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Grams' Sprechstunde: Sanfte Naturheilkunde kann giftig sein

Vermeintlich sanfte Medizin hat durchaus harte Folgen. Ein Beispiel: das Magenmittel Iberogast. Doch die Pflanzenheilkunde hat auch viel Gutes zu bieten.
»Natürlich« heißt nicht automatisch »besser als chemisch«.

Eine sanfte, natürliche Medizin gilt als erstrebenswert. Bestenfalls, so die Überzeugung einiger, richtet es nicht die Pharmaindustrie, sondern Mutter Natur. Doch nur weil etwas »sanft« oder »natürlich« ist, muss es nicht sicher sein. Mehr noch: Das Attribut von Sanftheit täuscht oft darüber hinweg, dass es um die Wirksamkeit schlecht bestellt ist. Wenn Therapien versprechen, frei von Nebenwirkungen zu sein, haben sie mit hoher Wahrscheinlichkeit keine nennenswerte Hauptwirkung. Sie gehören, wenn überhaupt, in den Bereich der Wellness. Auch schön, aber eben kein Medikament.

Die Pflanzenheilkunde zählt innerhalb der so genannten Naturheilkunde noch zu den sinnvolleren Methoden. Sie kann durchaus wirksam sein. Viele Naturstoffe und traditionell bekannte Heilpflanzen enthalten Inhaltsstoffe in physiologisch relevanter Menge. Sie lassen sich quantifizieren und erforschen. Das unterscheidet sie von der Homöopathie.

Die Wirkmechanismen sind zumeist pharmakologisch plausibel. Abgesehen von esoterischen Wirkungszuschreibungen wie bei der anthroposophischen Mistel. Wer aber deshalb annimmt, pflanzliche Mittel wären automatisch durchweg sowohl wirksam als auch harmlos, der irrt.

Warnung: Magenmittel Iberogast kann zu seltenen Schäden führen

Um nur ein Beispiel zu nennen: Das bekannte »Mit der Kraft der Natur gegen Magen-und-Darm-Beschwerden«-Mittel Iberogast steht im Verdacht, zum Tod einer Patientin beigetragen zu haben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Hersteller, der sich viel zu lange dagegen gewehrt hatte, einen notwendigen Warnhinweis in den Beipackzettel aufzunehmen, dass das im Mittel enthaltene Schöllkraut zu Leberschäden führen kann. Natürlich macht auch hier die Dosis das Gift, doch zumindest Schwangere und Patienten mit einer Lebervorschädigung oder -belastung etwa auf Grund von anderen Medikamenten sollten das Präparat besser nicht einnehmen.

Was kann die moderne Medizin leisten? Nutzt die Homöopathie? Was macht einen guten Arzt aus, und welche Rolle spielt der Patient? Die Ärztin und Autorin des Buchs »Was wirklich wirkt« Natalie Grams diskutiert in ihrer Kolumne »Grams' Sprechstunde« Entwicklungen, Probleme und eklatante Missstände ihrer Zunft. Alle Teile lesen Sie hier.

Andere Mittel schaden indirekt. Denn Naturpräparate können Neben- und Wechselwirkungen mit richtigen Medikamenten haben. Die Pille wirkt unter Johanniskraut manchmal nicht mehr so gut, schon ein Glas Grapefruitsaft kann Medikamente unter Umständen wirkungslos machen.

Niemand sollte also dem verbreiteten Fehlschluss erliegen, dass die Natur dem Menschen stets wohlgesinnt wäre. Eigentlich liegt das auf der Hand angesichts von Wirbelstürmen, Erdbeben und Fliegenpilzen. Oder Pandemien wie Covid-19.

Auch pflanzliche Präparate haben ein Schadenspotenzial. Die meisten Gifte sind natürlichen Ursprungs. Selbst das stärkste bekannte Gift, Botulinumtoxin, ist ein natürliches Stoffwechselprodukt eines natürlich vorkommenden Bakteriums. Jede Pflanze bildet Gifte, als Abwehr gegen Fressfeinde. Gerade Pflanzen, die nicht weglaufen können, sind auf diese evolutionäre Taktik angewiesen. Viele Pflanzenextrakte sind in der Medizin nur nutzbar, weil sie von Giftstoffen befreit und mit pharmazeutischen Methoden standardisiert worden sind. Und was jede und jeder bedenken sollte: Selbst herkömmliche Gemüsebohnen sind ziemlich giftig, wenn sie nicht gründlich abgekocht und damit die toxischen Moleküle zerstört sind.

Traditionell oder wirklich wirksam?

Ganz deutlich betonen möchte ich deshalb, dass die Abgrenzung von »natürlichen« und »chemischen« Präparaten weder Sinn ergibt noch etwas über Wirksamkeit oder Qualität aussagt. Exemplarisch zeigt das kolloidales Silber, das oft als »natürliches Antibiotikum« beworben wird. Es hat tatsächlich eine – relativ schwache – antibakterielle Wirkung, die sich aber nur bei direktem Kontakt zum erkrankten Gewebe entfaltet, nicht etwa körperweit, wenn man es einnimmt. Silberbeschichtete Wundauflagen sind also sinnvoll. Kolloidales Silber zu schlucken, ist es dagegen nicht.

Oder denken wir an die Entdeckung des Antibiotikums Penizillin, das Ärzte erstmals 1928 medizinisch angewendet haben. Eigentlich ist es eine Substanz aus Schimmelpilzen, die einige Bakterienarten abtötet und dadurch unzählige Leben gerettet hat; heute gilt sie vielen jedoch als Inbegriff der bösen Pharmaindustrie. Verrückte Welt. Und noch verrückter, bedenkt man, dass Penizillin erst so richtig wirksam und verträglich ist dank der pharmakologischen Weiterentwicklung, exakten Dosierbarkeit und Standardisierung.

Wir halten fest: Einzelne Naturstoffe sind nachweislich wirksam, allerdings längst nicht alle. Und zahlreiche sind noch gar nicht untersucht. Deswegen tragen sie auch das Label »traditionell wirksam« und nicht etwa »Wirksamkeit wissenschaftlich bestätigt«.

Es wäre schön, wenn hier mehr Forschung stattfinden würde. Statt wissenschaftlich unplausiblen Methoden wie der Homöopathie hinterherzuforschen, wäre es doch viel besser, zu erkennen, dass die Pflanzenheilkunde bislang unerschlossene Möglichkeiten bietet – von der Pharmaindustrie verschmäht, von der Wissenschaft zu wenig beachtet. Das ist schade! Denn so wird weiterhin vieles nur auf gut Glück angewendet und auch unter der trügerischen Annahme, es könne ja nicht schaden.

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