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Ästhetik: Was unterscheidet Kunst von Kitsch?

Wahrnehmungs- und Sozialpsychologen gehen den Grundlagen künstlerischer Sichtweisen auf den Grund.
Kunst oder Kitsch

Kaum ist Ostern vorbei, atmet man tief durch. Die allgegenwärtigen Hasen, die eben noch Schaufenster und Balkone bevölkerten, wandern zurück ins Lager – bis zum nächsten Jahr. Ein besonders beliebtes Motiv ist der fränkische Cousin des Osterhasen, der so genannte Dürer-Hase. Dass es sich bei Albrecht Dürers berühmter Naturstudie eines jungen Feldhasen aus dem Jahr 1502 um Kunst handelt, wird niemand ernsthaft bestreiten. Aber gilt das auch für industriell gefertigte Dürer-Hasen aus Plastik wie im Bild? Angesichts solcher Chimären aus Kunst und Kunststoff stellt sich die Frage: Wo hört eigentlich Kunst auf, und wo fängt Kitsch an?

Beginnt Kitsch nicht schon viel früher als beim Plastik-Derivat, nämlich bei Dürer selbst sowie der massenhaften Verbreitung seiner Grafiken auf Postkarten, Abreißkalendern und sogar T-Shirts? Wenn wir im gestalterischen Bereich von Kitsch sprechen, meinen wir damit vor allem weit verbreitete und daher leicht identifizierbare Bildmotive, die spontan positive Gefühle wecken sollen, weil sie eng mit der angenehmen oder tröstlichen Vorstellung einer heilen Welt verbunden sind. Kitsch schöpft aus dem Fundus althergebrachter Themen und Vorbilder mit besonders hohem Wiedererkennungswert. Ob wir etwas als kitschig ablehnen, hängt folglich stark davon ab, wie sehr wir mit den Klischees der jeweiligen Kultur vertraut sind. Wer den Dürer-Hasen überhaupt nicht kennt, wird womöglich selbst von einer billigen Reproduktion auf einem Zinnteller hingerissen sein.

Im Gegensatz zu Kitsch hat Kunst den Anspruch, originell und neuartig, bisweilen sogar unzugänglich oder unbequem zu sein. Mit formalen Innovationen und inhaltlichen Tabubrüchen fordern künstlerische Werke unsere Alltagswahrnehmung heraus. Für Dürers Zeitgenossen war ein Feldhase oder eine Ansammlung von Grashalmen wie in seinem Aquarell »Das große Rasenstück« an sich kein darstellungswürdiges Motiv. Allein durch die Wahl des Bildgegenstands veränderte der Künstler den Blick auf die Welt.

Der Dürer-Hase zeigt zudem eindrucksvoll, wie selbst revolutionäre Kunst nach und nach zum Allgemeingut werden kann. Als allgemein anerkanntes Kunstklischee wird es schließlich wieder als Kitschobjekt interessant, zumal wenn es sich um einen possierlichen Hasen handelt. Und um sicherzugehen, dass man wirklich etwas Gefälliges schafft, das eindeutig einordenbar ist, bringt man den Hasen am besten noch mit Ostern, mit Eiersuche und anheimelnder Nestwärme in Verbindung.

Kein Wunder, dass dies sofort wieder die Kunst auf den Plan ruft: Als der Künstler Ottmar Hörl im August 2003 für seine Installation »Das große Hasenstück« nicht weniger als 7000 grasgrüne Dürer-Hasen aus Plastik auf dem Nürnberger Hauptmarkt aufstellte, rief das ein geteiltes Echo hervor; ein erstes Indiz, dass es sich nicht einfach um eine Ansammlung banaler Plastikhasen-Attrappen handelte, sondern um etwas Neues, so noch nicht Dagewesenes. Die Installation erregte Aufmerksamkeit und lud die Betrachter zum Nachdenken ein – nicht zuletzt über das Verhältnis von Kunst und Kommerz. Solche Installationen lösen Assoziationen aus, die das einzelne Kitschobjekt selbst nicht zu wecken vermag, ja gar nicht wecken soll. Anders als der niedliche Osterhase daheim auf der Fensterbank bewies Hörls Installation dem Betrachter, dass sogar ein alter Renaissancekünstler wie Dürer immer noch einen Aufreger wert ist, sobald eine geschickte Inszenierung unsere Sehgewohnheiten in Frage stellt.

Fazit: Auch eine Invasion von grünen Plastikhasen kann Kunst sein, Kunst werden – sofern sie im Sommer stattfindet. Hinter der Frage »Kitsch oder Kunst?« verbergen sich also verschiedene Spielarten des ästhetischen Erlebens, ein Spannungsfeld zwischen Nostalgie und Neugier, Vertrautheit und Neuartigkeit: Kitsch – meist gefühlsbetont und leicht zugänglich – trägt einer Sehnsucht nach Sicherheit und Zugehörigkeit Rechnung. Kunst dagegen appelliert eher an unsere Neugier sowie an das Bedürfnis nach Autonomie und Abenteuerlust. Kunst will den Horizont erweitern und uns dabei helfen, anders zu denken, während Kitsch eine Art Rückversicherung und Geborgenheit spendet. So können wir über den Umweg der Kitschbetrachtung oft viel mehr über das Wesen und die Bedeutung von Kunst lernen als durch das bloße Betrachten von Kunst selbst. Dürers Hase bleibt lehrreich und schön zugleich.

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  • Quellen

Ortlieb, S. A., Carbon, C.-C.: Kitsch oder Coping? Die biologischen Grundlagen der sozialen Motivation als Determinanten des ästhetischen Erlebens. In: Schwender, C. et al. (Hg.): Evolutionäre Ästhetik. Pabst, 2017

Ortlieb, S. A., Carbon, C.-C.: A functional model of kitsch and art: linking aesthetic appreciation to the dynamics of social motivation. Frontiers in Psychology 9, 2019

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