hinwegfliegt und viele der berühmten Details einfängt.

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