Schlichting!: Hinter der Sprengkraft von Eis steckt ein Sog
Wasser gehört zu den wenigen Substanzen, die sich beim Gefrieren nicht zusammenziehen, sondern ausdehnen. Diese Dichteanomalie kann zerstörerische Folgen haben: Wenn das Wasser nicht genügend Platz hat, um die voluminöse Eisstruktur zu bilden, baut es einen erheblichen Druck auf. Man denke an Flaschen, die in der Tiefkühltruhe platzen, oder an Wasserrohrbrüche im Winter. Und finden sich nicht auch überall im Stadtbild augenfällige Beispiele, nämlich in Form von Frostschäden bei porösen Baumaterialien wie Mauerwerk oder Asphalt?
Doch interessanterweise ist der Ausdehnungseffekt für Schlaglöcher und andere solche Absprengungen und Aufbrüche wohl nicht die Hauptursache. Das haben Wissenschaftler von der ETH Zürich im Jahr 2023 nachgewiesen. Entscheidend ist vielmehr, dass Eis seine Oberfläche mit immer weiteren Schichten aus Eis überzieht, solange von außen Wasser nachströmt.
Dazu muss man wissen, dass Eis stets von einer dünnen Wasserschicht bedeckt ist, selbst bei sehr tiefen Temperaturen. Diese Benetzung ist eine Konsequenz des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, das heißt des Bestrebens der Natur, unter den gegebenen Bedingungen so viel Energie wie möglich an die Umgebung abzugeben. Energetisch ist es besonders kostspielig, eine direkte Grenzfläche der regelmäßigen Eiskristalle mit dem angrenzenden Stoff aufzubauen (wie Luft oder Asphalt). Es ist günstiger, wenn sich dazwischen eine vermittelnde Wasserschicht bildet.
Dieses Verhalten ist unter anderem entscheidend dafür, dass man beim Schlittschuhlaufen normalerweise leicht über eine gefrorene Fläche hinweggleiten kann. Ohne den Wasserfilm wäre der Wintersport vor allem bei tieferen Temperaturen wohl kein Vergnügen (siehe »Spektrum« Februar 2014, S. 60).
Die dünne Schicht kann jedoch gefrieren, wenn flüssiges Wasser aus der Umgebung nachströmt, um sie zu ersetzen. Dadurch entsteht ein Unterdruck, so dass Wasser gleichsam angesaugt wird. Im Englischen spricht man daher von »cryosuction« (etwa: Kältesog). Insbesondere bei porösen Stoffen passiert das leicht, da Flüssigkeit aus zahlreichen umliegenden Zwischenräumen und Kanälen kommen kann.
Solange dieser Wassertransport aufrechterhalten wird, wächst die Eisschicht. Ihre zunehmende Dicke drückt nach außen und lässt bei Platzmangel die betroffene Straße oder das Mauerwerk aufbrechen. Ohne diesen Kryosog würde allein der Ausdehnungseffekt infolge der Dichteanomalie wirken. Er käme zum Stillstand, wenn alles lokal vorhandene Wasser gefroren ist.
Straßenmodellbau mit Klebstoff und Silikon
Der Vorgang ließ sich bislang schwer direkt untersuchen, denn die von Frostschäden betroffenen Gegenstände sind meist undurchsichtig. Die Forscher von der ETH Zürich machten den Prozess erkennbar, indem sie zwischen zwei transparenten Objektträgern ein einfaches Modell des porösen Materials herstellten. Zwischen Abstandshaltern modellierten sie mit einem geeigneten Klebstoff eine einzelne Pore von einigen Millimetern Länge und Breite. Anschließend brachten sie innen auf der Unterseite der Pore eine dünne Schicht Silikon mit fluoreszierenden Teilchen auf. Das sollte bei der Visualisierung helfen. Sie füllten die Pore mit reinem Wasser, kühlten das eine Ende unter den Gefrierpunkt und erwärmten das andere, das als Reservoir diente.
Dabei beobachtete das Team, wie sich das Silikon im Lauf der Zeit veränderte. Erst als das Wasser in der Pore zu einem langen Eiskristall gefroren war, begann die Silikonschicht sich allmählich zu verformen. Dieser Prozess setzte sich auch danach weiter fort. Der Eiskristall wurde immer breiter und drückte zunehmend stärker auf das Silikon. Zwischen diesem und dem Eis hatte sich ein Spalt mit einer sehr dünnen Wasserschicht gebildet, die für eine fortwährende Benetzung des Kristalls sorgte und dessen weiteres Wachstum ermöglichte.
Allerdings geschah das viel langsamer als etwa bei Erde und Asphalt. Der Spalt war viel zu eng und lieferte nicht genügend Wasser nach. Erst mit polykristallinem Eis, so wie es vorwiegend in der Natur vorkommt, gelang es den Forschern, das Eis merklich schneller wachsen zu lassen. Denn dieses Eis verfügt über viele Kanäle, durch die das Wasser heranströmen kann. Es gibt also einen entscheidenden Zusammenhang zwischen dem aus dem Alltag bekannten Ausdehnungsverhalten mit seinen oft drastischen Wirkungen und dem polykristallinen Aufbau des Eises.
»Wenn Wasser zu Eis wird, erinnert es sich dann daran, dass es einmal Wasser war?«Carl Sandburg, US-Dichter
Diese Ergebnisse dürften das Verständnis vieler Verwitterungsprozesse verbessern, von Spannungen in natürlichen Gesteinsformationen bis zum Straßenbau. Bei diesem drängen sich weitere Fragen auf, die sich mit solchen Versuchsaufbauten genauer unter die Lupe nehmen lassen. Etwa, welche Materialien den Effekt möglichst gut hemmen oder wie die Vorgänge von gelösten Stoffen im Wasser abhängen.
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