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Leseprobe »Mach dich frei!« : Tempo Tempo!

Wir alle agieren nach bestimmten mentalen Modellen. Das heißt, wir machen uns jederzeit Bilder von der Wirklichkeit, die wiederum die Basis für unsere Handlungen sind – meist ganz unbewusst. Allerdings hat die Realität unsere Art zu denken schon längst überholt: Wir handeln nach veralteten Vorstellungen und wenden veraltete Lösungen an.Svenja Hofert versammelt in ihrem Buch 100 mentale Modelle, die uns helfen, die heutige Komplexität zu meistern. Diese umfassen unter anderen Themengebiete wie Erfolg und Führung, Job und Karriere, Lernen und Entwicklung oder Gruppen und Zusammenarbeit. Sie gibt ganz praktische Anregungen, unser Denken – auch spielerisch – zu erweitern und zeitgemäße Lösungen für wichtige Fragen unserer Zeit zu finden. Sei es im Beruf, privat, gesellschaftlich oder für Unternehmen.
Kunst oder Realität? Schaufensterpuppe schaut aus dem Fenster
Tempo, Tempo!

Wie schnell das plötzlich geht! Was war das noch ruhig in den 2000ern. Dabei sind sie – zumindest aus meiner Sicht – noch nicht lange her.

Wahrscheinlich merkt ihr, dass »Früher war alles anders« nun wirklich gilt. Ihr spürt Chaoswachstum und Komplexitätsexplosion. Manchmal wisst ihr einfach nicht mehr weiter – und immer mehr Dinge versteht ihr nicht mehr. Mir geht es genauso. Wir dürfen das ruhig zugeben.

Ihr merkt, dass die Menschen in ihren alten Denkweisen verharren und an ungesunden Überzeugungen kleben. Vielleicht habt ihr beruflich mit Veränderung zu tun – als Lehrer, Beraterin, Coach, Führungskraft, Unternehmerin. Vielleicht interessiert euch einfach, wohin die Reise gehen soll. Ihr seht, wie vermeintliche Lösungen neue Probleme verursachen. Ihr erkennt, dass die bisherigen Systeme nicht mehr passen. Ihr bemerkt den Stress, unter den alle Systeme geraten. Die Folge sind extremere Reaktionen und Veränderungsresistenz. Und wenn ihr von »Mehrfachkrisen« lest, wisst ihr gleich, was gemeint ist.

Die Einschläge kommen näher. Wenn ich in meinen Vorträgen die »Pace of Change«-Kurve des Futuristen Ray Kurzweil zeige, steht dort ein Datum: 2014. Die Rückfragen zielen dann oft darauf: »Echt? Damals hat das schon jemand gesehen?«

Es gibt viele, die das, was wir gerade erleben, schon lange haben kommen sehen. Aber das zu wissen, hilft jetzt gerade nicht. Wer beschäftigt sich schon mit Dingen, die noch weit weg scheinen? Wir wachen erst auf, wenn wir direkt betroffen sind. Was uns helfen kann, in dieser Welt klarzukommen, sind neue Denkmuster. Solche mentalen Modelle bilden die Wirklichkeit nach, wie sie sich gerade zeigt. Möglichst genau – das ist der Sinn und Zweck eines mentalen Modells. Es liefert uns die Grammatik für den Umgang mit einer veränderten Wirklichkeit.

Mentale Modelle sind deduktive Schlussfolgerungen. Sie entlasten uns also von aufwändiger Einzelanalyse, indem sie Beobachtungen aus der Praxis und/oder der Wissenschaft in ein Denkmodell bringen. Sie liefern damit auch einen Rahmen für Problemlösungen, ohne diese direkt zu liefern.

Dieses Buch ist zugleich ein Coachingbuch. Es gibt euch Anregungen, mit diesen mentalen Modellen praktisch zu arbeiten. Letztendlich füttert es, so hoffe ich jedenfalls, die kollektive Weisheit. Denn ich bewerte, ordne, katalogisiere und bebildere das, was sich in dieser Zeit von Chaoswachstum und Komplexitätsexplosion zeigt. Mir wird von vielen, die meine Bücher und Arbeiten kennen, ein weiter, vorausschauender Blick und Pragmatik attestiert. In der Tradition dieser Stärken möchte ich mit diesem Buch ein Werk schaffen, das komplexe Zusammenhänge für alle transparent macht – und darüber einen Zugang zu klarerem Denken und besseren Entscheidungen bietet. Wie ihr euch denken könnt, ist so ein Buch ganz schön viel Arbeit, auch wenn ich darin schon Jahrzehnte Übung habe.

Dabei haben mich mein Mann Christoph mit seiner Fähigkeit, die Logik und Konsistenz zu prüfen, und meine Grafikerin Amelie mit ihrem Visualisierungstalent sehr unterstützt. Der Journalistin Anne Otto verdanke ich ihrem Tipp »schreib 10  Prozent einfacher und es wird gut« ein pragmatisches Feedback zum ersten Entwurf meiner Texte. Ich danke euch allen! Ich danke auch allen, die mich mit ihren Gedanken inspiriert haben. Und die mir geholfen haben, meine eigenen mentalen Modelle anzupassen. Wer die Themen in diesem Buch vertiefen möchte, dem empfehle ich meinen Newsletter bei Substack (http://svenjahofert.Substack.com) sowie meinen YouTube-Kanal Svenja Hofert Mindshift.

Ich spreche euch direkt als Menschen an. Die männliche und weibliche Form nutze ich im Wechsel.

Wenn Denkmuster am Stock gehen

Dies ist das erste Buch, das ich schreibe, in dem ich die Du-Form wähle. Damit hat sich ein individuelles Denkmuster von mir gelöst. Wer mich persönlich kennen lernt, erlebt mich meist locker und nahbar. In der passenden Atmosphäre bin ich schnell per Du. Dennoch fand ich es bisher unhöflich, andere ungefragt zu duzen. Es gab eine Zeit, da war ich der Meinung, dass »Dus« ein Fake sind. Ich glaubte, dass keiner erwartete, dass jemand auf eine Du-Stellenanzeige auch mit »Du« antwortete. Oder eine Rechnung per Du schriebe. Mittlerweile denke ich, dass dies so lange so sein wird, wie ich das glaube. Es sind nicht nur die vielen Hashtags mit #gerneperdu unter der Firmenadresse. Ich spüre auch, dass die Kultur sich verändert hat. Gleichwohl habe ich inzwischen auch eine Toleranz entwickelt für den stetigen Wechsel zwischen Sie und Du. Es braucht nicht das eine oder das andere, alles ist erlaubt.

Habt ihr es gemerkt? Gerade beschreibe ich mein individuelles Denkmuster. Individuelle Denkmuster bilden Schnittmengen mit kollektiven Denkmustern: Wir greifen uns etwas aus der Welt heraus, das wir denken wollen und können. Aber jeder hat da so seine eigene Auswahl.

Das individuellste Denkmuster, das mir einfällt, stammt von Pippi Langstrumpf: »Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt.« Und bei Pippi sehen wir auch gleich, dass sich Denkmuster transformieren: Denn was einst völlig absurd und revolutionär klang, ist heute Gemeingut. Wir können nur unsere Sicht auf die Welt beeinflussen. Astrid Lindgren hatte Recht, indem sie das ihrer Hauptfigur eingab – obwohl es zu ihrer Zeit niemand glaubte.

Jedes Wissen hat eben seine Zeit. Nur manchmal ist diese einfach abgelaufen. Der Gedanke hat mir geholfen, zu einer eigenen Antwort in der Frage »Du oder Sie?« zu kommen. Mein heutiges Denkmuster ist geprägt durch Erfahrungen mit den Veränderungen, die ich in Unternehmen erlebe. Ich kann aus diesem erneuerten Denkmuster für mich Handlungen ableiten: Ich sag’ dann mal Du.

Manche Denkmuster kommen als weise Sprüche, andere küchenpsychologisch, wieder andere wissenschaftlich daher. Sie legen Sichtweisen nahe, geben uns Ratschläge oder beinhalten kleine hirngerechte Anleitungen. Denkmuster helfen uns, mit unserer begrenzten Gehirnkapazität fruchtbar zurechtzukommen. Viele Denkmuster, vor allem die alten, sind tief in uns einprogrammiert. So tief, dass wir uns selbiger oft nicht einmal mehr bewusst sind. Solch alten Denkmuster sind wie Erinnerungsstücke im Keller, die aus dem aktiven Gedächtnis verschwunden sind. Sie sind aber trotzdem da. Und so beanspruchen sie viel Denkkapazität und blockieren dabei vielleicht sogar den Neuanfang. Vor allem aber passen viele nicht mehr in die komplexe und unlogische Welt, in die wir längst eingetreten sind, was wir aber jetzt erst spüren.

Drei prominente Beispiele für alte Denkmuster:

  • »Schuster, bleib bei deinen Leisten.«
  • »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.«
  • »Es ist noch immer gut gegangen.« (auf Kölsch: »Ett hätt noch ever jot jejange.«)
  • Klingen solche Sätze noch in deinen Ohren? Daneben gibt es viele weitere, die weniger klangvoll sind, aber ebenso festsitzen:

  • »Ein BWL-Studium ist eine sichere Bank.«
  • »Lerne erst mal etwas Sinnvolles.«
  • »Hauptsache effizient.«
  • »Das Problem muss aus der Welt.«
  • Alle diese Denkmuster lassen sich heute widerlegen. BWL ist keine sichere Bank. Etwas, das früher sinnvoll war, ist es heute nicht mehr. Effizienz allein greift viel zu kurz. Und: Manche Probleme sind besser als ihre Lösungen.

    Solche Denkmuster gehen für mich an Krücken. Sie laufen nicht mehr – ja, sie sind nicht nur lahm, sie verhindern sogar jegliche Bewegung. »Schuster, bleib bei deinen Leisten« bedeutet, dass man besser bei seinem Fach bleiben möge. Indes: In unserer Zeit hat niemand mehr eine Ahnung, was die Zukunft genau bringen wird – ja, viele Themen sind so komplex, dass Experten oft auch nicht weiterwissen. Diese neue Welt ist ein gewaltiges Experiment – und wie wir die Herausforderungen lösen, steht teils noch in den Sternen. Klar ist nur: Veraltete Denkmuster hindern uns, neue Wege zu gehen und Lösungen zu finden, im Großen wie im Kleinen.

    Wenn der Schuster wirklich bei seinen Leisten bliebe, hätte er die Zeichen der Zeit verschlafen. Ein sinnvolleres Muster müsste heißen: »Schuster, erfinde dich neu.« Vielleicht lohnt es sich, dem Recycling- oder Öko-Trend zu folgen, vielleicht den Schuh ganz neu zu erfinden. Schuhmacher-Aspiranten würde ich ein Out-of-the-Box-Denken ans Herz legen – oder gleich eine andere Ausbildung.

    Hans dagegen möchte ich raten, jetzt endlich mal mit dem Lernen zu beginnen. Denn Lernen ist nicht an ein Alter gebunden. Lernen fällt denjenigen leichter, die die Hänschen-Denkkrücke schon frühzeitig entsorgt haben. Das Gehirn braucht Training – so wie auch der Körper. Mein Vorschlag für ein alternatives Denkmodell heißt: »Lerne zu lernen.« Bliebe noch dieser Spruch aus meiner Kölner Heimat »Es ist noch immer gut gegangen«: Nein, es geht eben nicht immer gut. Wenn wir versäumen, die Weichen für unser Denken neu zu stellen, marschieren wir weiter auf unser eigenes Aussterben zu. Ja, das klingt dramatisch – und das ist es auch. Wir denken immer, es seien Klimakrise oder Kriege, die uns das gleiche Schicksal wie den Dinosauriern bescheren könnten – ich meine: Es sind wir selbst! Getragen von Denkkrücken, die so tief in unserem Fühlen verankert sind, dass wir das Krückenhafte nicht einmal merken.

    Leider sind Denkkrücken unglaublich widerstandsfähig. Zum einen liegt dies daran, dass sie schon früh in unser Fühlen Einzug gehalten haben. Sie klingen deshalb nicht nur richtig, sie fühlen sich auch richtig an. Somit sind einige von ihnen Teil unserer selbst geworden. Zum anderen rührt ihre Hartnäckigkeit aus unserem fehlenden Bewusstsein: Was wir denken, »ist« nicht, sondern wird erst durch seine ständige Wiederholung geschaffen und verfestigt. So ist aus einem Abziehbild der Wirklichkeit die Wirklichkeit selbst geworden – und wir bemerken dies nicht, weil wir am Abziehbild kleben anstatt an der Wirklichkeit.

    Nicht wenige solcher Denkkrücken wurden über die Generationen weitergereicht. So soll der gern bemühte Schuster von dem griechischen Maler Apelles stammen, der rund 300 Jahre vor Christus lebte. Er hatte ein Bild zur öffentlichen Begutachtung nach draußen gestellt. Ein Schuster kam vorbei und bemängelte, dass ein Schuh falsch gezeichnet sei. Danach machte er sich noch über andere Details des Bildes her, woraufhin sich Appelles entrüstete, er habe davon keine Ahnung und solle still sein.

    Denkkrücken haben ihre Karriere oft als Denkhilfen begonnen, die in ihre jeweilige Zeit passten. So war es noch vor 20, 30 Jahren angebracht, die eigene Karriere derart zu gestalten, dass man möglichst viel Expertise zu einem einzigen Thema aufbaute – also wirklich bei den eigenen Leisten blieb. Da studierte man dann Personalwirtschaft und Personalwesen und blieb auch ewig im gleichen Feld. Heute hat man es mit einer solchen Einseitigkeit immer schwerer. Denn heute stehen wir vor Herausforderungen, die Flexibilität fordern. Viele Herausforderungen sind so neu, dass niemand die Lösungen kennt. Das Personalwesen in der bisherigen Form etwa hat keine Zukunft, weil wir immer dezentraler und teamorientierter arbeiten. Hinzu kommt die Künstliche Intelligenz (KI), die alles auf den Kopf stellen wird, auch wenn das derzeit noch viele leugnen. Neues braucht die Irritation, die Provokation, die Erschütterung bisheriger Überzeugungen.

    All das bringt Herausforderungen, die im Zusammenhang mit der Frage stehen, wer und wie wir als Menschen in Zukunft sein werden: Was wird Arbeit für uns bedeuten? Wie werden wir uns zu anderen Lebewesen positionieren – und wie zur KI? Manche unserer heutigen Denkkrücken starteten ihre Kopfkarriere als von oben verordnete Denkgebote: Dass die Erde als eine Scheibe galt, war in Galileos Zeiten schlicht die kirchliche Wahrheit. Jede andere Wahrheit widersprach der Bibel. Die Logik lautete also: »Was in der Bibel steht, ist immer wahr. Die Kugel ist in der Bibel nicht erwähnt. Also ist die Behauptung unwahr.« Bis heute gibt es Anhänger dieser Scheiben-Theorie. Was zeigt, dass Denkkrücken auch eine psychologische Funktion haben: Sie reduzieren Komplexität und geben Sicherheit. Wir können uns daran festhalten – und den Glauben daran verordnen wir uns einfach selbst.

    Unser Gehirn ist auch gar nicht gemacht für ein ständiges Hochleistungsdenken. Insofern werden Denkkrücken dann zu Denkhilfen: Sie erleichtern das Leben, denn ein ständiges Nachdenken würde uns hoffnungslos überfordern. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann ist mit seinem Buch Schnelles Denken, langsames Denken weltweit bekannt geworden. Er unterscheidet System 1 und System 2: System 2 brauchen wir zum Lösen komplexer Probleme – wenn wir es nutzen, strengen wir uns an, und das Gehirn kommt mächtig in Fahrt. System 1 indes beinhaltet Faustregeln, die es uns leichtmachen, Lösungen zu finden und zu handeln. Mentale Modelle, die verinnerlicht sind, sitzen in System 1.

    System 1 kann deshalb auch jede Menge Denkkrücken speichern. Diese gibt es überall: in der Gesellschaft, der Politik, der Arbeit und der Familie, ja sogar in der Partnerschaft. Manchmal waren solche Krücken schon immer Krücken – wie die Theorie der flachen Erde. Bisweilen wurde allerdings aus der ehemals hilfreichen Orientierungshilfe erst sukzessive eine Krücke.

    Inzwischen sind wir auf dem Weg in ein neues Zeitalter. Chaoswachstum und Komplexitätsexplosionen erzeugen Mehrdeutigkeit und Unverständlichkeit – und so bewegen wir uns mittlerweile oft im Nebel, in zunehmender Unklarheit. Um diesen Übergang zu meistern, sollten wir hinderliche Krücken fortwerfen – einfach um wieder entspannter laufen zu können.  

    Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Mach dich frei« bietet den Rest des Kapitels und mehr.

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