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Steinzeit: Waren Neandertaler wirklich dumm?

Der ausgestorbene Verwandte des modernen Menschen konnte Feuer machen, Werkzeuge erfinden und wahrscheinlich sogar sprechen.
Schritte der Evolution in Form gehender Gestalten im Profil
Der Neandertaler hatte einen kräftigen Körperbau und war ein geschickter Jäger.

Seit der britische Geologe William King die Menschenart Homo neanderthalensis 1865 zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieb, galten ihre Vertreter als viel weniger intelligent als der moderne Mensch, Homo sapiens. Weil ihn der Schädel des Fossils, das man 1856 im Neandertal bei Düsseldorf fand, an den eines Schimpansen erinnerte, schrieb King den Neandertalern höchstens äffische Fähigkeiten zu. Frühe Rekonstruktionen schufen dann das Bild gebückt gehender Wilder, geist- und kulturloser Wesen, die sich in Fellschurze kleideten und an Knochen nagten. Dieses Bild hielt sich bis in jüngste Zeit. Nicht zuletzt führten Forscherinnen und Forscher das Aussterben der Neandertaler auf ihre geistige Unterlegenheit zurück. In den letzten 15 Jahren hat sich unser Verständnis jener Menschenart durch neue Funde und Untersuchungsmethoden allerdings stark gewandelt.

Das Gehirn des Neandertalers war durchschnittlich etwas größer als das des heutigen Menschen und hatte eine leicht andere Form: Der Stirnlappen, der für Pläne und Entscheidungen zuständig ist, war etwas weniger ausgeprägt, die Bereiche für das Sehen waren größer. Auch im Körperbau unterschied sich der Neandertaler von Homo sapiens. Neandertaler waren kleiner, aber stämmiger. Ihre kräftige Statur half ihnen bei der Jagd auf Großwild. In Neumark-Nord in Sachsen-Anhalt erlegten sie über Generationen hinweg ausgewachsene Elefantenbullen mit einem Gewicht von über 13 Tonnen. Mit fein gearbeiteten Speeren, Lanzen und Wurfhölzern machten sie Jagd auf Hasen, Vögel, Pferde, Hirsche und sogar Nashörner und Löwen. Je nach örtlichem Angebot verspeisten sie darüber hinaus Schildkröten, Muscheln, Krabben und Fisch. Ein Großteil ihrer Nahrung bestand aus Fleisch. Mit hölzernen Wühlstöcken, wie sie in Italien und Spanien gefunden wurden, gruben Neandertaler zudem vermutlich Wurzeln und Knollen aus. Untersuchungen ihres Zahnsteins zeigen, dass sie auch stärkehaltige Pflanzen und Pilze aßen. In der Shanidar-Höhle im Irak entdeckten Fachleute den verkohlten Rest eines Wilderbsenbratlings.

Erst vor Kurzem gelang der Nachweis, dass Neandertaler selbst Feuer entfachen konnten. Neben Wärme und Licht spendete es ihnen Energie für die Zubereitung von Nahrung, das Härten von Holz und die Gewinnung von Birkenpech. Die Verwendung dieses Klebstoffs für Werkzeuge, die aus mehreren Teilen zusammengesetzt wurden, reicht mindestens 200 000 Jahre zurück. Das Licht des Feuers nutzten Neandertaler, um vor 176 000 Jahren knapp 350 Meter tief in die Bruniquel-Höhle in Frankreich vorzudringen, wo sie komplexe Gebilde aus über 400 Stalagmiten-Bruchstücken bauten, die heute noch zu sehen sind. In der Cueva Des-Cubierta in Spanien stapelten sie Schädel verschiedener großer Pflanzenfresser und in der französischen Fundstätte la Roche-Cotard setzten sie mit ihren Fingern Markierungen auf die Höhlenwände. Vermutlich stammen in Spanien entdeckte Farbspuren, darunter auch ein Handabdruck, ebenfalls von Neandertalern. In der Einhornhöhle im Harz hinterließen sie einen Riesenhirschknochen mit tief eingekerbten Verzierungen. Und sie bewahrten über zehntausende Jahre hinweg eine Tradition, bei der die Krallen von großen Raubvögeln eine zentrale Rolle spielten – möglicherweise als Schmuck oder rituelles Symbol. Viele gut erhaltene Skelette legen außerdem nahe, dass die Neandertaler ihre Toten bestatteten.

An den großen technischen Fertigkeiten der Neandertaler und ihren weitreichenden Kenntnissen der Umwelt und deren Ressourcen besteht heute kein Zweifel mehr. Auch in ihrem ästhetischen Empfinden und ihrem Gestaltungswillen standen sie Vertretern der Art Homo sapiens, die zur gleichen Zeit in Afrika lebten, in nichts nach. Ihre Kultur, ihr Wissen und ihre Gebräuche gaben Neandertaler über Generationen hinweg weiter. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie sich über Sprache verständigten – die anatomischen Voraussetzungen dafür besaßen sie jedenfalls. Neandertaler passten sich über mehrere hunderttausend Jahre an Eiszeiten und Warmzeiten an und breiteten sich bis nach Sibirien aus. Bei der Ankunft von Homo sapiens im Nahen Osten und in Europa begegneten sich also zwei sehr ähnliche Arten und vermischten sich sogar, wie Überbleibsel im Erbgut heutiger Menschen verraten.

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  • Quellen

Gaudzinski-Windheuser, S. et al.: Hunting and processing of straight-tusked elephants 125 000 years ago: Implications for Neanderthal behavior. Science Advances 9, 2023

Schmidt, P. et al.: Production method of the Königsaue birch tar documents cumulative culture in Neanderthals. Archaeological and Anthropological Sciences 15, 2023

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